Bundesfinanzhof
Az: VI R 62/08
Urteil vom 21.04.2010
Gründe
I.
Streitig ist, ob Mietzahlungen für eine ersatzweise angemietete Wohnung als außergewöhnliche Belastungen i.S. von § 33 des Einkommensteuergesetzes (EStG) zu berücksichtigen sind, wenn eine Nutzung der bisherigen eigenen Wohnung wegen Einsturzgefahr amtlich untersagt ist.
Die Ehefrau des Klägers und Revisionsbeklagten (Kläger) hat mit notariellem Vertrag vom 23. Oktober 1998 eine gebrauchte Eigentumswohnung in einem Gebäude in M erworben. Laut Kaufvertrag wurde der Grundbesitz ohne Gewähr und ohne Haftung für sichtbare oder unsichtbare Sachmängel verkauft. Die Verkäuferin hatte zudem versichert, dass ihr verborgene, wesentliche Mängel, insbesondere Altlasten, nicht bekannt sind. Die offizielle Wohnungsübergabe erfolgte am 25. August 1999. In einem Übergabeprotokoll wurde vermerkt, dass sich die Wohnung in vertragsgemäßem Zustand befindet. Zur Finanzierung der Eigentumswohnung wurde ein Hypothekendarlehen aufgenommen, welches mit monatlich 1.063 DM (543,50 EUR) bis einschließlich Dezember 2003 bedient wurde.
Mit Ordnungsverfügung vom 28. Februar 2000 stellte das Bauordnungsamt der Stadt M eine erhebliche Einsturzgefahr für das Gebäude fest und untersagte den Eheleuten das Betreten des Gebäudes. Eine zivilrechtliche Klage der Ehefrau gegen die Verkäuferin auf Rückzahlung des Kaufpreises nebst Zinsen Zug um Zug gegen Rückgabe der Wohnung war über drei Gerichtsinstanzen hinweg nicht erfolgreich.
Der Kläger wird zusammen mit seiner Ehefrau zur Einkommensteuer veranlagt. Die Eheleute beantragten die monatliche Miete in Höhe von 1.000 DM (511,29 EUR) für die von ihnen ersatzweise zu eigenen Wohnzwecken angemietete Vier-Zimmer-Wohnung als außergewöhnliche Belastung bei der Einkommensteuerfestsetzung für die Streitjahre (2001, 2002) zu berücksichtigen. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt –FA–) folgte dem nicht. Der Kläger wandte sich dagegen nach erfolglosem Einspruchsverfahren mit der Klage.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte 2009, 342 veröffentlichten Gründen statt.
Mit der Revision rügt das FA die unzutreffende Anwendung von § 33 EStG.
Das FA beantragt, das Urteil des FG Düsseldorf vom 13. Dezember 2007 14 K 6385/04 E aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger hat keinen Antrag gestellt.
II.
Die Revision des FA ist begründet. Das angefochtene Urteil wird aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverwiesen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung –FGO–). Aufwendungen, die anfallen, weil zwangsläufig ein zusätzlicher Wohnbedarf entstanden ist, können im Grundsatz als außergewöhnliche Belastungen i.S. von § 33 EStG zu berücksichtigen sein. Die tatsächlichen Feststellungen des FG ermöglichen allerdings noch keine abschließende Beurteilung, ob die Mietzahlungen in Höhe von 12.000 DM und 6.134,48 EUR in den beiden Streitjahren nach § 33 EStG zu berücksichtigen sind.
1.
Erwachsen einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommens-, gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstands (außergewöhnliche Belastung), so wird auf Antrag die Einkommensteuer dadurch ermäßigt, dass der Teil der Aufwendungen, der die dem Steuerpflichtigen zumutbare Belastung übersteigt, vom Gesamtbetrag der Einkünfte abgezogen wird (§ 33 Abs. 1 EStG). Aufwendungen sind in diesem Sinne zwangsläufig, wenn der Steuerpflichtige sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann und soweit sie den Umständen nach notwendig sind und einen angemessenen Betrag nicht übersteigen (§ 33 Abs. 2 Satz 1 EStG).
Ziel des § 33 EStG ist es, zwangsläufige Mehraufwendungen für den existenznotwendigen Grundbedarf zu berücksichtigen, die sich wegen ihrer Außergewöhnlichkeit einer pauschalen Erfassung in allgemeinen Entlastungsbeträgen entziehen. Aus dem Anwendungsbereich der außergewöhnlichen Belastungen ausgeschlossen sind daher die üblichen Aufwendungen der Lebensführung, die in Höhe des Existenzminimums durch den Grundfreibetrag abgegolten sind (vgl. z.B. Urteile des Bundesfinanzhofs –BFH– vom 19. Mai 1995 III R 12/92, BFHE 178, 207, BStBl II 1995, 774; vom 23. Mai 2002 III R 24/01, BFHE 199, 296, BStBl II 2002, 567, und vom 3. März 2005 III R 12/04, BFH/NV 2005, 1287). Hierunter fallen auch Aufwendungen, die geleistet werden, um den existentiellen Wohnbedarf zu befriedigen (BFH-Urteil in BFHE 178, 207, BStBl II 1995, 774).
2.
