Bundesfinanzhof
Az: IX R 69/04
Urteil vom 16.01.2007
Gründe:
I.
Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) –zur Einkommensteuer zusammen veranlagte Eheleute– gaben im März 1999 die Einkommensteuererklärung für das Jahr 1997 (Streitjahr) beim Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt –FA–) ab. Dieses veranlagte zunächst antragsgemäß durch Bescheid vom April 1999, änderte aber den bestandskräftigen Bescheid aufgrund nachfolgenden Sachverhalts.
Der Kläger ist Eigentümer eines mit einem Mietwohnhaus bebauten Grundstücks. An diesem Objekt räumte er mit notariellem Vertrag vom April 1977 (unter Mitwirkung eines Ergänzungspflegers und vormundschaftsgerichtlich genehmigt) seinen damals mit 11 und 14 Jahren noch minderjährigen Söhnen S und N jeweils ein schuldrechtliches, befristetes Nießbrauchsrecht ein. Dessen Eintragung im Grundbuch wurde im März 2000 gelöscht. Nach Auslaufen der Nießbrauchsrechte Ende 1981 (S) und Ende 1984 (N) erklärte weiterhin der Sohn N die Einkünfte aus diesem Objekt in seiner Steuererklärung. Die Erklärungen der Kläger und des Sohnes wurden vom jetzigen Prozessvertreter in der Regel zeitgleich erstellt und dem FA eingereicht.
Abweichend davon rechnete das FA ab 1985 und in den Folgejahren die Einkünfte aus dem Mietwohngrundstück nach Maßgabe der vom Sohn eingereichten Anlagen V den Klägern zu, ohne dass diese derartige Einkünfte erklärten; sie nahmen aber deren Zurechnung bis zum Streitjahr hin.
Im Streitjahr 1997 wurde die Anlage V des nunmehr beschränkt steuerpflichtigen Sohnes N abweichend von der bisherigen Praxis erst später eingereicht mit der Folge, dass im Bescheid vom April 1999 die Einkünfte aus dem Mietwohngrundstück nicht erfasst wurden. Nach Zuleitung der Anlage V des Sohnes berichtigte das FA den bestandskräftigen Bescheid nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO) mit Änderungsbescheid vom August 1999.
Nach erfolglosem Einspruch wies das Finanzgericht (FG) die Klage gegen den zwischenzeitlich aus anderen Gründen geänderten und zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Bescheid auch hinsichtlich der geltend gemachten Steuerfreiheit für die Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung der Klägerin als unbegründet ab (Urteil in Entscheidungen der Finanzgerichte 2004, 1739): Das FA habe den bestandskräftigen Bescheid 1997 nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c AO ändern dürfen; denn der Kläger habe eine objektiv unrichtige Steuererklärung dadurch abgegeben, dass er als Eigentümer ihm zuzurechnende Vermietungseinkünfte nicht erklärt habe. Das zu Gunsten seiner Söhne an diesem Objekt bestellte Nießbrauchsrecht sei mit Ablauf der Befristung entfallen. Die Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung seien der Klägerin als Arbeitslohn mit Abführung durch ihren Arbeitgeber auch zugeflossen.
Mit der Revision rügen die Kläger die Verletzung materiellen Rechts (§ 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c, § 163 AO, § 3 Nr. 62, § 8 Abs. 1, § 11 Abs. 1, § 19 Abs. 1, § 21 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes –EStG–, Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes –GG–). § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c AO sei nicht erfüllt; denn der Kläger habe keine unrichtige Steuererklärung abgegeben. Die Vermietungseinkünfte seien unstreitig dem Sohn infolge Verlängerung der Nießbrauchsvereinbarung zuzurechnen; entsprechend brauche nicht an das FG zurückverwiesen werden. Die Arbeitnehmeranteile zur Gesamtsozialversicherung seien schon kein Arbeitslohn und der Klägerin auch nicht mit Abführung durch den Arbeitgeber zugeflossen. Es leuchte auch unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten (objektives Nettoprinzip, Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit) nicht ein, den Arbeitnehmeranteil steuerrechtlich anders als den Arbeitgeberanteil zu behandeln. Zudem habe der Arbeitnehmer nur einen um den Arbeitnehmeranteil gekürzten Vergütungsanspruch gegen seinen Arbeitgeber, ein disponibler Vermögensvorteil stehe dem Arbeitnehmer insoweit daher nicht zur Verfügung und dürfe folglich auch nicht besteuert werden.
