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Opferentschädigung Keine nach Tod unter spielenden Vorschulkindern

Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen

Az.: L 5 VG 9/04

Urteil vom 19.07.2006

Vorinstanz: Sozialgericht Hildesheim, Az.: S 7 VG 31/00, Urteil vom 10.06.2004


Entscheidung:

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Gewährung von Elternrente und Bestattungsgeld nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).

Die Kläger sind Eltern des am 23. September 1991 geborenen und am 19. Februar 1997 verstorbenen I. J … Sie gehören zur Volksgruppe der Roma, stammen aus dem Kosovo und besitzen die serbisch-montenegrinische Staatsangehörigkeit.

Nachdem sich die Kläger bereits vom 23. Dezember 1989 bis 07. Juli 1990 und vom 28. September 1990 bis 08. März 1991 im Bundesgebiet aufgehalten hatten, leben sie seit dem 23. November 1991 durchgängig in der Bundesrepublik Deutschland. Sie betrieben im Jahr 1990 ein Asylverfahren und in den Jahren 1990/1991, 1992 bis 1995, 1997 sowie 1999 bis 2002 Asylfolgeverfahren. Bis zum 26. September 1995 verfügten die Kläger überwiegend über eine Aufenthaltsgestattung für die Bundesrepublik Deutschland. In der Folgezeit wurden sie wegen der tatsächlichen Unmöglichkeit der Abschiebung von Angehörigen der Roma in den Kosovo geduldet (vgl. zur Rechtsgrundlage für die Duldung die von der zuständigen Ausländerbehörde zur Gerichtsakte gereichten Runderlasse des Niedersächsischen Ministerium für Inneres und Sport, auch bzgl. des Beginns der Abschiebung von straffällig gewordenen Angehörigen der Roma in den Kosovo ab 2005/2006). Nach Auskunft der Ausländerbehörde ist auch in absehbarer Zeit nicht mit einer Abschiebung der Kläger in den Kosovo zu rechnen, weil die Klägerin zu 2. geltend macht, seit dem 19. Juni 2005 Mutter eines deutschen Kindes zu sein (vgl. Schreiben des Landkreises K. vom 29. November 2005).

Am 19. Februar 1997 spielte der damals 5 1/2-jährige I. mit dem damals 4 1/2-jährigen L. M. an dem Hochwasser führenden Fluss N. im Bereich einer Fußgängerbrücke. Aus im Einzelnen streitigen Umständen geriet I. in den Fluss, wo er ertrank. Als Todesursache wurde „am ehesten“ eine zentrale Lähmung infolge Ertrinkens in Betracht gezogen (vgl. rechtsmedizinischen Gutachten des Dres. O. und P. vom 28. April 1997).

Zum Geschehensablauf gaben der damals 7-jährige Q. R. und der damals 9-jährige S. T. gegenüber der Polizei zunächst an, dass L. und I. auf der Brücke gerangelt hätten. Hierbei sei I. abgerutscht und in den Fluss gefallen. Der Bruder von L., U. M., gab an, dass sein Bruder beim Nachhausekommen erzählt habe, I. in den Fluss geschubst zu haben (Polizeibericht vom 20. Februar 1997). In den polizeilichen Vernehmungen vom 20. Februar 1997 sagte Q. R. aus, dass L. sich hinter den sitzenden I. gestellt habe und diesen mit seinen Händen in den Fluss geschubst habe. S. T. gab an, kein direkter Augenzeuge gewesen zu sein. Während der 4 ½-jährige L. M. von der Polizei nicht befragt bzw. vernommen wurde, gab dessen Mutter gegenüber der Polizei an, dass L. und I. an der Brücke gespielt und sich dann auf den Steindamm gesetzt hätten. I. habe etwas aufheben wollen und sei dabei ausgerutscht. L. habe noch versucht, I. festzuhalten, was ihm aber nicht gelungen sei (Polizeilicher Telefonvermerk vom 06. März 1997).