Im Streitfall stellen die zwangsläufig entstandenen Mietaufwendungen dem Grunde nach eine außergewöhnliche Belastung i.S. des § 33 EStG dar.
a)
Aufwendungen, die geleistet werden, um den existentiellen Wohnbedarf zu befriedigen, sind grundsätzlich als Kosten anzusehen, die der normalen Lebensgestaltung und Lebensführung zuzuordnen sind; sie sind daher nicht außergewöhnlich. So hat der BFH vergebliche Zahlungen im Zusammenhang mit dem Erwerb eines Grundstücks und der Erstellung eines Einfamilienhauses für eigene Wohnzwecke bereits in seinem Urteil in BFHE 178, 207, BStBl II 1995, 774 nicht als außergewöhnliche Belastung anerkannt, weil der Erwerb eines Einfamilienhauses typischerweise das Existenzminimum nicht berühre und deshalb steuerlich als Vorgang der normalen Lebensführung zu behandeln sei. Nicht anders verhält es sich mit Mietaufwendungen, die geleistet werden, um den existentiellen Wohnbedarf zu befriedigen.
b)
Diese Grundsätze gelten allerdings nicht, wenn Aufwendungen für einen zweiten Wohnbedarf entstanden sind, weil die den ersten, existentiellen Wohnbedarf abdeckende Wohnung unbewohnbar geworden ist. Solche Ausgaben sind außergewöhnlich und daher als Aufwendungen i.S. von § 33 EStG anzusehen; die entstandenen Aufwendungen sind nicht mehr der normalen Lebensgestaltung und Lebensführung zuzuordnen. Davon ist im Streitfall auszugehen. Die Mietzahlungen dienten dazu, einen zusätzlichen, zweiten Wohnbedarf abzudecken. Dieser zusätzliche Wohnbedarf ist entstanden, weil die Eigentumswohnung der Ehefrau des Klägers, die den existentiellen, ersten Wohnbedarf abdecken sollte, nicht mehr bewohnbar war und damit ihren eigentlichen Zweck nicht mehr erfüllen konnte. Entgegen den Ausführungen des FG kommt es nicht darauf an, ob die Mietzahlungen letztlich der Schadensbeseitigung dienen und deshalb unter diesem Gesichtspunkt als außergewöhnliche Belastungen angesehen werden können. Eines Rückgriffs auf die im Schrifttum stark kritisierte Gegenwertlehre (vgl. Kanzler in Herrmann/ Heuer/Raupach, § 33 EStG Rz 37, m.w.N.; s. auch Arndt, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 33 Rz B 34 ff.) –wie sie noch vom FG für notwendig erachtet wurde– bedarf es insoweit nicht.
c)
Die Mietzahlungen sind dem Kläger im Streitfall auch zwangsläufig entstanden. Denn aufgrund der Ordnungsverfügung vom 28. Februar 2000 durch das Bauordnungsamt der Stadt M stand im Streitfall fest, dass die Eigentumswohnung nicht mehr bewohnbar war. Wegen der erheblichen Einsturzgefahr für das Gebäude war eine Nutzung der Eigentumswohnung zu Wohnzwecken nicht mehr möglich. Der Kläger konnte sich angesichts der Ordnungsverfügung aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen den Aufwendungen nicht mehr entziehen. Auch die weiteren Voraussetzungen für eine Anerkennung eines zweiten Wohnbedarfs als zwangsläufig sind nach den bisherigen Feststellungen des FG als erfüllt anzusehen. So hat das FG keine Anhaltspunkte für ein eigenes (ursächliches) Verschulden des Steuerpflichtigen gesehen, realisierbare Ersatzansprüche gegen Dritte waren nicht ersichtlich, der zweite Wohnbedarf ist als angemessen beurteilt worden und eine allgemein zugängliche und übliche Versicherungsmöglichkeit hat nicht bestanden.
3.
Mangels Spruchreife geht die Sache an das FG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurück.
a)
Nach den genannten Grundsätzen hat das FG zu prüfen, ob in den Streitjahren überhaupt ein zusätzlicher zweiter Wohnbedarf abzudecken war. Dabei wird es zunächst festzustellen haben, ob im Streitfall die Eigentumswohnung der Ehefrau des Klägers bereits tatsächlich bewohnt wurde und damit dem ersten existentiellen Wohnbedarf gewidmet war. Hat die Eigentumswohnung tatsächlich nie dazu gedient, den ersten Wohnbedarf abzudecken, wäre davon auszugehen, dass die streitgegenständlichen Mietzahlungen für den ersten Wohnbedarf angefallen sind. Die Aufwendungen wären dann der normalen Lebensführung zuzuordnen.
b)
Weiter hat das FG angesichts des Umstands, dass die Ordnungsverfügung auf den 28. Februar 2000 datiert, aber Mietaufwendungen für die Streitjahre (2001 und 2002) geltend gemacht werden, weiter zu prüfen, in welchem Zeitraum in den Streitjahren ein zusätzlicher zweiter Wohnbedarf abzudecken war. Hierbei wird ein zweiter, zusätzlicher Wohnbedarf nur für den Zeitraum anzuerkennen sein, der erforderlich ist, um die dem ersten Wohnbedarf gewidmete Eigentumswohnung wieder in einen bewohnbaren Zustand zu versetzen. Ist eine Wiederherstellung der Bewohnbarkeit nicht möglich, sind die Aufwendungen für den zweiten Wohnbedarf nur bis zu dem Zeitpunkt anzuerkennen, in dem dem Steuerpflichtigen dies bewusst wird. Dabei wird dem Steuerpflichtigen eine gewisse Frist zur Umorientierung bei der Gestaltung seiner Wohnverhältnisse zu gewähren sein.