Die Kläger beantragen,
das FG-Urteil, den Einkommensteuerbescheid 1997 vom 10. August 1999, die Einspruchsentscheidung vom 14. November 2001 und den Einkommensteueränderungsbescheid 1997 vom 15. Februar 2002 aufzuheben,
hilfsweise die Einkommensteuer 1997
a) beim Kläger ohne Berücksichtigung der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung für das Objekt in S und
b) bei der Klägerin ohne Einbeziehung der Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung in die Bemessungsgrundlage der Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit festzusetzen.
Das FA beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II.
Die Revision ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung –FGO–).
Das FG hat zu Unrecht entschieden, dass das FA den bestandskräftigen Einkommensteuerbescheid nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c AO ändern durfte (s. 1.). Hingegen hat das FG zutreffend die Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung als zugeflossenen Arbeitslohn behandelt (s. 2.).
1. Nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c AO darf ein Steuerbescheid, soweit er nicht vorläufig oder unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergangen ist, nur aufgehoben oder geändert werden, wenn er andere Steuern als Einfuhr- und Ausfuhrabgaben i.S. des Art. 4 Nr. 10, 11 des Zollkodexes oder Verbrauchsteuern betrifft, soweit er durch unlautere Mittel, wie arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt worden ist. Daran fehlt es, wenn die vom Kläger nicht erklärten Vermietungseinkünfte nicht ihm, sondern seinem Sohn N zuzurechnen sind.
Dies hat das FG zu Unrecht nicht geprüft. Es hat nämlich nicht geprüft, wer den Tatbestand der Einkunftsart Vermietung und Verpachtung erfüllt hat.
a) Den objektiven Tatbestand der Einkunftsart Vermietung und Verpachtung verwirklicht, wer die rechtliche oder tatsächliche Macht hat, eines der in § 21 Abs. 1 EStG genannten Wirtschaftsgüter anderen entgeltlich auf Zeit zum Gebrauch oder zur Nutzung zu überlassen; er muss Träger der Rechte und Pflichten aus einem Miet- oder Pachtvertrag oder einem ähnlichen Vertrag über eine Nutzungsüberlassung sein (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs –BFH– vom 11. März 2003 IX R 16/99, BFH/NV 2003, 1043, m.w.N.). Es kommt darauf an, wer die maßgebenden wirtschaftlichen Dispositionsbefugnisse über das Mietobjekt und damit eine Vermietertätigkeit selbst oder durch einen gesetzlichen Vertreter bzw. Verwalter wirtschaftlich ausübt (vgl. BFH-Urteil vom 19. November 2003 IX R 54/00, BFH/NV 2004, 1079, m.w.N.). Auch ein schuldrechtliches Nutzungsrecht kann zu einer Zurechnung der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung nach § 21 Abs. 1 EStG führen (vgl. BFH-Urteile vom 25. April 1995 IX R 41/92, BFH/NV 1996, 122, und vom 15. April 1986 IX R 52/83, BFHE 146, 415, BStBl II 1986, 605, m.w.N.; s.a. BFH-Urteil vom 28. März 1995 IX R 126/89, BFHE 177, 412, BStBl II 1997, 121).
