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Nötigung durch Nichteinhalten des erforderlichen Abstandes zum vorausfahrenden Fahrzeug

Bayerisches Oberstes Landesgericht, Az.: 2St RR 21/93, Beschluss vom 08.04.1993

I. Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 23.September 1992 mit den Feststellungen aufgehoben.

II. Die Angeklagte wird freigesprochen.

III. Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen der Angeklagten fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe

I.

Das Amtsgericht hat die Angeklagte wegen Nötigung zur Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu je 100 DM verurteilt. Es hat ihr ferner verboten, für die Dauer eines Monats Kraftfahrzeuge jeder Art im Straßenverkehr zu führen.

Die Berufung der Angeklagten hat das Landgericht als unbegründet verworfen.

Mit ihrer Revision rügt die Angeklagte die Verletzung sachlichen Rechts.

II.

Das Rechtsmittel ist begründet.

1. Nach den Feststellungen fuhr die Angeklagte am Samstag, dem 14.9.1991, mit ihrem Pkw „Mercedes 190 E“ auf der BAB 3 in Richtung N.. Zwischen 10.30 Uhr und 11.00 Uhr erreichte sie den Streckenabschnitt zwischen den Anschlußstellen H.-Ost und E.- West. Zu dieser Zeit herrschte auf beiden Fahrspuren sehr starker Verkehr.

Als sich die Angeklagte auf der linken Fahrspur mit einer Geschwindigkeit von 160 bis 180 km/h dem ebenfalls auf dieser Fahrspur mit ca. 130 km/h fahrenden Pkw „VW-Golf Diesel“ des Zeugen J. W. näherte, der von seinem Sohn M. gelenkt wurde, ermäßigte sie durch Gaswegnehmen und leichtes Abbremsen ihre Geschwindigkeit und paßte sich somit der des VW-Golf an. Sie gab weder Licht- oder Schallzeichen noch betätigte sie den linken Fahrtrichtungsanzeiger. Während sie zum VW-Golf aufschloß, verringerte sich der Abstand zu diesem Fahrzeug so stark, daß Michael W. nicht mehr das vordere Nummernschild des Mercedes erkennen konnte. Die linke Fahrspur konnte der Zeuge nicht freimachen, weil er gerade im Begriff war, einen Pkw auf der rechten Fahrspur zu überholen, der eine Geschwindigkeit von ca. 120 km/h einhielt. Dieses Fahrzeug folgte wiederum in einem Abstand von ca. 30 m einem weiteren, etwa mit gleicher Geschwindigkeit fahrenden Pkw.

Vor dem Zeugen Michael W. fuhren auf der linken Fahrspur ebenfalls mehrere Fahrzeuge; der Abstand zum unmittelbar vorausfahrenden Pkw betrug ca. 50 m.

Die Angeklagte fuhr in einem Abstand von 5 m, „der sich hin und wieder auf maximal 10 m erweiterte, hin und wieder jedoch sogar noch kürzer wurde“ während einer Fahrstrecke von mindestens 500 m hinter dem VW-Golf her, bis der Zeuge Michael W. die „erste beste Lücke in der rechten Fahrspur zum Anlaß nahm, um die Überholspur zu räumen“, wobei er sich, sein Fahrzeug abbremsend, zwischen die Fahrzeuge zwängte.

Während die Angeklagte hinter dem VW-Golf in der beschriebenen Weise herfuhr, befiel Michael W. auf Grund des Fahrverhaltens der Angeklagten ein „beklemmendes Angstgefühl“.

2. Das Landgericht hat den Tatbestand der Nötigung (§ 240 StGB) bejaht und die Auffassung vertreten, die Angeklagte habe „durch längeres, dichtes Auffahren das Überholen erzwungen und damit Gewalt auf den zu Überholenden ausgeübt“. Das Verhalten der Angeklagten sei verwerflich i.S. des § 240 Abs.2 StGB gewesen. Als erfahrene Kraftfahrerin „habe sie die äußeren Umstände ihrer riskanten Fahrweise erkannt und nach Überzeugung der Kammer mindestens billigend in Kauf genommen, mithin vorsätzlich gehandelt“.