Der Beklagte lehnte die am 9. Juni 1998 gestellten Anträge auf Bestattungsgeld und Elternrente mit der Begründung ab, dass aufgrund der sich widersprechenden Angaben der Zeugen ein vorsätzlicher Angriff auf I. nicht nachgewiesen sei. Selbst wenn L. bei dem Gerangel I. geschubst haben sollte, könne nicht nachgewiesen werden, dass der zur Tatzeit 4 1/2-jährige L. das andere Kind bewusst in den Fluss stoßen und eine Straftat habe begehen wollen. Auch in dieser Sachverhaltsvariante sei eher von einem fahrlässigen als von einem vorsätzlichen Handeln auszugehen (Bescheide vom 20. März 2000).

Im Widerspruchsverfahren machten die Kläger geltend, dass der einzige Augenzeuge, Q. R., mehrfach glaubwürdig geschildert habe, dass L. den I. in den Fluss geschubst habe. Dieses Schubsen sei bewusst erfolgt, so dass trotz des jugendlichen Alters und der fehlenden Schuldfähigkeit ein vorsätzlicher Angriff des L. vorliege. Die Widersprüche wurden mit der Begründung zurückgewiesen, dass ein vorsätzlicher Angriff nicht habe nachgewiesen werden können. Vielmehr müsse von einem tragischen Unglücksfall ausgegangen werden. Letztlich ständen sich die Aussagen zweier unmündiger Kinder gegenüber (Widerspruchsbescheide vom 31. August und 06. September 2000).

Die hiergegen beim Sozialgericht Hildesheim am 2. Oktober 2000 erhobenen Klagen auf Elternrente (S 7 VG 30/00) und auf Bestattungsgeld (S 7 VG 31/00) sind mit Beschluss vom 12. Januar 2001 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden worden. Die Kläger tragen ergänzend vor, dass ausweislich der Ermittlungsakte auch die vernehmenden Polizeibeamten keinerlei Zweifel an dem Wahrheitsgehalt der Aussage des Q. R. gehabt hätten. Lediglich V. Mutter, die bei der Tat allerdings überhaupt nicht anwesend gewesen sei, habe gegenüber der Polizei telefonisch eine abweichende Sachverhaltsschilderung gegeben. Auch wenn L. möglicherweise nicht die Tragweite seines Handelns habe überblicken können, habe er durchaus beurteilen können, dass bei dem Schubsen „etwas Schlimmes“ passieren werde. Der Beklagte hat die Auffassung vertreten, dass Ansprüche der Kläger bereits nach § 1 Abs. 5 OEG ausschieden. Bei den Klägern handele es sich um wegen einer tatsächlichen Unmöglichkeit der Abschiebung, nicht dagegen um aus humanitären Gründen geduldete Ausländer.

Das SG hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, dass mangels Vorliegens eines vorsätzlichen tätlichen Angriffs keine Ansprüche nach dem OEG beständen. Ein tätlicher Angriff erfordere ein gewaltsames Vorgehen gegen eine andere Person in feindlicher Absicht, während die Kinder I. und L. vor dem Stoß bzw. Schubs nicht gestritten, sondern ganz ruhig nebeneinander gesessen hätten. Auch habe L. nicht vorsätzlich i.S.d. Strafrechts gehandelt, weil dies als intellektuelles Moment das Wissen und Kennen der Tatumstände voraussetze. Dem Täter müsse (außer der reinen Handlung) auch die Auswirkung seiner Tat, also der beabsichtigte Erfolg bekannt sein. Es gebe jedoch keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der zum Zeitpunkt der Tat erst 4 ½ jährige L. das mögliche Ertrinken des I. vorausgesehen haben könnte. Ein Anspruch auf Elternrente scheitere zudem an dem Fehlen der weiteren Tatbestandsvoraussetzungen des § 49 Bundesversorgungsgesetz (Vollendung des fiktiven 18. Lebensjahres des Opfers; Erwerbsunfähigkeit oder Erreichen des 60. Lebensjahres der Eltern). Ob die Kläger als lediglich tatsächlich geduldete Ausländer zu dem nach dem OEG anspruchsberechtigten Personenkreis zählen (§ 1 Abs. 5 OEG), hat das SG letztlich offen gelassen (Urteil vom 10. Juni 2004).

