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Operationsrisiken – mangelhafte Aufklärung – Schadensersatz

Oberlandesgericht Koblenz

Az: 5 U 47/06

Urteil vom 20.07.2006

Vorinstanz: Landgericht Mainz – Az.: 9 O 95/00


In Sachen hat der 5. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Koblenz auf die mündliche Verhandlung vom 29. Juni 2006 für R e c h t erkannt:

Die Berufungen der Beklagten gegen das am 7. Dezember 2005 verkündete Urteil der 9. Zivilkammer des Landgerichts Mainz werden auf ihre Kosten zurückgewiesen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagten können die Zwangsvollstreckung der Klägerin durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e

I. Die Klägerin ist die Witwe des D… L…, der am 23. April 1996 nach einer Operation in der Klinik G… verstarb.

Sie macht Ersatzansprüche geltend und begehrt die Feststellung der Verpflichtung zur Zahlung weiteren Unterhaltsschadens.

Die Beklagte zu 1) war die verantwortliche Anästhesistin, der Beklagte zu 2) führte die Operation durch.

Am 18. April 1996 begab sich D… L…, der bereits im Februar 1996 an der Halswirbelsäule operiert worden war, wegen Beschwerden in die Klinik in G…. Man diagnostizierte einen Bandscheibenvorfall zwischen dem 4. und 5. Halswirbel.

In dem Aufklärungs- und Anamnesebogen gab der Verstorbene eine Herzerkrankung nicht an, obwohl bereits 1995 das Anfangsstadium einer coronaren Herzerkrankung festzustellen war.

Ihm war aufgegeben worden, er solle zum Hausarzt gehen; dieser solle ein EKG und Laboruntersuchungen vornehmen. Die Ergebnisse solle er mitbringen. So geschah es.

Kurze Zeit nach der Operation verstarb D… L….

Die Klägerin hat geltend gemacht:

Die Beklagten hätten ihre Pflicht zur Aufklärung über die Operationsrisiken verletzt. Die Beklagte zu 1) habe die Beatmung im Wege der Intubation nicht fehlerfrei durchgeführt. Wegen der Koronarerkrankung habe die Narkose eine unzumutbare Gefahr dargestellt. Das Herzleiden sei von den Beklagten verkannt worden.

Die Klägerin hat beantragt,
1. die Beklagten zu verurteilen, gesamtschuldnerisch an sie 14.909,10 DM zzgl. 4% Zinsen ab Rechtshängigkeit zu zahlen;

2. die Beklagten zu verurteilen, gesamtschuldnerisch an sie eine monatliche Geldrente in Höhe von 2.000 DM, beginnend ab dem 23.2.2000 zu zahlen. Die Zahlungen haben monatlich im Voraus zu erfolgen;

3. die Beklagten zu verurteilen, gesamtschuldnerisch an sie einen Betrag von 94.000 DM zu zahlen zzgl. 4% Zinsen ab Rechtshängigkeit der Klage;

4. festzustellen, dass die Beklagten gesamtschuldnerisch verpflichtet sind, ihr jeden weiteren über die Anträge hinausgehenden Unterhaltsschaden aus dem Tod ihres Mannes am 23.4.1996 zu ersetzen.

Die Beklagten haben beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte zu 1) hat vorgebracht:

Aus dem mitgebrachten EKG seien keine Veränderungen am Herzen erkennbar gewesen. Über die Risiken der Anästhesie sei D… L… zweimal aufgeklärt worden. Der Tubus sei in Ordnung gewesen und von Beginn bis zum Ende der Narkose verblieben.

Der Beklagte zu 2) hat vorgetragen:

Seine neuroradiologischen Untersuchungen seien ausreichend gewesen. Die Einwilligung zur Operation habe vorgelegen. Ein Neurochirurg habe mit der Beurteilung eines EKG nichts zu tun.

Zur weiteren Darstellung des Sach- und Streitstandes erster Instanz wird auf die tatsächlichen Feststellungen im Urteil des Landgerichts (Bl. 629-655 GA) Bezug genommen (§ 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO).

Das Landgericht hat eine umfangreiche Beweisaufnahme durchgeführt (vgl. die Bezugnahmen Bl. 639/640 GA). Es hat der Klage zum Teil stattgegeben unter Berücksichtigung eines hälftigen Mitverschuldens des Verstorbenen.

Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt:

Eine hinreichende Aufklärung sei durch beide Beklagte erfolgt. Dies ergebe sich aus dem Aufklärungs- und Anamnesebogen sowie der Aussage des Zeugen S. Die gestellte Diagnose sei richtig und die Operation dringend notwendig gewesen.

Die Beatmung im Wege der Intubation sei nicht zu beanstanden. Die Beschwerden und das Erbrechen des D… L… hätten nicht auf eine akute Koronarerkrankung schließen lassen.

Den Beklagten sei jedoch zur Last zu legen, dass sie dem mitgebrachten EKG zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hätten.

Zum Zeitpunkt der EKG-Aufzeichnung sei ein Herzinfarkt im Gange gewesen. Nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. M müsse eine Anästhesistin die krankhaften Veränderungen anhand des EKG erkennen.

Die Haftung treffe auch den Beklagten zu 2). Er sei behandelnder Arzt gewesen. Wenn dem Patienten aufgegeben werde, bestimmte Unterlagen und Befunde mitzubringen, müsse der verantwortliche Operateur diese auch einsehen und bewerten.

Da der Verstorbene nicht auf die Koronarerkrankung hingewiesen habe, sei ein hälftiges Mitverschulden den gerechtfertigten Ansprüchen entgegenzusetzen.

Gegen die Entscheidung des Landgerichts richten sich die Berufungen der Beklagten, die eine vollständige Abweisung der Klage begehren.

Die Beklagte zu 1) bringt im Kern vor:

Mit der Heranziehung des Sachverständigen Prof Dr. M habe das Landgericht gegen den Grundsatz verstoßen, einen Sachverständigen der gleichen Fachrichtung auszuwählen. Nur das Gutachten des Anästhesisten Prof. Dr. D sei zu verwerten. Dieser sei zu dem eindeutigen Ergebnis gekommen, dass die Beklagte zu 1) bereits auf Grund ihrer Ausbildung den Infarkt auf dem EKG nicht habe erkennen können.

Der Beklagte zu 2) bringt im Kern vor:

In Folge der horizontalen Arbeitsteilung sei es nicht seine Aufgabe gewesen, sich das EKG des Verstorbenen anzusehen. Die Frage der Beurteilung des Gesundheitszustandes der zu operierenden Person obliege dem Anästhesisten und die Durchführung einer ordnungsgemäßen Operation dem Chirurgen. Dies sei unter Beweis gestellt worden durch Einholung eines Sachverständigengutachtens. Dem sei das Landgericht jedoch nicht nachgegangen.

Dem ist die Klägerin entgegengetreten.

Zur weiteren Sachdarstellung wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze und die beigezogenen Strafakten Bezug genommen.

II. Die Rechtsmittel der Beklagten sind zulässig. Sie haben in der Sache aber keinen Erfolg.

Mit dem Landgericht ist davon auszugehen, dass beide Beklagten D… L… fehlerhaft behandelt haben.

Auf die ausführliche und zutreffende Begründung im angefochtenen Urteil wird vorab Bezug genommen.

Das Berufungsvorbringen rechtfertigt keine andere Beurteilung.

1. Haftung der Beklagten zu 1)

a) Das Landgericht folgt im Ergebnis der Beurteilung durch den Sachverständigen Prof. Dr. M und verweist darauf, der Sachverständige Prof. Dr. D habe sich selbst darauf berufen, gemäß den in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Weiterbildungsrichtlinien solle der Facharzt für Anästhesie speziell in der EKG-Diagnostik eingehende Kenntnisse erwerben (vgl. Bl. 413 GA). Schon hieraus sei zu folgern, so das Landgericht (Urteil S. 17), dass auch ein Anästhesist in der Lage sein müsse, zu erkennen, dass überhaupt manifeste Abweichungen des vorliegenden EKG von einem Normalbefund vorliegen würden.

