Oberlandesgericht Celle
Az: 311 SsRs 114/11
Beschluss vom 25.07.2011
In der Bußgeldsache wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit hat der 1. Senat für Bußgeldsachen des Oberlandesgerichts Celle auf die mit einem Zulassungsantrag verbundene Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Hannover vom 18. April 2011 am 25. Juli 2011 beschlossen:
1. Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.
2. Die Sache wird auf den Senat übertragen.
3. Die Rechtsbeschwerde wird als unbegründet verworfen.
4. Der Betroffene hat die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens zu tragen.
G r ü n d e :
I.
Das Amtsgericht Hannover setzte gegen den Betroffenen wegen fahrlässigen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 27 km/h eine Geldbuße von 120 € fest.
Nach den getroffenen Feststellungen befuhr der Betroffene am 14. August 2010 um 16:08 Uhr mit einem Pkw den Messeschnellweg (B 3) in Fahrtrichtung P. auf der linken Spur und überschritt in Höhe der Auffahrt W. die dort zulässige Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h aus Unachtsamkeit – nach Toleranzabzug von 4 km/h – um 27 km/h. Die fest installierte Geschwindigkeitsmessanlage TraffiStar S 333 befand sich ca. 80 m hinter der erstmaligen Begrenzung der bis dahin auf 100 km/h beschränkten – Höchstgeschwindigkeit auf 80 km/h durch eine elektronische Verkehrsbeeinflussungsanlage (Zeichen 274) und ca. 20 m vor der Einmündung des Zubringers vom W., bei welcher es sich um eine Unfallhäufungsstelle handelt. Am 17. August 2010 wurden in einer Entfernung von ca. 280 m vor der Geschwindigkeitsmessanlage zwei Verkehrsschilder (Zeichen 274) aufgestellt, die die Höchstgeschwindigkeit auf 80 km/h begrenzen.
Gegen dieses Urteil richtet sich die mit dem Antrag auf Zulassung verbundene Rechtsbeschwerde des Betroffenen. Er rügt, dass die Messung gegen die Richtlinien für die Verkehrsüberwachung verstoßen habe, weil die Messstelle lediglich 80 m hinter dem ersten geschwindigkeitsbegrenzenden Verkehrszeichen eingerichtet worden sei. Die nachfolgende Gefahrenstelle begründe hier keine zulässige Ausnahme von der Regel, weil eine Unterschreitung des Mindestabstands durch das Aufstellen weiterer Verkehrszeichen an einer vorgezogenen Position wie am 17. August 2010 auch erfolgt – hätte vermieden werden können.
I.
Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.
1. Die Rechtsbeschwerde ist allerdings gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 1 OWiG zur Fortbildung des Rechts zuzulassen. Die Frage, ob eine Unterschreitung des nach den Richtlinien für die Verkehrsüberwachung vorgeschriebenen Mindestabstands zwischen Kontrollstelle und geschwindigkeitsbegrenzendem Verkehrszeichen trotz einer Gefahrenstelle einen Ausnahmefall begründet, wenn die Unterschreitung durch das Aufstellen weiterer Verkehrszeichen an einer vorgezogenen Position hätte vermieden werden können, wurde bislang – soweit ersichtlich – obergerichtlich nicht entschieden.
2. Aus den vorgenannten Gründen ist die Sache gemäß § 80 a Abs. 3 OWiG vom Einzelrichter auf den Senat übertragen worden.