Gegen das den Klägern am 02. August 2004 zugestellte Urteil richtet sich ihre am 13. August 2004 eingelegte Berufung. Die Kläger tragen vor, dass ein Angriff i.S.d. OEG auch dann vorliege, wenn sich der Täter spontan und ohne sichtbaren Anlass dazu entschließe, einem anderen einen Schaden zuzufügen. L. habe beabsichtigt, dass I. in den Fluss fallen sollte, und somit hinsichtlich der Körperverletzung vorsätzlich gehandelt. Selbst wenn es in seiner Vorstellung nicht zum Tod des I. habe kommen sollen, habe L. (wie jedes Kind im Kindergartenalter) gewusst, dass andere Menschen nicht in Gewässer gestoßen werden dürfen. Die Tat sei gerade nicht mit einem üblichen Schubsen/Rangeln unter Kindern vergleichbar. Vielmehr sei sich L. im Rahmen einer sog. „Parallelwertung in der Laiensphäre“ des Tatbestands einer Körperverletzung bewusst gewesen. Auch gehörten die Kläger zum anspruchsberechtigten Personenkreis nach § 1 Abs. 5 OEG, da sie sich bereits langjährig rechtmäßig in Deutschland aufhielten und eine Abschiebung nicht absehbar sei.

Die Kläger beantragen nach ihrem schriftlichen Vorbringen,

das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 10. Juni 2004 (S 7 VG 31/00), den Bescheid des Beklagten vom 20. März 2000 i.d.F. des Widerspruchsbescheides vom 6. September 2000 und den Bescheid vom 20. März 2000 i.d.F. des Widerspruchsbescheides vom 31. August 2000 aufzuheben,

den Beklagten zu verurteilen, den Klägern Bestattungsgeld und Elternrente zu gewähren.

Der Beklagte beantragt schriftlich, die Berufung zurückzuweisen.

Der Beklagte vertieft seinen Vortrag, wonach der Aufenthalt der Kläger im Bundesgebiet nicht rechtmäßig i.S.d. § 1 Abs. 5 OEG sei (vgl. im Einzelnen: Schriftsätze vom 22. April und 13. Dezember 2005). Unabhängig davon liege kein vorsätzlicher tätlicher Angriff vor, weil L. nicht in feindseliger Willensrichtung gehandelt habe. Die Fähigkeit, zu erkennen, dass man etwas Böses tue, entwickele sich in aller Regel erst in dem damaligen Alter des L … Es könne nicht unterstellt werden, dass L. dieses „Böse“ auch gewollt habe. Vielmehr erreiche das Schubsen höchstens das Ausmaß einer von spielenden Kindern vielfach gewünschten Neckerei. Das erforderliche Unrechtsbewusstsein für diese Situation habe L. jedoch nicht gehabt. Auch habe der damals 4 ½ jährige L. den weiteren Geschehensablauf nicht überblicken können.

Der erkennende Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines neuropädiatrischen/sozialpädiatrischen Gutachtens (nach Aktenlage) der Ärztin für Kinderheilkunde Dr. W. (Sozialpädiatrisches Zentrum X.) vom 25. April 2006. Während der Beklagte seinen Rechtsstandpunkt durch das Ergebnis der Beweisaufnahme bestätigt sieht, weisen die Kläger darauf hin, dass nach dem Gutachten auch ein 4 ½ jähriges Kind bereits in der Lage sei, eine Handlung bewusst und mit dem Wissen um das Ziel auszuführen. Das Gutachten mache deutlich, dass L. den I. bewusst mit Schädigungsabsicht ins Wasser gestoßen habe.

Die Beteiligten haben mit Schriftsätzen vom 06. und 20. Juni 2006 ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf die Verwaltungsakten des Beklagten sowie auf die erst- und zweitinstanzliche Gerichtsakte verwiesen. Sie waren Gegenstand der Entscheidung.

Entscheidungsgründe:

Der Senat entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig, jedoch unbegründet. Das SG hat die auf Gewährung von Bestattungsgeld und Elternrente gerichtete Klage zu Recht abgewiesen.

