LG Berlin – Az.: 44 O 340/21 – Urteil vom 31.03.2022
In dem Rechtsstreit hat das Landgericht Berlin – Zivilkammer 44 – aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 31.03.2022 für Recht erkannt:
1. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche materiellen und immateriellen Schäden aus dem am 20. Oktober 2020 gegen 14:05 Uhr an der Kreuzung der Greifswalder Straße mit der Straße Am Friedrichshain und der Straße Prenzlauer Berg stattgefundenen Verkehrsunfall zu ersetzen, soweit diese nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.
2. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
Am 20. Oktober 2020 bestieg die Klägerin an der Haltestelle „Am Friedrichshain“ gegen 14.05 Uhr eine Straßenbahn der Linie M4 in Richtung Hackescher Markt. Die Straßenbahn fuhr an. Frau Ni wollte mit dem bei der Beklagten haftpflichtversicherten Pkw mit dem amtlichen Kennzeichen pp. von der Greifswalder Straße nach links in die Straße Am Friedrichshain abbiegen. Obwohl die Linksabbiegerampel rotes Licht abstrahlte, fuhr Frau Ni. los.
Sie fuhr in den Fahrweg der Straßenbahn. Um eine Kollision mit dem von Frau Ni geführten Pkw zu vermeiden, bremste der Zeuge pp. die Straßenbahn abrupt bis zum Still-stand ab. Die Klägerin erklärte dem Zeugen pp. an der Endhaltestelle, dass sie zum Arzt gehen werde. Noch am Nachmittag des 20. Oktober 2020 erschien die Klägerin in der Praxis des Facharztes für Orthopädie pp. Mit Schreiben vom 18. Oktober 2021 (Anlage K 6 zur Klageschrift, BI. 27 d.A.) erklärte die Beklagte, gegenüber der Klägerin nicht eintrittspflichtig zu sein.
Die Klägerin behauptet, durch die Vollbremsung habe ein anderer Fahrgast das Gleichgewicht verloren und sei gegen das rechte Knie der Klägerin gefallen. Sie habe sofort einen stechenden Schmerz im Knie erlitten und sich hinsetzen müssen. Sie habe insbesondere einen Bone Bruise im lateralen Femurcondylus und Tibiaplateau erlitten. Deshalb sei sie bis zum 04. Januar 2021 zu mindestens 50 % und anschließend für weitere acht Wochen zu 30 % erwerbsgemindert gewesen. Es bestehe die Möglichkeit, dass sich durch die Verletzungen eine Fehlbelastung des Knies einstelle, die zu einer Meniskusläsion führen könne. Dadurch könne sich die Notwendigkeit einer arthroskopischen Meniskusoperation ergeben.
Die Klägerin beantragt, festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche materiellen und immateriellen Schäden aus dem am 20. Oktober 2020 gegen 14:05 Uhr an der Kreuzung der Greifswalder Straße mit der Straße Am Friedrichshain und der Straße Prenzlauer Berg stattgefundenen Verkehrsunfall zu ersetzen, insoweit diese nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Das Gericht hat die Akte der Amtsanwaltschaft Berlin pp. beigezogen. Außer dem hat es zum Hergang des in Rede stehenden Vorfalls die Klägerin persönlich angehört und die Zeugen pp und pp. vernommen. Wegen des Ergebnisses der Parteianhörung und der Zeugenvernehmung wird auf das Protokoll vom 31. März 2022 verwiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig.
Das Feststellungsinteresse im Sinne von § 256 Abs. 1 ZPO ist gegeben.
Ein Feststellungsinteresse besteht grundsätzlich nur, wenn dem subjektiven Recht des Klägers eine gegenwärtige Gefahr der Unsicherheit dadurch droht, dass der Beklagte es ernstlich bestreitet oder er sich eines Rechts gegen den Kläger berühmt, und wenn das erstrebte Urteil infolge seiner Rechtskraft geeignet ist, diese Gefahr zu beseitigen (Zöller/Greger, ZPO, 34. Aufl., § 256 ZPO, Rn. 7 mwN). Dies ist hier der Fall. Denn die Beklagte hat mit ihrem Schreiben vom 18. Oktober 2021 ihre Einstandspflicht gegenüber der Klägerin geleugnet.