3. Die Rechtsbeschwerde ist indes unbegründet.
Der Schuldspruch lässt keine Rechtsfehler erkennen. Das Amtsgericht ist zutreffend zu der Feststellung gelangt, dass der Betroffene die zulässige Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften von 80 km/h um 27 km/h überschritten hat. Dies zieht auch der Betroffene nicht in Zweifel. Soweit er meint, er hätte freigesprochen werden müssen, weil die Messung entgegen den Richtlinien für die Verkehrsüberwachung in einem Abstand von nur 80 m hinter dem geschwindigkeitsbegrenzenden Verkehrszeichen erfolgt sei, kann ihm nicht gefolgt werden.
a) Ein Kraftfahrer hat seine Geschwindigkeit grundsätzlich so einzurichten, dass er bereits beim Passieren eines die Geschwindigkeit regelnden Verkehrszeichens die vorgeschriebene Geschwindigkeit einhalten kann (vgl. OLG Frankfurt NStZ-RR 2001, 120; hiesiger 2. Bußgeldsenat, Beschluss vom 30.08.2002 – 222 Ss 137/02 (Owi)). Allerdings trägt die Rechtsprechung möglichen Unwägbarkeiten bei der Einfahrt in eine Zone mit veränderter Geschwindigkeitsregelung bei der Frage des Ausmaßes des Verschuldens grundsätzlich Rechnung, indem sie dem Kraftfahrer zubilligt, dass er mit gewissen Abständen zwischen geschwindigkeitsregelndem Verkehrszeichen und Messstrecke rechnen kann (vgl. Senatsbeschluss vom 26. Juni 2007 – 311 Ss 49/07 (Owi); ebenso hiesiger 2. Bußgeldsenat aaO; Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 41. Aufl., StVO § 3 Rn. 45; jew. m.w.N.). Dies hat sich in den in Niedersachsen geltenden Richtlinien für die Überwachung des fließenden Verkehrs durch die Straßenverkehrsbehörden (gem. RdErl. d. MI u. d. MW vom 25. November 1994, Nds. MBl. 1994, 1555; zul. geänd. d. VV vom 27. Oktober 2010, Nds. MBl. 2010, 1016) niedergeschlagen. In Nr. 4 der Anlage „Einsatz von Geschwindigkeitsmessgeräten“ der Richtlinie heißt es:
„Kontrollen sollen nicht kurz vor oder hinter geschwindigkeitsregelnden Verkehrszeichen durchgeführt werden. Der Abstand bis zur Messstelle soll mindestens 150 m betragen. Er kann in begründeten Fällen unterschritten werden (z. B. Gefahrenstellen, Gefahrzeichen, Geschwindigkeitstrichter).“
Da diese Richtlinie als reine Verwaltungsvorschrift grundsätzlich keine Außenwirkung entfaltet, unterliegen Messergebnisse, die unter Verstoß gegen die Richtlinie, ansonsten aber korrekt gewonnen worden sind, keinem Verwertungsverbot (vgl. Senat aaO; hiesiger 2. Bußgeldsenat aaO; BayObLGSt 1995, 148; NStZ-RR 2002, 345; OLG Oldenburg NZV 1996, 375; OLG Köln VRS 96, 62; OLG Dresden DAR 2010, 29; OLG Stuttgart DAR 2011, 220). Allerdings dürfen die Verkehrsteilnehmer erwarten, dass sich die Verwaltungsbehörde über Richtlinien zur Handhabung des Verwaltungsermessens, die eine gleichmäßige Behandlung sicherstellen sollen, im Einzelfall nicht ohne sachliche Gründe hinwegsetzt. Insoweit können sich solche Richtlinien über Art. 3 GG für den Bürger rechtsbildend auswirken, so dass im Einzelfall der Schuldgehalt einer Tat geringer erscheint und deshalb von einem Regelfahrverbot abzusehen oder – bei weniger gravierenden Verstößen oder geringer Schuld – sogar eine Einstellung des Verfahrens nach § 47 OWiG geboten ist (vgl. vorstehende Nachweise).
b) Die Voraussetzungen für eine solche Ausnahme liegen hier aber nicht vor, weil die Messung den Richtlinien entsprochen hat. Das Amtsgericht hat zu Recht erkannt, dass nach Nr. 4 Satz 3 der Anlage zur Richtlinie hier eine Unterschreitung des Regelabstands wegen der unmittelbar hinter der Messanlage liegenden Gefahrstelle zulässig war. Bei der Ausübung des Ermessens, welche Gründe ein Abweichen von der Regel rechtfertigen, ist den Straßenverkehrsbehörden ein weiter Spielraum einzuräumen. Ist, wie hier, eine Gefahrenstelle vorhanden, so obliegt es weiter grundsätzlich der Verkehrsbehörde, anhand der Gegebenheiten vor Ort zu entscheiden, wo die Messstelle eingerichtet wird; diese Entscheidung ist von den Gerichten hinzunehmen, soweit nicht ausnahmsweise die Grenze zur Willkür überschritten wird (vgl. OLG Oldenburg NZV 1996, 375).