Ein Anspruch auf Elternrente (§ 1 Abs. 8 OEG i.V.m. § 49 BVG) wurde vom Beklagten und vom SG zu Recht abgelehnt, weil dieser Anspruch (neben dem Vorliegen u.a. einer Gewalttat im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG und einer Zugehörigkeit zu dem nach dem OEG anspruchsberechtigten Personenkreis) zusätzlich voraussetzt, dass das Opfer der Gewalttat zum Zeitpunkt des Leistungsbeginns bereits das 18. Lebensjahr vollendet hätte. Diese Tatbestandsvoraussetzung ist weder zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung noch zum Zeitpunkt der mündlichen Entscheidung vor dem erkennenden Senat erfüllt, weil I. erst im Jahre 2009 das 18. Lebensjahres vollendet hätte. Da derzeit auch nicht absehbar ist, ob die Kläger im Jahre 2009 erwerbsunfähig bzw. bedürftig sein werden, kann auch keine Verurteilung zur künftigen Gewährung von Elternrente (nämlich ab 23. September 2009) erfolgen.

Ebenso wenig besteht Anspruch auf Bestattungsgeld. Nach § 1 Abs. 1 OEG erhält derjenige wegen der gesundheitlichen oder wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), der im Geltungsbereich des OEG infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Ein schuldhaftes Handeln ist nicht erforderlich; Entschädigungsleistungen nach dem OEG sind vielmehr auch dann zu gewähren, wenn ein im strafrechtlichen Sinn schuldunfähiges, aber handlungsfähiges Kind eine Gewalttat i.S.d. OEG begeht. Zum Versorgungsanspruch zählt auch der Anspruch auf Bestattungsgeld, wenn das nicht rentenberechtigte Gewaltopfer an den Folgen der Schädigung stirbt. Anspruchsberechtigt ist derjenige, dem die Kosten der Bestattung entstanden sind (§§ 9 Nr. 4, 36 Abs. 3 BVG). Während deutsche Staatsangehörige ausnahmslos zum anspruchsberechtigten Personenkreis nach dem OEG gehören, haben Ausländer nur nach Maßgabe des § 1 Abs. 4 bis 7 Ansprüche nach dem OEG.

Der erkennende Senat lässt offen, ob sich die Familie der Kläger infolge des langjährigen und auch derzeit (d.h. mehr als 9 Jahre nach dem Tod des Ferus) noch nicht beendeten Aufenthaltes rechtmäßig i.S.d. § 1 Abs. 5 OEG im Bundesgebiet aufhält. Der Senat weist lediglich darauf hin, dass nach § 1 Abs. 5 S. 2 OEG (in der bis 31. Dezember 2004 geltenden Fassung) ein Aufenthalt im Bundesgebiet auch dann als rechtmäßig anzusehen war, wenn ein Aufenthalt aus humanitären Gründen oder aus erheblichem öffentlichen Interesse geduldet wurde. Damit war der Rechtsbegriff des rechtmäßigen Aufenthaltes i.S.d. Ausländerrechts nicht identisch mit dem des OEG (BSG, Urteil vom 18. April 2001 – B 9 VG 5/00 R, BSGE 88, 103). Ein Aufenthalt konnte vielmehr auch bereits dann rechtmäßig i.S.d. OEG sein, wenn zwar eine ausländerrechtliche Ausreispflicht bestand, diese aber nicht durchgesetzt werden konnte. Auch war nach § 1 Abs. 5 S. 2 OEG a.F. nicht erforderlich, dass eine der dort genannten Duldungen tatsächlich von der Ausländerbehörde erteilt worden ist (BSG, a.a.O.; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 6. September 2005 – L 6 VG 49/00, Breithaupt 2006, 312). Deshalb tendiert der erkennende Senat (wie auch das SG) im Hinblick auf die Unmöglichkeit, eine Abschiebung der Familie der Kläger durchzusetzen, zur Bejahung eines rechtmäßigen Aufenthaltes i.S.d. § 1 Abs. 5 S. 2 OEG in der bis 31. Dezember 2004 geltenden Fassung. Gegen diese Auslegung spricht auch nicht, dass § 1 Abs. 5 S. 2 OEG in der seit 1. Januar 2005 geltenden Fassung nunmehr ausdrücklich den Fall der Aussetzung einer Abschiebung aus tatsächlichen Gründen als rechtmäßigen Aufenthalt i.S.d. § 1 Abs. 5 S. 1 OEG bezeichnet (vgl. § 1 Abs. 5 S. 2 OEG i.d.F. des Zuwanderungsgesetzes vom 30. Juli 2004, BGBl. I, S. 1950). Schließlich sollte diese Gesetzesänderung sicherstellen, dass die Anspruchsberechtigung nach dem OEG bei Ausländern, denen durch die Ausländerbehörde eine Bescheinigung nach § 60 Abs. 11 des Entwurfes des Aufenthaltsgesetzes erteilt worden ist, nicht an einem fehlenden Aufenthaltstitel scheitert (vgl. Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum Zuwanderungsgesetz, BT-Drucksache 15/420, S. 123). Rückschlüsse auf die bis Ende Dezember 2004 geltende Rechtslage lässt diese Gesetzesänderung – entgegen dem Vortrag des Beklagten, vgl. Schriftsatz vom 13. Dezember 2005 – nicht zu.