Die Feststellungsklage ist hier nicht gegenüber einer Leistungsklage subsidiär. Selbst wenn es der Klägerin möglich wäre, ihre sämtlichen vermeintlichen Ansprüche zu beziffern, würde dies das Feststellungsinteresse nicht entfallen lassen. Denn von der Beklagten als einem großen Versicherungsunternehmen kann erwartet werden, dass sie auf ein entsprechendes rechtskräftiges Feststellungsurteil hin ihren rechtlichen Schadensersatzverpflichtungen nachkommt, ohne dass es eines weiteren, auf Zahlung gerichteten Vollstreckungstitels gegen die Beklagte bedarf (vgl. BGH, Urteil vom 09. März 2004 — VI ZR 439/02 —, Rn. 6, juris; Musielak/Voit/Foerste, ZPO, 19. Aufl., § 256 Rn. 13).
Die Klage ist begründet.
Die Beklagte ist nach §§ 7 Abs. 1, 11 StVG, § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG verpflichtet, der Klägerin sämtliche materiellen und immateriellen Schäden aus dem streitgegenständlichen Vorfall zu ersetzen.
Die Klägerin wurde bei dem Betrieb des bei der Beklagten haftpflichtversicherten Kraftfahrzeugs verletzt. Dies steht unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses der Beweisaufnahme zur Überzeugung des Gerichts fest.
Die Klägerin hat im Rahmen ihrer persönlichen Anhörung detailliert, widerspruchsfrei, nachvollziehbar und glaubhaft beschrieben, wie ein Fahrgast beim Abbremsen der Straßenbahn gegen sie gefallen sei. Sie habe dadurch Schmerzen am rechten Knie erlitten. die auch bis zum Erreichen der Endhaltestelle nicht weggegangen seien. Sie seien vielmehr so stark gewesen, dass sie sich entschlossen habe, sofort einen Arzt aufzusuchen. Die Klägerin ist glaubwürdig. Sie machte auf das Gericht einen offenen und zugewandten Eindruck. Zwar hat sie ein eigenes Interesse am Ausgang des Rechtsstreits. Ihre Angaben waren jedoch frei von jeglicher Belastungstendenz. Sie schilderte das Geschehen vielmehr völlig sachlich.
Die Schilderung der Klägerin wurde durch die Aussage des Zeugen pp. bestätigt. Auch dessen Angaben sind glaubhaft. Sie decken sich mit den Angaben der Klägerin. Für den Wahrheitsgehalt der Aussage des Zeugen pp. spricht, dass dieser einräumte, nicht selbst gesehen zu haben, wie der andere Fahrgast gegen die Klägerin gestürzt sei. Für die diesbezügliche Überzeugungsbildung des Gerichts ist es ausreichend. dass der Zeuge beschrieb, wie sich der andere Fahrgast nach dem Abbremsen der Straßenbahn neben der Klägerin am Boden befunden habe.
Der Zeuge pp. bestätigte auch, dass die Klägerin aufgrund des Vorfalls Schmerzen am rechten Bein in Kniehöhe gehabt habe. Zwar hat der Zeuge pp. als Lebensgefährte der Klägerin möglicherweise ein zumindest mittelbares Interesse am Ausgang des Rechtsstreits. Das Gericht hatte aber nicht den Eindruck, dass der Zeuge sich bei seiner Aussage von einem solchen etwaigen Interesse leiten ließ. Vielmehr schilderte er das Geschehen nüchtern und auf eine neutrale Art und Weise.