Bestellen Eltern ihren minderjährigen Kindern einen Nießbrauch (Nutzungsrecht) an einem Grundstück, ist des Weiteren erforderlich, dass dies aufgrund eines zivilrechtlich wirksamen Vertrages erfolgt und die Beteiligten die zwischen ihnen getroffenen Vereinbarungen auch tatsächlich durchführen (z.B. BFH-Urteile vom 19. März 1991 IX R 247/87, BFH/NV 1991, 744; vom 31. Oktober 1989 IX R 216/84, BFHE 159, 319, BStBl II 1992, 506; in BFH/NV 1996, 122). Das kann auch im Wege eines –zivilrechtlich zulässigen (vgl. Staudinger/Promberger, 12. Aufl., Vorbem. zu §§ 1030 ff. Rz 16)– schuldrechtlichen Nießbrauchs (Nutzungsrechts) geschehen, etwa weil der Grundstücksnießbrauch nicht im Grundbuch eingetragen (vgl. BFH-Urteile in BFHE 146, 415, BStBl II 1986, 605; vom 16. Oktober 1984 IX R 89/82, BFHE 143, 310, BStBl II 1985, 390, und in BFH/NV 1996, 122) oder –wie hier– von vornherein nur schuldrechtlich begründet wurde. Zwar führt die Befristung des (dinglichen) Nießbrauchs zivilrechtlich zu dessen Erlöschen kraft Gesetzes, die des (schuldrechtlichen) Nutzungsrechts zur Beendigung der Rechtswirkungen dieses Rechtsgeschäfts; jeweils mit Eintritt der Bedingung (Zeitablauf) wird der frühere Rechtszustand grundsätzlich wieder hergestellt (§ 158 Abs. 2, § 163 des Bürgerlichen Gesetzbuches –BGB–, vgl. Palandt/ Bassenge, Bürgerliches Gesetzbuch, 66. Aufl., Einf v § 1030 Rz 6; Palandt/Heinrichs, a.a.O., § 158 Rz 2; Erman/Michalski, BGB, 11. Aufl., Vor § 1030 Rz 15; Erman/Armbrüster, a.a.O., § 158 Rz 1). Das gilt jedoch dann nicht, wenn ein Fortbestehen des (schuldrechtlichen) Nutzungsrechts aufgrund einer ausdrücklichen oder konkludent getroffenen Vereinbarung auch für den Zeitraum nach Ablauf der (Bedingungs-)Frist verlängert wird.
b) Wem nach diesen Grundsätzen die Einkünfte zuzurechnen sind, kann der Senat ohne entsprechende Feststellungen des FG nicht beurteilen. Die Sache ist deshalb nicht spruchreif; sie wird an das FG zurückgegeben. Dieses wird die für die Verwirklichung des Tatbestands der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung und deren Zurechnung erforderlichen Feststellungen nach Maßgabe der vorstehenden Ausführungen (unter 1. a) nachholen.
2. Hingegen hat das FG zutreffend die Arbeitnehmeranteile zur Arbeitslosen-, Kranken- und Rentenversicherung (Gesamtsozialversicherung) als Gegenleistung für die Erbringung der Arbeitsleistung und damit als Arbeitslohn angesehen (ständige Rechtsprechung: s. BFH-Beschlüsse vom 29. Oktober 2004 XI B 170/03, BFH/NV 2005, 539; vom 19. Mai 2004 VI B 120/03, BFH/NV 2004, 1263; und einhellige Literatur: z.B. Breinersdorfer, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 19 Rz B 304; Barein in Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, § 19 EStG Rz 192). Zwar hat der Arbeitgeber als alleiniger Schuldner den Gesamtsozialversicherungsbeitrag an die Einzugsstelle zu zahlen und durch Lohnabzug beim Arbeitnehmer einzubehalten (§ 28e, § 28g des Sozialgesetzbuchs –SGB– IV; vgl. Küttner/Griese/ Schlegel, Personalhandbuch 2006, Stichwort: „Sozialversicherungsbeiträge“ Rz 2, 39, 53; Schaub/Linck, ArbR-Hdb., 11. Aufl., § 71 Rz 12, 28; MünchArbR/Peters-Lange, Bd. 1, 2. Aufl., § 64 Rz 74, 75); der Arbeitnehmer aber hat die Beiträge