Unabhängig von den Voraussetzungen des § 1 Abs. 5 OEG a.F. und unabhängig davon, ob die Kläger zumindest ab 1. Januar 2005 zu dem anspruchsberechtigten Personenkreis nach § 1 Abs. 5 OEG n.F. gehören (vgl. zum zeitlichen Anwendungsbereich von § 1 Abs. 5 OEG n.F.: LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 6. September 2006 – L 6 VG 49/00, Breithaupt 2006, 312), scheitert ein Anspruch auf Bestattungsgeld am Fehlen eines vorsätzlichen tätlichen Angriffs i.S.d. § 1 Abs. 1 OEG.

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Hinsichtlich des Geschehens vom 19. Februar 1997 sind drei Sachverhaltsvarianten denkbar. Da jedoch in keiner der denkbaren Sachverhaltsvarianten ein vorsätzlicher tätlicher Angriff i.S.d des § 1 Abs. 1 OEG vorliegt, sind keine weiteren Ermittlungen zum Geschehensablauf erforderlich.

(1) Sollte – wie die Mutter von L. gegenüber der Polizei telefonisch angegeben hat –I. beim Versuch, einen Gegenstand aufzuheben, ausgerutscht und in den Fluss gefallen sein, fehlt es bereits an einem eigenen Tatbeitrag des L., somit an einem Angriff i.S.d. OEG.

(2) Sollte dagegen – wie im Polizeibericht vom 20. Februar 1997 beschrieben –I. mit L. auf der Brücke gerangelt haben und hierbei abgerutscht und in den Fluss gefallen sein, wäre L. allenfalls ein Fahrlässigkeitsdelikt vorzuwerfen. Mangels eines Vorsatzdelikts würden Entschädigungsansprüche nach dem OEG nicht bestehen.

(3) Sollte Yannick den verstorbenen Sohn der Kläger entweder ohne äußeren Anlass oder aber im Rahmen einer vorangegangenen Rangelei bzw. eines Streits absichtlich in den Hochwasser führenden Fluss geschubst haben, würde es entweder bereits an einem tätlichen Angriff oder aber zumindest am Vorsatz fehlen.

(a) Soweit unterstellt wird, dass I. vollkommen unvermittelt und ohne Grund gestoßen bzw. geschubst worden ist, würde es aus entwicklungspsychologischer Sicht an einer willentlichen Handlung des L. fehlen (vgl. S. 6 des Gutachtens der Dr. W.). Bei einem Stoßen / Schubsen ohne ersichtlichen Grund ließe sich zudem eine Feindseligkeit der Handlung des L. nicht begründen. Damit läge bereits kein tätlicher Angriff i.S.d. OEG vor.

(b) Ebenso wenig würde das Schubsen / Stoßen im Rahmen eines Streits oder einer Rangelei unter Kindern einen vorsätzlichen tätlichen Angriff i.S.d. OEG darstellen.

