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Nachteilsausgleich als Insolvenzforderung

BUNDESARBEITSGERICHT

Az.: 10 AZR 16/02

Urteil vom 04.12.2002


Leitsätze

Führt der Unternehmer eine geplante Betriebsänderung durch, ohne über sie einen Interessenausgleich mit dem Betriebsrat versucht zu haben, so sind die daraus folgenden Ansprüche entlassener Arbeitnehmer auf Nachteilsausgleich im nach Zugang der Kündigungen eröffneten Insolvenzverfahren auch dann einfache Insolvenzforderungen, wenn die Kündigungen in Absprache mit dem vorläufigen Insolvenzverwalter und mit dessen Zustimmung erfolgten.


Das Bundesarbeitsgericht hat auf die mündliche Verhandlung vom 04.12.2002 für Recht erkannt:

Die Revision der Klägerin und die Anschlußrevision des Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Köln vom 22. Oktober 2001 – 2 (12) Sa 123/01 – werden mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die Klägerin die Kosten 1. Instanz zu 19/21 und der Beklagte zu 2/21 und die weiteren Kosten des Rechtsstreits die Klägerin zu 15/16 und der Beklagte zu 1/16 zu tragen hat.

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob ein Anspruch auf Nachteilsausgleich als Masseforderung oder als Insolvenzforderung zu berichtigen ist. Streitig ist zudem die Höhe des Anspruches, soweit er 14.977,77 Euro (29.293,98 DM) überschreitet.

Die am 29. September 1944 geborene Klägerin war seit dem 5. April 1983 als Arbeitnehmerin der K GmbH für ein monatliches Bruttoentgelt von zuletzt 4.882,33 DM tätig. Der Beklagte wurde mit Beschluß des Amtsgerichts B vom 17. November 1999 (- 99 IN 154/99 -) zum vorläufigen Insolvenzverwalter bestimmt. Das Insolvenzgericht ordnete ferner an:

„Verfügungen der Schuldnerin über Gegenstände ihres Vermögens sind nur noch mit Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters wirksam (§ 21 Abs. 2 Nr. 2 InsO).

Der vorläufige Insolvenzverwalter ist nicht allgemeiner Vertreter der Schuldnerin. Er hat die Aufgabe, durch Überwachung der Schuldnerin deren Vermögen zu sichern und zu erhalten. Er wird ermächtigt, mit rechtlicher Wirkung für die Schuldnerin zu handeln, ist jedoch, unbeschadet der Wirksamkeit der Handlung, verpflichtet, diese Befugnisse nur wahrzunehmen, soweit es zur Erfüllung seiner Aufgabe schon vor der Verfahrenseröffnung dringend erforderlich ist.“

Am 18. Januar 2000 beschlossen der Geschäftsführer der Schuldnerin und der Beklagte die Stillegung des Betriebes. Der Betriebsrat wurde am darauffolgenden Tag unterrichtet. Ein Interessenausgleich konnte nicht erzielt werden. Ein vom Betriebsrat eingeleitetes Verfahren auf Erlaß einer einstweiligen Verfügung mit dem Ziel, der Schuldnerin den drohenden Ausspruch von Kündigungen zu untersagen, war erfolglos. Nach schriftlicher Anhörung des Betriebsrates kündigte die Schuldnerin mit Schreiben vom 27. Januar 2000 mit Zustimmung des Beklagten allen Mitarbeitern, die keinen Sonderkündigungsschutz genossen. Am 1. Februar wurde über das Vermögen der Schuldnerin das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt. Nach der Insolvenzeröffnung vereinbarte der Beklagte mit dem Betriebsrat einen Sozialplan. Der Betrieb ist zwischenzeitlich stillgelegt. Das Verfahren ist nicht massearm. Insolvenzforderungen werden voraussichtlich mit einer Quote von 10 % berichtigt.

Die Klägerin begehrt mit der Klage einen Nachteilsausgleich nach § 113 BetrVG in Höhe von 15 Monatsgehältern. Die Forderung ist dem Grunde nach unstreitig. Der Beklagte hat im Prüfungstermin zunächst einen Betrag in Höhe von 4.598,00 DM und später weitere 24.695,98 DM, insgesamt also 29.293,98 DM (14.977,77 Euro) entsprechend einem Betrag von sechs Monatsgehältern als Insolvenzforderung anerkannt und im übrigen den Anspruch bestritten.

Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, der Nachteilsausgleichsanspruch sei als Masseforderung nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO zu berichtigen, da erst mit der tatsächlichen Entlassung der Arbeitnehmer nach Insolvenzeröffnung die Durchführung der Betriebsänderung begonnen habe und damit erst der Rechtsgrund für den Anspruch auf Nachteilsausgleich begründet worden sei. Eine Masseverbindlichkeit liege auch deshalb vor, weil der Beklagte als vorläufiger Insolvenzverwalter in dringenden Fällen alleine für die Schuldnerin habe handeln dürfen. § 55 Abs. 2 InsO verlange nicht, daß der Übergang der Verfügungsbefugnis Folge eines allgemeinen Verfügungsverbots nach § 22 Abs. 1 Satz 1 InsO sei, sondern knüpfe ausschließlich an die Tatsache an, daß die Verfügungsbefugnis im Ergebnis übergegangen sei. Der Beklagte habe die Nachteilsausgleichsansprüche auch selbst im Sinne von § 55 Abs. 2 InsO begründet, da erst seine Zustimmung zur Wirksamkeit der Kündigungen geführt habe. Jedenfalls sei § 55 Abs. 2 InsO analog heranzuziehen, weil die Übertragung der Verfügungsbefugnis in Verbindung mit einem allgemeinen Zustimmungsvorbehalt die gleiche Wirkung habe wie die Anordnung eines allgemeinen Verfügungsverbots.

Die Klägerin hat, soweit in der Revisionsinstanz noch von Interesse, beantragt,

1. den Beklagten zu verurteilen, an sie eine Abfindung in Höhe von 37.444,46 Euro nebst 4 % Zinsen seit Rechtshängigkeit zu zahlen;

2. hilfsweise, die Nachteilsausgleichsforderung der Klägerin in Höhe von 37.444,46 Euro als Insolvenzforderung gemäß § 38 InsO zur Insolvenztabelle abzüglich bereits anerkannter 14.977,77 Euro festzustellen.

Der Beklagte hat, soweit in der Revisionsinstanz noch von Interesse, beantragt,

1. die Klage mit dem Hauptantrag abzuweisen,

2. die Klage mit dem Hilfsantrag insoweit abzuweisen, als ein Nachteilsausgleich von mehr als 14.977,77 Euro zur Insolvenztabelle festgestellt wird.

Der Beklagte hat zur Höhe des Anspruchs die Ansicht vertreten, der Anspruch auf Nachteilsausgleich beinhalte eine Schadenersatz-, nicht aber eine Strafkomponente. Mit sechs Monatsgehältern sei der Nachteilsausgleich aber auch dann hinreichend, wenn der Sanktionscharakter berücksichtigt werde.

Das Arbeitsgericht hat die Klage mit dem Hauptantrag abgewiesen und dem Hilfsantrag stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufungen beider Parteien zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihren Hauptantrag weiter. Der Beklagte verfolgt mit seiner Anschlußrevision das Ziel, den Anspruch auf Nachteilsausgleich auf den anerkannten Betrag zu begrenzen.

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin und die Anschlußrevision des Beklagten sind unbegründet.

I. Nach Auffassung des Landesarbeitsgerichts ist der Nachteilsausgleichsanspruch als Insolvenzforderung nach § 38 InsO zu behandeln. Er werde ausgelöst, wenn mit der Betriebsänderung ohne zuvor versuchten Interessenausgleich begonnen werde. Dies sei vor der Insolvenzeröffnung der Fall gewesen. Zum Zeitpunkt der Entlassung nach Insolvenzeröffnung sei lediglich der Schaden eingetreten, der zu der Vereitelung des Verhandlungsanspruches des Betriebsrates hinzutreten müsse, ohne daß dadurch die Forderung zu einer Masseverbindlichkeit werde. Auch nach § 55 Abs. 2 InsO habe keine Masseverbindlichkeit begründet werden können, da die Verfügungsbefugnis nicht durch Erlaß eines allgemeinen Verfügungsverbots auf den Beklagten übergegangen sei. Ob eine Ermächtigung des vorläufigen Insolvenzverwalters, in Einzelfällen allein zu handeln, eine analoge Anwendung von § 55 Abs. 2 InsO rechtfertige, könne dahinstehen, weil die streitgegenständliche Verbindlichkeit nicht auf Grund der eingeräumten Ermächtigung, sondern lediglich mit Zustimmung des Beklagten durch die Schuldnerin ausgelöst worden sei. Die Höhe des Nachteilsausgleichsanspruchs sei mit einem Gehalt pro Beschäftigungsjahr wegen der Sanktionsfunktion angemessen in Ansatz gebracht und berücksichtige, daß der Beklagte in der sicheren Erwartung, nur Insolvenzforderungen auszulösen, den Verhandlungsanspruch des Betriebsrates übergangen und in Kauf genommen habe, daß der Wert des zu realisierenden Nachteilsausgleichsanspruchs deutlich unter den möglichen Ansprüchen liege, die sich bei einer Verzögerung des Kündigungsausspruchs ergeben hätten.