zur Gesamtsozialversicherung zur Hälfte (Arbeitnehmeranteil) wirtschaftlich aus dem ihm zustehenden Bruttoentgelt zu tragen (§ 346 SBG III, § 249 SGB V, § 168 SGB VI, § 58 SGB XI; Beschluss des Bundesarbeitsgerichts –BAG– vom 7. März 2001 GS 1/00, Neue Juristische Wochenschrift –NJW– 2001, 3570, unter III. 1. d); die aus sozialversicherungsrechtlichen Gründen zum Schutz des versicherten Arbeitnehmers gewählte technische Abwicklung ändert daran nichts (vgl. MünchKommBGB/Müller-Glöge, Bd. 4, 4. Aufl., § 611 Rz 1147). Der einbehaltene Arbeitnehmeranteil zur Sozialversicherung ist danach ein dem Arbeitnehmer verschaffter Vermögensvorteil (BAG-Beschluss in NJW 2001, 3570, a.a.O.); daher sind die Arbeitnehmerbeiträge –bei eigenem Rechtsanspruch des Arbeitnehmers gegen die Versorgungseinrichtung (vgl. BFH-Urteile vom 16. Mai 1975 VI R 165/72, BFHE 115, 569, BStBl II 1975, 642, unter 4.; vom 15. Juli 1977 VI R 109/74, BFHE 123, 37, BStBl II 1977, 761, vor I.; jew. m.w.N.)– als Arbeitslohn mit ihrer Abführung durch den Arbeitgeber gegenwärtig zugeflossen (vgl. BFH-Urteil vom 27. Mai 1993 VI R 19/92, BFHE 172, 46, BStBl II 1994, 246, unter II. 1. b); BFH-Beschlüsse in BFH/NV 2004, 1263, und 2005, 539). Dementsprechend ist auch der Vorwegabzug nach § 10 Abs. 3 i.V.m. § 3 Nr. 62 EStG zu kürzen (vgl. BFH-Urteil vom 16. Oktober 2002 XI R 75/00, BFHE 200, 548, BStBl II 2003, 288; BFH-Beschluss in BFH/NV 2006, 49, unter 2., m.w.N.).
Nach diesen Maßstäben greifen die Einwendungen der Revision nicht durch: Der Arbeitnehmeranteil ist ein durch das individuelle Arbeitsverhältnis veranlasster geldwerter Vorteil. Der dienstvertragliche Vergütungsanspruch ist –entgegen der Ansicht der Kläger– grundsätzlich am Bruttolohn einschließlich des Arbeitnehmeranteils zur Gesamtsozialversicherung ausgerichtet (vgl. BAG-Beschluss in NJW 2001, 3570, unter III. 1. b, d), sofern –wie hier– keine Nettolohnvereinbarung getroffen wurde oder tarifvertraglich anderweitige Vereinbarungen maßgebend waren (vgl. Palandt/Weidenkaff, a.a.O., § 611 Rz 51; Staudinger/ Richardi, 2005, § 611 Rz 847). Entsprechend gehen auch die gegenteiligen Ausführungen der Revision im Fall einer Pfändung und zur Aufrechnung ins Leere.
Im Hinblick auf die ständige Rechtsprechung des BFH besteht auch unter Berücksichtigung des nachgereichten Schriftsatzes der Kläger vom 7. März 2007 kein Anlass für eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung (vgl. BFH-Urteil vom 23. Oktober 2003 V R 24/00, BFHE 203, 523, BStBl II 2004, 89, unter II. 1. a, aa; BFH-Beschluss vom 5. September 2005 IV B 155/03, BFH/NV 2006, 98).
3. Soweit die Kläger eine abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen begehren (sollten), bedarf es dazu im vorliegenden Steuerfestsetzungsverfahren keiner Entscheidung, zumal sie einen solchen Antrag nach § 163 AO ausdrücklich oder konkludent weder im Veranlagungs- noch im Einspruchs- noch im Klageverfahren gestellt haben.
4. Eine Aussetzung des Verfahrens und Vorlage an das Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 100 Abs. 1 GG i.V.m. § 80 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes kommt schon angesichts der fehlenden Spruchreife der Sache (s. unter 1. b) nicht in Betracht.