Anhaltspunkte für eine willkürliche Auswahl der Messtrecke sind im vorliegenden Fall nach den für den Senat bindenden Feststellungen des angefochtenen Urteils nicht zu erkennen. Sie werden auch nicht etwa durch den Einwand des Betroffenen begründet, dass eine Unterschreitung des Mindestabstands durch das Aufstellen weiterer Verkehrszeichen an einer vorgezogenen Position, wie sie am 17. August 2010 dann auch erfolgt ist, hätte vermieden werden können. Bestandteil der Richtlinie, auf deren Einhaltung der Betroffene nach Art. 3 GG Anspruch hat, ist eben auch die Ausnahmeregelung in Nr. 4 Satz 3 der Anlage; die Richtlinie enthält hingegen an keiner Stelle eine Einschränkung dahingehend, dass die Ausnahme nicht gelte, wenn ein Verkehrszeichen auch in größerer Entfernung von einer Gefahrstelle hätte aufgestellt werden können, was im übrigen sehr oft der Fall sein dürfte. Eine nicht existierende Regelung kann indes keinen Anspruch auf Gleichbehandlung begründen.
c) Das Amtsgericht war auch nicht aus sonstigen Rechtsgründen gehalten, hier den Standort des Verkehrszeichens einer näheren Überprüfung zu unterziehen oder schuldmindernd zu würdigen.
Ein Verkehrszeichen ist ein Verwaltungsakt in der Form einer Allgemeinverfügung im Sinne des § 35 Satz 2 VwVfG (BVerwGE 27, 181; 59, 221); es wird gemäß § 43 VwVfG gegenüber demjenigen, für den es bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, in dem Zeitpunkt wirksam, in dem es ihm bekannt gegeben wird. Die Bekanntgabe erfolgt nach den bundesrechtlichen Vorschriften der Straßenverkehrs-Ordnung durch Aufstellen des Verkehrsschildes (vgl. insbesondere § 39 Abs. 1 und § 45 Abs. 4 StVO). Sind Verkehrszeichen so aufgestellt oder angebracht, dass sie ein durchschnittlicher Kraftfahrer bei Einhaltung der nach § 1 StVO erforderlichen Sorgfalt schon mit einem raschen und beiläufigen Blick erfassen kann (BGH NJW 1970, 1126), äußern sie ihre Rechtswirkung gegenüber jedem von der Regelung betroffenen Verkehrsteilnehmer, gleichgültig, ob er das Verkehrszeichen tatsächlich wahrnimmt oder nicht (BVerwGE 102, 316). Das gilt unabhängig davon, ob die Bekanntgabe in Form starrer Verkehrszeichen erfolgt oder – wie hier – mithilfe einer Anzeige über eine Streckenbeeinflussungsanlage (BVerwG VRS 120, 113). Die Sicherheit des Straßenverkehrs erfordert es, dass Verkehrszeichen, die von den hierzu befugten Behörden angebracht worden sind, bis zu ihrer Beseitigung Beachtung finden und befolgt werden; dementsprechend unterliegt die Missachtung eines Verkehrszeichens selbst dann der Ahndung als Ordnungswidrigkeit, wenn der Täter gegen das Verkehrszeichen Rechtsmittel eingelegt hat und es später im gerichtlichen Verfahren aufgehoben wird (BGHSt 23, 86; OLG Koblenz DAR 1999, 419; OLG Düsseldorf VRS 96, 143; KG VRS 107, 217; Hentschel/König/Dauer aaO § 41 StVO Rn. 247 m.w.N.). Nur im Falle der Nichtigkeit ist ein Verkehrszeichen unbeachtlich; ein solcher Fall liegt aber – abgesehen von der Anbringung durch Unbefugte – nur bei offensichtlicher Willkür, Sinnwidrigkeit oder bei objektiver Unklarheit, die sich auch im Wege der Auslegung nicht beheben lässt, vor (OLG Koblenz aaO; Hentschel/König/Dauer aaO). Der Mangel muss so schwerwiegend und bei verständiger Würdigung so offenkundig sein, dass sich die Fehlerhaftigkeit des Zeichens ohne weiteres aufdrängt (vgl. OLG Zweibrücken VRS 51, 138).