II. Dem folgt der Senat im Ergebnis wie in der Begründung.

1. Die Klage ist mit dem Hauptantrag zulässig, aber unbegründet. Der Anspruch der Klägerin auf Nachteilsausgleich nach § 113 Abs. 1 und Abs. 3 BetrVG ist weder nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO noch nach § 55 Abs. 2 Satz 1 InsO Masseverbindlichkeit, sondern nach § 38 InsO als Insolvenzforderung zu berichtigen.

a) Die Klage ist mit dem Hauptantrag nicht deshalb unzulässig, weil die Klägerin den Anspruch auch als Insolvenzforderung nach § 174 InsO angemeldet und der Beklagte diesen Anspruch zunächst in Höhe von 4.598,00 DM und später in Höhe weiterer 24.695,98 DM als Insolvenzforderung anerkannt hat. Die Rechtskraftwirkung zur Tabelle festgestellter Forderungen nach § 178 Abs. 3 InsO beschränkt sich auf Insolvenzforderungen; die vorsorgliche oder irrtümliche Anmeldung einer Forderung zur Insolvenztabelle steht der Geltendmachung dieser Forderung als Masseforderung deshalb nicht entgegen (Kübler/Prütting/Pape InsO Stand November 2002 § 178 Rn. 10; BAG 13. Juni 1989 – 1 AZR 819/87 – BAGE 62, 88).

b) Der Klägerin steht zwar dem Grunde nach ein Anspruch auf Nachteilsausgleich nach § 113 BetrVG zu. Der Betrieb der Schuldnerin wurde stillgelegt, ohne daß ein Interessenausgleich ausreichend versucht wurde, denn nach dem Scheitern der Verhandlungen mit dem Betriebsrat hätte die Einigungsstelle angerufen werden müssen (BAG 20. November 2001 – 1 AZR 97/01 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 39 = EzA BetrVG 1972 § 113 Nr. 29).

Dieser Anspruch ist jedoch unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt als Masseverbindlichkeit, sondern lediglich als Insolvenzforderung nach § 38 InsO zu berichtigen.

aa) Der Anspruch ist keine Masseverbindlichkeit nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO. Danach sind Masseverbindlichkeiten die Verbindlichkeiten, die durch Handlungen des Insolvenzverwalters oder in anderer Weise durch die Verwaltung, Verwertung und Verteilung der Insolvenzmasse begründet werden, ohne zu den Kosten des Insolvenzverfahrens zu gehören.

Der Anspruch der Klägerin auf Nachteilsausgleich wurde nicht nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens durch den Beklagten in seiner Funktion als Insolvenzverwalter, sondern vor der Insolvenzeröffnung am 1. Februar 2000 durch die Kündigungen der Schuldnerin vom 27. Januar 2000 ausgelöst.

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Nach § 113 Abs. 3 BetrVG entsteht der Anspruch auf Nachteilsausgleich, wenn der Unternehmer eine geplante Betriebsänderung nach § 111 durchführt, ohne über sie einen Interessenausgleich versucht zu haben, und infolge der Maßnahme Arbeitnehmer entlassen werden. Durchgeführt wird eine geplante Betriebsänderung dann, wenn der Arbeitgeber mit ihr beginnt und damit vollendete Tatsachen schafft. Abzustellen ist darauf, ob der Arbeitgeber während der Verhandlungen rechtsgeschäftliche Handlungen vornimmt, die das Ob und das Wie der Betriebsänderung vorwegnehmen (BAG 20. November 2001 – 1 AZR 97/01 – aaO). Kündigt der Arbeitgeber im Zuge einer geplanten Betriebsstillegung seiner Belegschaft, so beginnt er die Betriebsänderung durchzuführen (BAG 23. August 1988 – 1 AZR 276/87 – BAGE 59, 242; 20. November 2001 – 1 AZR 97/01 – aaO).