Dem folgt der Senat.

b) Gem. § 276 BGB schuldet der Arzt dem Patienten vertraglich wie deliktisch die im Verkehr erforderliche Sorgfalt. Diese bestimmt sich weitgehend nach dem medizinischen Standard des jeweiligen Fachgebiets. Der Arzt muss diejenigen Maßnahmen ergreifen, die von einem gewissenhaften und aufmerksamen Arzt aus berufsfachlicher Sicht seines Fachbereichs vorausgesetzt und erwartet werden (BGH NJW 1995, 776). Ob ein Arzt seine berufsspezifische Sorgfaltspflicht verletzt hat, ist in erster Linie eine Frage, die sich nach medizinischen Maßstäben richtet. Der Richter muss den berufsfachlichen Sorgfaltsmaßstab mit Hilfe eines medizinischen Sachverständigen ermitteln und hat eigenverantwortlich zu prüfen, ob dessen Beurteilung dem medizinischen Standard entspricht (BGH a.a.O.).

c) Den Standard Beurteilung eines EKG und Erkennen erheblicher Abweichungen in Bezug auf einen Anästhesisten stellt der Sachverständige Prof. Dr. D selbst nicht in Abrede. Die EKG-Veränderung ist laut dem Gutachter Prof.- Dr. M so markant, dass sie auch einem Nichtspezialisten in der Abweichung auffallen (vgl. Bl. 376, 462 GA).

Der Sachverständige differenziert auch hinsichtlich des Standards (Bl. 473/474 GA): Für einen Anästhesisten gelten in der Beurteilung eines EKG nicht dieselben Kriterien. Nach meiner Einschätzung sollte ein Anästhesist soweit geschult und in der EKG-Befundung kundig sein, dass er die beschriebenen EKG-Veränderungen als vom Normalbefund abweichend erkennen kann. Im Falle einer Fehlinterpretation ist demnach von einem Diagnosefehler auszugehen. Die Abweichungen des EKG sind jedoch nicht so markant, dass im Falle eines Anästhesisten von einem groben Diagnosefehler ausgegangen werden kann.

Danach kann nicht davon ausgegangen werden, der Sachverständige Prof. Dr. D habe einen anderen zu fordernden Standard zu Grunde gelegt, als der Sachverständige Prof. Dr. M, so dass im Ergebnis dessen Beurteilung zu folgen ist.

d) Der Senat folgt des Weiteren der Argumentation des Landgerichts zur Widersprüchlichkeit des Gutachtens D in den Punkten beauftragte Ärzte, präoperative Untersuchungen und Auflage, EKG mitzubringen (Urteil S. 17/18; u.a. zu Bl. 449/450 GA). Die Ausführungen des Sachverständigen zu diesen Punkten sind spekulativ.

2. Haftung des Beklagten zu 2)

a) Dieser wehrt sich gegen seine Verantwortlichkeit im wesentlichen mit dem Argument, es sei nicht Sache des Operateurs, ein EKG zur Kenntnis zu nehmen.

b) Zwar liegt eine horizontale Arbeitsteilung vor (vgl. dazu Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, 3. A., § 101, Rn. 4-6 m.w.N.). Dies spricht hier aber nicht gegen eine Haftung des Beklagten zu 2).

Von Bedeutung ist die präoperative Phase. Der Operateur entscheidet primär ob der Eingriff durchgeführt wird und ob die Voraussetzungen gegeben sind. Das hat er eigenständig zu prüfen (vgl. Opderbecke, Forensische Probleme in der Anästhesiologie, S. 13 ff.).

Hinzutritt im vorliegenden Fall, dass der Beklagte zu 2) den Verstorbenen zuvor behandelt und ihm aufgegeben hatte, ein EKG seines Hausarztes mitzubringen. Er musste dies dann auch eigenständig prüfen (und hat es wohl auch getan Bl. 65 GA) unabhängig davon, dass auch die Beklagte zu 1) sich das EKG anzusehen hatte. Er kann nicht darauf verweisen, der Operateur brauche das nicht. Auf die Bewertung der Anästhesistin durfte er sich nicht verlassen, zumal ein schwerer Eingriff bevorstand und es keinen erheblichen Aufwand erforderte, das EKG zu kontrollieren (vgl. Rumler-Detzel, VersR 1994, 254/255).

Es kann vor diesem besonderen Hintergrund dann dahinstehen, ob der Operateur grundsätzlich nicht gehalten ist, im Rahmen der Befunde EKG zu berücksichtigen (vgl. Beklagter zu 2) Bl. 678 GA).

3. Dass D… L… auch ohne die Operation an den folgen des Infarkts gestorben wäre, ist nicht bewiesen.
Angriffe zur Höhe der Forderungen sind im Berufungsverfahren nicht geführt.

4. Die Kosten- und Vollstreckbarkeitsentscheidung folgt aus §§ 97 Abs. 1, 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Für die Zulassung der Revision fehlt es an den gesetzlichen Voraussetzungen.
Der Streitwert des Berufungsverfahrens beträgt 43.969, 06 Euro.

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