Ein derartiger Ausnahmefall liegt hier nicht vor. Abgesehen davon ist die Möglichkeit der Einhaltung eines in den niedersächsischen Richtlinien für die Verkehrsüberwachung vorgeschriebenen Mindestabstands zu einer möglichen Messstelle ersichtlich kein anerkanntes Kriterium für die Aufstellung von geschwindigkeitsbeschränkenden Verkehrszeichen. Vielmehr setzen §§ 45 Abs. 1, Abs. 9 Satz 2 StVO für Verbote und Beschränkungen des fließenden Verkehrs auf Bundesstraßen eine Gefahrenlage voraus, die auf besondere örtliche Verhältnisse zurückzuführen ist und das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der relevanten Rechtsgüter (hier insbesondere: Leben und Gesundheit von Verkehrsteilnehmern sowie öffentliches und privates Sacheigentum) erheblich übersteigt (vgl. BVerwG VRS 120, 113). Die Maßnahmen stehen im Ermessen der zuständigen Straßenverkehrsbehörde, der es aufgrund ihres Sachverstandes und ihres Erfahrungswissens vorbehalten ist festzulegen, welche von mehreren in Betracht zu ziehenden Maßnahmen den bestmöglichen Erfolg verspricht; die Grenzen dieser Einschätzungsprärogative der Straßenverkehrsbehörde sind erst bei einer ersichtlich sachfremden und damit unvertretbaren Maßnahme überschritten (BVerwG VRS 101, 473; 120, 113).
Die Begrenzung der Höchstgeschwindigkeit auf 80 km/h durch die etwa 100 m vor der Gefahrstelle befindliche elektronische Verkehrsbeeinflussungsanlage war jedenfalls weder sachfremd noch unvertretbar, zumal die Höchstgeschwindigkeit schon vorher auf 100 km/h begrenzt war und sich somit kein Verkehrsteilnehmer zu einer nicht zumutbaren Vollbremsung gezwungen sehen konnte. Hinzu kommt, dass die Geschwindigkeitsbegrenzung durch die Verkehrsbeeinflussungsanlage nach den Feststellungen des Amtsgerichts schon aus großer Entfernung deutlich wahrnehmbar und bereits seit mehreren Jahren an dieser Stelle vorhanden war.
d) Der Rechtsfolgenausspruch begegnet auch sonst keinen Bedenken. Die Erhöhung der Regelgeldbuße ist angesichts der Voreintragungen nicht zu beanstanden. Eine niedrigere Geldbuße oder gar Einstellung des Verfahrens kam nicht in Betracht. Weder weicht nach den vom Amtsgericht festgestellten objektiven Gegebenheiten die Gefährlichkeit des konkreten Verstoßes des Betroffenen von der typischen Gefahrensituation ab, die Anlass für die Geschwindigkeitsbegrenzung ist, noch war das Maß seines Verschuldens besonders gering. Vielmehr hatte der Betroffene sogar die vor der Begrenzung auf 80 km/h auf dieser Strecke zulässige Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h überschritten. Dass das Amtsgericht dennoch von der Verhängung des nach § 4 Abs. 2 Satz 2 BKatV vorgesehenen Regelfahrverbots abgesehen hat, beschwert den Betroffenen nicht.
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 473 Abs. 1 StPO.