Auf den Zeitpunkt der Entlassung kommt es entgegen der Auffassung der Klägerin für die insolvenzrechtliche Einordnung des Abfindungsanspruchs nicht an. Dies verdeutlicht bereits der Wortlaut von § 113 Abs. 3 BetrVG, der zwischen der Maßnahme und der infolge der Maßnahme vorgenommenen Entlassung unterscheidet. § 113 BetrVG schützt die Beachtung der gesetzlichen Beteiligungsrechte des Betriebsrates nicht ausnahmslos, sondern nur in den Fällen, in denen die von der unternehmerischen Maßnahme betroffenen Arbeitnehmer ihren Arbeitsplatz verlieren oder sonstige wirtschaftliche Nachteile erleiden (BAG 20. November 2001 – 1 AZR 97/01 – aaO). Maßgeblich für die insolvenzrechtliche Beurteilung des Anspruchs ist aber der Zeitpunkt, zu dem die geplante Betriebsänderung durchgeführt und der Verhandlungsanspruch vereitelt wird. Auch wenn Arbeitnehmer nach einer beschlossenen Betriebsstillegung über den Zeitpunkt der Eröffnung des Konkursverfahrens hinaus noch beschäftigt werden, ist ihr Abfindungsanspruch als Insolvenzforderung zu berichtigen, wenn die Betriebsstillegung vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens begonnen und der Versuch eines vorherigen Interessenausgleichs unterblieben ist (BAG 3. April 1990 – 1 AZR 150/89 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 20 = EzA BetrVG 1972 § 113 Nr. 20, zu § 59 Abs. 1 Nr. 1 KO). Der Nachteilsausgleich ist nur dann als Masseschuld zu berichtigen, wenn die Betriebsänderung nach Insolvenzeröffnung beschlossen und durchgeführt wird (BAG 3. April 1990 – 1 AZR 150/89 – aaO; Fabricius GK-BetrVG 6. Aufl. § 112, 112 a Rn. 214; Fitting/Kaiser/Heither/Engels/Schmidt BetrVG 21. Aufl. § 113 Rn. 57 f.). An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest. Gegenargumente sind – soweit erkennbar – weder in der Literatur erhoben worden noch gibt die Revisionsbegründung Anlaß, von dieser Rechtsprechung abzuweichen.

bb) § 55 Abs. 2 Satz 1 InsO stützt die Ansicht der Klägerin, ihr Anspruch sei als Masseverbindlichkeit zu behandeln, ebenfalls nicht. Nach dieser Vorschrift gelten Verbindlichkeiten, die von einem vorläufigen Insolvenzverwalter begründet worden sind, auf den die Verfügungsbefugnis über das Vermögen des Schuldners übergegangen ist, nach der Eröffnung des Verfahrens als Masseverbindlichkeit.

Auch wenn nach Maßgabe der vom Insolvenzgericht im Rahmen der vorläufigen Insolvenzverwaltung angeordneten Sicherungsmaßnahmen die Kündigung der Klägerin von einer Zustimmung des Beklagten abhängig war, ergibt sich weder im Wege unmittelbarer noch im Wege analoger Anwendung von § 55 Abs. 2 InsO, daß damit Masseverbindlichkeiten ausgelöst wurden.

(1) § 55 Abs. 2 InsO findet zunächst nicht unmittelbar auf den Fall der Anordnung eines Zustimmungsvorbehalts nach § 21 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 InsO Anwendung. § 55 Abs. 2 InsO knüpft an die Vorschrift des § 22 Abs. 1 Satz 1 InsO an (BGH 18. Juli 2002 – IX ZR 195/01 – NJW 2002, 3326). Danach geht die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis auf den vorläufigen Insolvenzverwalter über, wenn dem Schuldner ein allgemeines Verfügungsverbot nach § 21 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1 InsO auferlegt wird (sog. starker vorläufiger Insolvenzverwalter). Dies ist nicht geschehen. Das Amtsgericht B hat mit Beschluß vom 17. November 1999 (- 99 IN 154/99 -) nach § 21 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 InsO angeordnet, daß die Schuldnerin nur mit Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters wirksam über ihr Vermögen verfügen kann.