3. Diese Ausführungen halten der rechtlichen Überprüfung nicht stand.

a) Zutreffend ist das Landgericht davon ausgegangen, daß eine bedrängende Fahrweise eine Gewaltanwendung i.S. des § 240 Abs.1 StGB darstellen kann, wenn sie geeignet ist, einen durchschnittlichen Fahrer in Furcht und Schrecken zu versetzen und damit durch die Herbeiführung eines gefährlichen Zustandes eine Zwangswirkung auszuüben (BGHSt 19, 263/266). Ob eine solche Einwirkung stattgefunden hat oder ob nur ein Verstoß gegen die Vorschrift des § 4 Abs.1 Satz 1 StVO (gebotener Abstand des Nachfolgenden) vorliegt, ist aus der Sicht eines objektiven Beobachters zu beurteilen. Maßstab ist die Intensität der Einwirkung, die nicht nur durch die Dauer der bedrängenden Fahrweise, sondern durch alle Umstände des Einzelfalles gekennzeichnet ist (vgl. BayObLGSt 1990, 1 f.; OLG Köln NZV 1992, 371 f. jeweils m.w.Nachw.).

Im Rahmen dieser Gesamtbetrachtung kann es eine Rolle spielen, ob dem Bedrängen zusätzlich durch die Abgabe von Hup- oder Lichtzeichen Nachdruck verliehen wird.

b) Genötigt wird der Vorausfahrende, wenn ihm durch das Fahrverhalten der hier festgestellten Art ein bestimmtes Verhalten aufgezwungen wird, nämlich entweder schneller zu fahren oder – wovon hier das Landgericht ausgeht – die Fahrspur zu räumen, damit der Nachfolgende überholen kann. Das abgenötigte Verhalten muß vom Willen des Täters umfaßt sein.

aa) Hierzu hat das Landgericht ausgeführt:

„Michael W. war es jedoch wegen des engen Kolonnenverkehrs auf der rechten Fahrspur und der Geschwindigkeit der dort fahrenden Fahrzeuge nicht möglich, für die Angeklagte sofort die linke Fahrspur zu räumen, was die Angeklagte durch ihr äußerst dichtes Auffahrmanöver jedoch an sich bezweckt hat. Die Angeklagte fuhr mit diesem, auch die Eltern von Michael W. äußerst ängstigenden Auffahrabstand auf einer Fahrstrecke von mindestens 500 m hinterher, wobei die Angeklagte allein durch die Auffahrart (ständiger Abstand im Durchschnitt etwa 5 m) Michael W. zur Freigabe der linken Fahrspur veranlassen wollte“ (S.6 der Urteilsgründe).

Nötigung durch Nichteinhalten des erforderlichen Abstandes zum vorausfahrenden Fahrzeug
Symbolfoto: HannaKuprevich/Bigstock

bb) Ob der Vorausfahrende durch die bedrängende Fahrweise zum Räumen der linken Fahrspur genötigt werden soll – was nur einen Sinn ergibt, wenn der Täter überholen will -, läßt sich regelmäßig nur dem Fahrverhalten des in dichtem Abstand Nachfahrenden entnehmen. Aus ihm muß bei objektiver Betrachtung der Wille hervorgehen, den Vorausfahrenden überholen zu wollen. Zwar ist die Überholabsicht kein Begriffsmerkmal des Überholens (vgl. Mühlhaus/Janiszewski StVO 13.Aufl. § 5 StVO Rn.9). Nur durch die nach außen erkennbare Überholabsicht läßt sich aber bei Fallgestaltungen der hier gegebenen Art das dichte Aufschließen zum Zwecke des Überholens vom bloßen Nachfahren unter Nichteinhalten des erforderlichen Sicherheitsabstandes (§ 4 Abs.1 Satz 1 StVO) abgrenzen (vgl. Senatsbeschluß vom 19.2.1993 – 2St RR 244/92). Vor allem in diesem Zusammenhang ist es deshalb von maßgeblicher Bedeutung, ob der Aufschließende die Lichthupe betätigt, Schallzeichen abgibt oder in anderer Weise seine Überholabsicht signalisiert. Dem bloßen Hinterherfahren in sehr dichtem Abstand während einer verhältnismäßig kurzen Zeitspanne – bei einer Geschwindigkeit von 130 km/h legte die Angeklagte die Nachfahrstrecke von rund 500 m in knapp 14 Sekunden zurück – läßt sich eine Überholabsicht nicht ohne weiteres entnehmen. Eine solche Fahrweise kann auch auf – gerade bei dichtem Autobahnverkehr häufig zu beobachtender Sorglosigkeit oder Unachtsamkeit beruhen.

Hier kommt hinzu, daß nach den Feststellungen des Landgerichts die Abstände zwischen den Fahrzeugen auf der rechten Spur so gering waren, daß bei objektiver Wertung vom Vorausfahrenden ein Ausweichen nach rechts nicht erwartet werden konnte.