Schließlich bestätigte auch der Zeuge pp. dass die Klägerin ihm sofort nach dem in Rede stehenden Bremsvorgang mitgeteilt habe, sich verletzt zu haben. An der Endhaltestelle habe sie ihm dann gesagt, dass sie doch zum Arzt gehen wolle, weil die Schmerzen nicht besser geworden seien. Die Aussage des Zeugen pp. ist glaubhaft. Es ist nicht ersichtlich, weshalb er der Klägerin die BVG-Dialogkarte (BI. 15/BA) hätte aushändigen sollen, wenn nicht wegen der von ihr mitgeteilten Schmerzen. Die Angabe der Klägerin, dass sie selbst nicht gestürzt, sondern ein anderer Fahrgast gegen sie gefallen sei, wurde durch die Aussage des Zeugen pp. nicht entkräftet. Vielmehr hat er klargestellt, einen Sturz der Klägerin nicht gesehen zu haben. Weil sie verletzt gewesen sei, habe er lediglich vermutet, dass sie gestürzt gewesen sei.
Im Übrigen ergibt sich aus dem ärztlichen Bericht des Dipl.-Med. pp. dass die Klägerin sich bei ihm am 20. Oktober 2020 mit hinkendem Gangbild und schmerzhafter Streckhemmung rechts vorstellte, wobei sie rechts auch nicht richtig auftreten konnte (Anlage K3 zur Klageschrift, BI. 21 d.A.). Aufgrund dieses Berichts ist auch davon auszugehen, dass die Klägerin durch den Unfall die dort angegebenen Verletzungen erlitten hat. Dass die in dem Bericht getroffenen medizinischen Feststellungen als solche unzutreffend seien, hat die Beklagte nicht in erheblicher Weise geltend gemacht.
Die Verletzung der Klägerin wurde bei dem Betrieb des bei der Beklagten versicherten Pkw verursacht. Das Haftungsmerkmal „bei dem Betrieb“ ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs entsprechend dem umfassenden Schutzzweck der Vorschrift weit auszulegen. Die Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG umfasst daher alle durch den Kraftfahrzeugverkehr beeinflussten Schadensabläufe. Es genügt, dass sich eine von dem Kraftfahrzeug ausgehende Gefahr ausgewirkt hat und das Schadensgeschehen in dieser Weise durch das Kraftfahrzeug mitgeprägt worden ist. Ob dies der Fall ist, muss mittels einer am Schutzzweck der Haftungsnorm orientierten wertenden Betrachtung beurteilt werden. An diesem auch im Rahmen der Gefährdungshaftung erforderlichen Zurechnungszusammenhang fehlt es, wenn die Schädigung nicht mehr eine spezifische Auswirkung derjenigen Gefahren ist, für die die Haftungsvorschrift den Verkehr schadlos halten will. Für eine Zurechnung zur Betriebsgefahr kommt es maßgeblich darauf an, dass der Unfall in einem nahen örtlichen und zeitlichen Kausalzusammenhang mit einem bestimmten Betriebsvorgang oder einer bestimmten Betriebseinrichtung des Kraftfahrzeugs steht. Allerdings hängt die Haftung gemäß § 7 StVG nicht davon ab, ob sich der Führer des im Betrieb befindlichen Kraftfahrzeugs verkehrswidrig verhalten hat, und auch nicht davon, dass es zu einer Kollision der Fahrzeuge gekommen ist. Diese weite Auslegung des Tatbestandsmerkmals „bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs“ entspricht dem weiten Schutzzweck des § 7 Abs. 1 StVG und findet darin ihre innere Rechtfertigung. Die Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG ist sozusagen der Preis dafür, dass durch die Verwendung eines Kfz – erlaubterweise – eine Gefahrenquelle eröffnet wird, und will daher alle durch den Kfz- Verkehr beeinflussten Schadensabläufe erfassen. Ein Schaden ist dem-gemäß bereits dann „bei dem Betrieb“ eines Kfz entstanden, wenn sich von einem Kfz ausge-hende Gefahren ausgewirkt haben. Allerdings reicht die bloße Anwesenheit eines im Betrieb befindlichen Kraftfahrzeugs an der Unfallstelle für eine Haftung nicht aus. Insbesondere bei einem sogenannten „Unfall ohne Berührung“ ist daher Voraussetzung für die Zurechnung des Betriebs des Kraftfahrzeugs zu einem schädigenden Ereignis, dass über seine bloße Anwesenheit an der Unfallstelle hinaus das Fahrverhalten seines Fahrers in irgendeiner Art und Weise das Fahrmanöver des Unfallgegners beeinflusst hat, mithin, dass das Kraftfahrzeug durch seine Fahrweise oder sonstige Verkehrsbeeinflussung zu der Entstehung des Schadens beigetragen hat (BGH, Urteil vom 22. November 2016 — VI ZR 533/15 —, Rn. 11 – 14, juris).