Entgegen der Auffassung der Klägerin erfaßt § 55 Abs. 2 InsO auch nicht Fälle einer einzelfallbezogenen und partiellen Verfügungsermächtigung durch das Insolvenzgericht. Die Verfügungsbefugnis muß über das Vermögen des Schuldners (und nicht nur über Teile davon) übergegangen sein. Nur auf Grund des Erlasses eines allgemeines Verfügungsverbots kann der vorläufige Insolvenzverwalter gem. § 22 Abs. 1 InsO umfassend für den Schuldner handeln (BGH 18. Juli 2002 – IX ZR 195/01 – aaO).

Eine unmittelbare Anwendung von § 55 Abs. 2 InsO scheidet vorliegend auch deshalb aus, weil auf der Grundlage des Beschlusses des Amtsgerichts B kein Übergang der Verfügungsbefugnis erfolgt ist. Die Anordnung, der vorläufige Insolvenzverwalter werde „ermächtigt, mit rechtlicher Wirkung für die Schuldnerin zu handeln“, bewirkt nicht den tatbestandlich nach § 55 Abs. 2 InsO erforderlichen Übergang der Verfügungsbefugnis, sondern räumt ihm allenfalls eine konkurrierende Befugnis neben dem Schuldner ein (Spliedt ZIP 2001, 1941, 1943 f.).

(2) Die streitgegenständliche Forderung ist auch nicht im Wege analoger Anwendung von § 55 Abs. 2 InsO auf die Ausübung des Zustimmungsvorbehalts durch den vorläufigen Insolvenzverwalter als Masseverbindlichkeit zu berichtigen.

(2.1) Masseverbindlichkeiten werden zunächst dann nicht durch Ausübung des Zustimmungsvorbehaltes ausgelöst, wenn das Insolvenzgericht keine weiteren Verfügungs- und Verpflichtungsermächtigungen zu Gunsten des vorläufigen Insolvenzverwalters nach § 22 Abs. 2 InsO verfügt hat (BGH 18. Juli 2002 – IX 195/01 – aaO; Hessisches LAG 6. Februar 2001 – 4 Sa 1583/00 – ZInsO 2001, 562; MünchKommInsO-Hefermehl § 55 Rn. 216; aA OLG Hamm 17. Januar 2002 – 27 U 150/01 – ZIP 2002, 676; Bork ZIP 1999, 781, 785 f.; Eickmann in HK-InsO 2. Aufl. § 55 Rn. 26). Weder liegt eine gesetzliche Regelungslücke vor, die den Weg zu einer analogen Anwendung der Norm öffnen könnte, noch ergibt sich ein solches Bedürfnis aus der von der Gegenauffassung bemühten Umgehung der Rechtsfolge des § 55 Abs. 2 InsO durch Anordnung nur eines begleitenden Zustimmungsvorbehalts.

Die Insolvenzordnung differenziert im Gegensatz zur Konkursordnung grundsätzlich zwischen Ansprüchen, die vor der Insolvenzeröffnung begründet und als Insolvenzforderungen zu berichtigen sind (§ 38, § 108 Abs. 2 InsO) und den nach Insolvenzeröffnung begründeten Masseverbindlichkeiten nach § 55 Abs. 1 InsO. Systemwidrige unechte Masseverbindlichkeiten (§ 59 Abs. 1 Nr. 3 KO) wurden in das neue Recht deshalb nicht übernommen (BT-Drucks. 12/2443 S 126). Masseverbindlichkeiten können vor Verfahrenseröffnung nach § 55 Abs. 2 Satz 1 InsO nur entstehen, wenn die Verfügungsbefugnis über das Vermögen des Schuldners auf den vorläufigen Insolvenzverwalter übergegangen ist und die Wirkungen der Verfahrenseröffnung „vorverlagert“ werden. Es liegt deshalb keine Regelungslücke vor, wenn § 55 Abs. 2 InsO keine Regelung zum vorläufigen Insolvenzverwalter mit begleitendem Zustimmungsvorbehalt enthält.