Nur vereinzelt wird in der Rechtsprechung die Auffassung vertreten, eine Überholabsicht werde sich in der Regel zwanglos aus dem Fahrverhalten des Nachfolgenden ergeben, wenn dieser sich unter deutlicher Verkürzung des Sicherheitsabstandes dem Vorausfahrenden nähert (so OLG Frankfurt VRS 56, 286/288; allerdings betätigte auch in diesem Fall der nachrückende Fahrer ständig die Lichthupe). Im übrigen wird in der Rechtsprechung (vgl. die Nachweise bei Jagusch/Hentschel Straßenverkehrsrecht 31.Aufl. § 4 Rn.16 und Mühlhaus/Janiszewski aaO § 4 Rn.20) eine Nötigung nur dann angenommen, wenn dem Bedrängen zusätzlich durch Ansetzen zum Linksvorbeifahren, durch Hup- oder Lichtsignale Nachdruck verliehen wird (vgl. ferner OLG Karlsruhe VRS 42, 277; OLG Hamm VRS 27, 276; OLG Stuttgart DAR 1964, 275; OLG Köln NJW 1963, 2383 f. und aaO).

Das Landgericht hat ausdrücklich festgestellt, daß die Angeklagte weder beim Aufschließen noch beim Hinterherfahren Licht- oder Schallzeichen abgegeben hat, so daß von einer erkennbaren Überholabsicht nicht ausgegangen werden kann.

cc) Schließlich kann eine Überholabsicht auch nicht dem Umstand entnommen werden, daß der Abstand zwischen den beiden Fahrzeugen im Verlauf der festgestellten Nachfahrstrecke zwischen 5 und 10 m schwankte. Etwas anderes könnte nur in Betracht kommen, wenn sich der Nachfolgende deutlich (wiederholt) zurückfallen läßt, um dann wieder dicht aufzuschließen (vgl. OLG Celle VRS 38, 431 und OLG Karlsruhe VM 1972 Nr.43).

dd) Daß die Angeklagte den Zeugen Michael W. veranlassen wollte, schneller zu fahren, hat das Landgericht nicht festgestellt. Eine solche Absicht drängt sich auf Grund der Verkehrssituation auch nicht auf: Immerhin fuhr der Zeuge bereits 130 km/h, und der Abstand zu dem vorausfahrenden Fahrzeug betrug lediglich ca. 50 m und lag somit ebenfalls bereits unter dem einzuhaltenden Sicherheitsabstand.

III.

1. Wegen des festgestellten Mangels ist somit das angefochtene Urteil aufzuheben. Eine Zurückverweisung ist jedoch nicht geboten, weil der Senat in der Sache selbst entscheiden kann (§ 354 Abs.1 StPO).

Die bisherigen Feststellungen sind vollständig und fehlerfrei getroffen. Daß in einer neuen Verhandlung weitere Feststellungen getroffen werden könnten, ist auszuschließen.

Da das Fahrverhalten der Angeklagten nicht den sicheren Schluß rechtfertigt, sie habe den Zeugen überholen und somit durch ihr dichtes Auffahren zum Räumen der linken Fahrspur bzw. schnelleren Fahren zwingen wollen, vielmehr eine andere, naheliegende Wertung ebenfalls in Betracht kommt, scheidet eine Verurteilung aus § 240 StGB oder einem anderen Straftatbestand aus.

2. Allerdings erfüllt das Verhalten der Angeklagten den Tatbestand einer Verkehrsordnungswidrigkeit gemäß § 4 Abs.1 Satz 1 StVO i.V.m. § 49 Abs.1 Nr.4 StVO, § 24 StVG (vgl. BayObLGSt 1991, 54 f.). Die Ordnungswidrigkeit ist jedoch verjährt. Die Verfolgungsverjährung beträgt drei Monate, solange wegen der Handlung weder ein Bußgeldbescheid ergangen noch öffentliche Klage erhoben ist (§ 26 Abs.3 StVG). Die Verjährung wurde durch Anordnung der Vernehmung der Betroffenen am 14.10.1991 unterbrochen (§ 33 Abs.1 Nr.1 OWiG); durch die Vernehmung am 22.10.1991 trat keine weitere Unterbrechung ein. Da bis zur Unterzeichnung des Strafbefehls am 1.4.1992 (§ 33 Abs.1 Nr.15 OWiG) keine neue Unterbrechung stattfand, war zu diesem Zeitpunkt die Ordnungswidrigkeit verjährt.

Im Hinblick auf den Vorrang des Freispruchs war das Verfahren nicht gemäß § 260 Abs.3 StPO einzustellen, vielmehr war die Angeklagte freizusprechen (vgl. KK/Hürxthal StPO 2.Aufl. § 260 Rn.51; Kleinknecht/Meyer StPO 40.Aufl. § 260 Rn.46).

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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 467 Abs.1 StPO.

4. Der Senat entscheidet durch Beschluß gemäß § 349 Abs.4 StPO.

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