Hier ist unstreitig, dass das bei der Beklagten versicherte Fahrzeug durch seine Verkehrsbeeinflussung den Zeugen pp. zum abrupten Abbremsen der Straßenbahn veranlasste.
Der Umstand, dass die Verletzung der Klägerin durch einen stürzenden anderen Fahrgast verursacht wurde, steht der Zurechenbarkeit zum Betrieb des bei der Beklagten versicherten Fahrzeugs nicht entgegen. Dies gilt selbst dann, wenn dieser Fahrgast sich nicht ausreichend festgehalten haben sollte. Für die haftungsrechtliche Würdigung von Fallgestaltungen, in denen die Schädigung erst durch die Handlung eines Dritten eintritt, hat der Bundesgerichtshof Beurteilungsgrundsätze entwickelt. Danach kann, wenn ein Schaden zwar bei rein naturwissenschaftlicher Betrachtung mit der Handlung des Schädigers in einem kausalen Zusammenhang steht, dieser Schaden jedoch entscheidend durch ein völlig ungewöhnliches und unsachgemäßes Verhalten einer anderen Person ausgelöst worden ist, die Grenze überschritten sein, bis zu der dem Erstschädiger der Zweiteingriff und dessen Auswirkungen als haftungsausfüllender Folgeschaden seines Verhaltens zugerechnet werden können. Insoweit ist eine wertende Betrachtung geboten. Hat sich aus dieser Sicht im Zweiteingriff nicht mehr das Schadensrisiko des Ersteingriffs verwirklicht. war dieses Risiko vielmehr schon gänzlich abgeklungen und besteht deshalb zwischen beiden Eingriffen bei wertender Betrachtung nur ein „äußerlicher“. gleichsam „zufälliger“ Zusammenhang. dann kann vom Erstschädiger billigerweise nicht verlangt werden, dem Geschädigten auch für die Folgen des Zweiteingriffs einstehen zu müssen. Allein ein – auch grob fahrlässiger – Sorgfaltspflichtverstoß des hinzutretenden Dritten reicht hierfür jedoch in der Regel nicht aus (BGH, Urteil vom 26. März 2019 — VI ZR 236/18 —, Rn. 12, juris).
Hier verwirklichte sich mit dem Sturz des anderen Fahrgastes die mit dem Abbremsen der Straßenbahn typischerweise verbundene Gefahr, die wiederum durch die verkehrswidrige Fahrweise des bei der Beklagten versicherten Fahrzeugs verursacht worden war. Damit steht der Sturz des anderen Fahrgastes in einem engen inneren Zusammenhang mit dem Fahrmanöver des bei der Beklagten versicherten Fahrzeugs.
Ein Mitverschulden der Klägerin nach § 9 StVG, § 254 BGB ist nicht anzunehmen. Es wird von der insoweit darlegungs- und beweisbelasteten Beklagten nicht aufgezeigt, wie die Klägerin hätte verhindern sollen, dass ein anderer Fahrgast gegen sie fällt. Ob die Klägerin sich ausreichend festgehalten hat ist unerheblich, weil ihre Verletzung nicht dadurch verursacht wurde, dass sie selbst stürzte.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 91 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 709 S. 1 u. S. 2 ZPO.