In der überwiegenden Bestellung nur „schwacher“ Insolvenzverwalter mit begleitendem Zustimmungsvorbehalt in der Insolvenzpraxis liegt auch keine Umgehung von § 55 Abs. 2 InsO. Der vorläufige Insolvenzverwalter mit Verfügungsbefugnis ist nicht der gesetzlich vorgesehene Regelfall einer vorläufigen Insolvenzverwaltung. Die Anordnung von Sicherungsmaßnahmen unterliegt grundsätzlich dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, so daß dem Sicherungszweck genügende mildere Mittel einem allgemeinen Verfügungsverbot vorzuziehen sind (BGH 18. Juli 2002 – IX ZR 195/01 – aaO).

(2.2) Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs kann zwar das Insolvenzgericht – jedenfalls in Verbindung mit dem Erlaß eines besonderen Verfügungsverbots – den vorläufigen Insolvenzverwalter auch ohne begleitendes allgemeines Verfügungsverbot ermächtigen, einzelne im voraus genau festgelegte Verpflichtungen zu Lasten der späteren Insolvenzmasse einzugehen (BGH 18. Juli 2002 – IX ZR 195/01 – aaO; zust. Prütting/Stickelbrock ZIP 2002, 1608, 1611 und Haarmeyer ZInsO 2002, 741; so auch MünchKommInsO-Hefermehl § 55 Rn. 219; Spliedt ZIP 2001, 1941, 1943). Dies leitet der Bundesgerichtshof aus § 22 Abs. 2 Satz 1 InsO ab, wonach das Insolvenzgericht die Pflichten des vorläufigen Insolvenzverwalters zu bestimmen hat. Für die Befugnisse, die nötig seien, um diese Pflichten zu erfüllen, könne nichts anderes gelten (BGH 18. Juli 2002 – IX ZR 195/01 – aaO).

Ob dem zu folgen ist, kann jedoch hier dahinstehen. Auch nach den vom Bundesgerichtshof definierten Voraussetzungen konnte der Beklagte als vorläufiger Insolvenzverwalter Masseverbindlichkeiten nicht begründen. Ihm waren nicht einzelne, im voraus genau festgelegte Verpflichtungsermächtigungen erteilt. Eine dem vorläufigen Insolvenzverwalter erteilte allgemeine Ermächtigung, „für den Schuldner zu handeln“, ist demgegenüber unzulässig, weil das Insolvenzgericht, wenn es kein allgemeines Verfügungsverbot erläßt, Verfügungs- und Verpflichtungsermächtigungen nicht in das Ermessen des vorläufigen „schwachen“ Insolvenzverwalters stellen kann (BGH 18. Juli 2002 – IX ZR 195/01 – aaO).

(3) Letztlich hat der Beklagte, selbst wenn er auf Grund der Ermächtigung des Insolvenzgerichts über das Vermögen der Schuldnerin hätte verfügen können, vorliegend tatsächlich keine Masseverbindlichkeiten begründet. Der Anspruch der Klägerin auf Nachteilsausgleich wurde, wie das Landesarbeitsgericht zutreffend erkannt hat, nicht durch eine Verfügung des Beklagten auf der Grundlage der eingeräumten Verfügungsermächtigung, sondern durch die Kündigung der Schuldnerin ohne zuvor versuchten Interessenausgleich ausgelöst. Die Schuldnerin blieb auch nach der Anordnung des allgemeinen Zustimmungsvorbehalts Arbeitgeberin und kündigungsbefugt (Hess/Weis/Wienberg InsO 2. Aufl. § 22 Rn. 151). Mit der Erteilung der Zustimmung hat der Beklagte auf der Grundlage des nach § 21 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 InsO angeordneten Zustimmungsvorbehaltes gehandelt, nicht aber auf der Basis einer möglicherweise weitergehenden Verfügungsermächtigung. Die Ausübung des allgemeinen Zustimmungsvorbehaltes löst aber keine Masseverbindlichkeiten aus (BGH 18. Juli 2002 – IX ZR 195/01 – aaO).

2. Die Anschlußrevision des Beklagten ist unbegründet, weil die vom Landesarbeitsgericht für angemessen erachtete Höhe des Nachteilsausgleichs mit insgesamt 15 Monatsgehältern revisionsrechtlich nicht zu beanstanden ist.

a) Die Festsetzung des Nachteilsausgleichs ist revisionsrechtlich nur eingeschränkt überprüfbar. Die rechtliche Kontrolle ist darauf beschränkt, ob das Berufungsgericht alle wesentlichen Umstände berücksichtigt und nicht gegen Rechtsvorschriften oder Denkgesetze verstoßen hat (BAG 20. November 2001 – 1 AZR 97/01 – aaO; 10. Dezember 1996 – 1 AZR 290/96 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 32 = EzA BetrVG 1972 § 111 Nr. 34). Dieser eingeschränkten Überprüfung hält das angefochtene Urteil stand.

b) Unerheblich ist der Einwand des Beklagten, der Nachteilsausgleich beinhalte lediglich eine Schadenersatz-, nicht aber eine Strafkomponente. Es entspricht gefestigter Rechtsprechung, daß der Nachteilsausgleich auch Sanktion für das betriebsverfassungswidrige Verhalten des Arbeitgebers ist, der seiner gesetzlichen Beratungspflicht bei Betriebsänderungen nicht genügt hat (BAG 20. November 2001 – 1 AZR 97/01 – aaO; 19. Januar 1999 – 1 AZR 342/98 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 37 = EzA BetrVG 1972 § 113 Nr. 28). Es besteht zwar partielle Zweckidentität zwischen einem Sozialplan und einem Nachteilsausgleich, weil beide dem Ausgleich der wirtschaftlichen Nachteile dienen, die infolge der Betriebsänderung eintreten; der Sanktionscharakter des Nachteilsausgleichs wird damit aber nicht aufgehoben (BAG 20. November 2001 – 1 AZR 97/01 – aaO).

c) Die festgesetzte Höhe ist auch im übrigen nicht zu beanstanden. Sie orientiert sich an dem gesetzlich in § 10 Abs. 2 KSchG festgelegten Rahmen. Es ist nicht rechtsfehlerhaft, wenn das Landesarbeitsgericht ua. darauf abgestellt hat, daß der Nachteilsausgleichsanspruch durch Nichtanrufung der Einigungsstelle bewußt vor Insolvenzeröffnung ausgelöst wurde, um die Entstehung von Masseverbindlichkeiten nach Insolvenzeröffnung zu verhindern und mögliche Ansprüche der Arbeitnehmer aus einem länger fortbestehenden Arbeitsverhältnis zu verkürzen. Der Beklagte stellt diese Begründung des Landesarbeitsgerichts im Tatsächlichen nicht in Abrede. Ging es folglich darum, mögliche Ansprüche der Arbeitnehmer durch den Verzicht auf das Einigungsstellenverfahrens zu verkürzen, so liegt ein Grad der Zuwiderhandlung gegen betriebsverfassungsrechtliche Pflichten vor, der einen Nachteilsausgleich in der zuerkannten Höhe rechtfertigt.

III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 1 ZPO. Die Klägerin macht eine Masseforderung von 37.444,46 Euro geltend. Anerkannt ist eine Insolvenzforderung in Höhe von 14.977,77 Euro; dies entspricht bei einer voraussichtlichen Quote von 10 % einem tatsächlichen Wert von 1.497,78 Euro. Die Klägerin ist folglich mit einem im Fall einer Masseforderung zusätzlich realisierbarem Betrag von 35.946,68 Euro ausgefallen. Der Beklagte ist im Hilfsantrag unterlegen mit einem Betrag von 37.444,46 Euro abzüglich anerkannter 14.977,77 Euro; dies entspricht einem nominalen Betrag von 22.466,69 Euro und bei einer Quote von 10 % einem Betrag von 2.246,67 Euro. Daraus ergibt sich eine Quote von 15/16 zu Lasten der Klägerin und 1/16 zu Lasten des Beklagten im zweiten und dritten Rechtszug.

In erster Instanz hatte der Beklagte nur eine Insolvenzforderung in Höhe von 2.350,92 Euro anerkannt. Entsprechend höher war der Grad seines Unterliegens anzusetzen.

Die Korrektur des Kostenausspruchs der Vorinstanzen war gem. § 308 Abs. 2 ZPO auch ohne entsprechende Parteianträge möglich und geboten (BAG 16. Oktober 1974 – 4 AZR 29/74 – BAGE 26, 320, 333; Stein/Jonas/Leipold ZPO 21. Aufl. § 308 Fn. 62). Das Verbot der reformatio in peius gilt insoweit nicht (Zöller/Vollkommer ZPO 23. Aufl. § 308 Rn. 9).

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