(aa) Es ist bereits fraglich, ob es sich bei einem gezielten Schubsen / Stoßen um einen tätlichen Angriff des L. gehandelt haben würde, nämlich um eine in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper des I. gerichtete gewaltsame Einwirkung (vgl. zur Definition des Angriffs: BSG, Urteil vom 3. Februar 1999 – B 9 VG 7/97 R, SozR 3-3800 § 1 Nr. 14 m.w.N. aus der Rechtsprechung). Zwar stellt bereits allein die Krafteinwirkung der stoßende Hände auf den Körper von I. eine gewaltsame Einwirkung dar. Auch dürfte diese unmittelbare Wirkung des Schubsens dem erst 4 ½-jährige Yannick bewusst gewesen sein. Schließlich sind aus sozialpädiatrischer Sicht Kinder im Alter von ca. 4 ½ Jahren durchaus in der Lage, bei einfachen Handlungsabläufen die unmittelbaren Folgen der Handlung ungefähr vorherzusehen (vgl. S. 3 des Gutachtens der Dr. W.). Zweifelhaft ist jedoch, ob L. diese (unterstellte) Handlung in feindseliger Willensrichtung ausgeführt haben kann. Denn dies würde eine moralische Bewertung der Handlung durch den zum damaligen Zeitpunkt erst 4 ½-jährigen L. voraussetzen. Derartige Bewertungen eigener Handlungen können 4 ½-jährige Kinder in der konkreten Situation einer konfliktbelasteten Interaktion jedoch entwicklungsbedingt noch nicht vornehmen. Vielmehr handeln sie impulsiv und ohne Bewertung bzw. Selbstkontrolle (vgl. S. 5 des Gutachtens der Dr. W.). Letztlich kann der Senat die Frage, ob Yannick zumindest die Feindseligkeit eines Schubsens / Stoßens hat erkennen können, jedoch offen lassen, weil es in jedem Fall an dem erforderlichen Vorsatz fehlt.

(bb) Ein (unterstellter) tätlicher Angriff durch ein gezieltes Schubsen / Stoßen wäre nicht vorsätzlich erfolgt. Nach der Rechtsprechung des BSG genügt für einen Vorsatz i.S. von § 1 Abs. 1 OEG, dass der Täter eine körperliche Beeinträchtigung des Opfers in seinen Willen aufgenommen (natürlicher direkter Vorsatz) oder aber eine solche Beeinträchtigung zumindest für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen hat (bedingter Vorsatz). Der Täter muss im Augenblick der Tathandlung zumindest über die Möglichkeit des Erfolgseintrittes (z.B. einer Körperverletzung) im Klaren gewesen und diese in Kauf genommen haben, auch wenn er sich nicht zwingend der weiteren Folgen der unmittelbaren körperlichen Einwirkung bewusst gewesen sein muss. Zusammengefasst muss der Vorsatz sich nur auf den Angriff als solchen, also auf die unmittelbare Einwirkung auf den Körper des Opfers i.S. einer Körperverletzung, nicht aber auf den entstandenen Körperschaden gerichtet haben („natürlicher Vorsatz“, vgl. BSG, Urteil vom 3. Februar 1999 – B 9 VG 7/97 R, SozR 3-3800 § 1 Nr. 14 m.w.N. aus der Rechtsprechung). Sowohl der direkte als auch der bedingte Vorsatz beinhalten ein intellektuelles und ein voluntatives Moment, nämlich das Wissen um die Möglichkeit einer Tatbestandsverwirklichung sowie die Entscheidung für die Verwirklichung / Inkaufnahme der Tatbestandsverwirklichung (vgl. Sternberg-Lieben in: Schönke-Schröder, StGB, 27. Auflage 2006, § 15 Rn. 60).

Einem Schubsen bzw. Stoßen durch den zum Tatzeitpunkt ca. 4 ½-jährigen L. würde auch bei einem bewussten Schubsen / Stoßen im Rahmen einer Rangelei oder eines Streits im Hinblick auf Körperverletzungs- und Tötungsdelikte sowohl das intellektuelle als auch das voluntative Element des Vorsatzes fehlen.

So konnte L. – wie bereits ausgeführt – sicherlich die unmittelbaren Folgen seines Tuns voraus sehen (Krafteinwirkung auf den Körper des I., evtl. auch ein Schmerzempfinden des I. infolge der Krafteinwirkung). Diese Krafteinwirkung (Rangelei, Schubsen) stellt – für sich genommen – jedoch nur eine unter Kindern im Vorschulalter übliche Verhaltensweise dar. Derartige sozial übliche Handlungen sind von der staatlichen Entschädigungspflicht nach dem OEG ausgeschlossen (vgl. BSG, Urteil vom 3. Februar 1999 – B 9 VG 7/97 R, SozR 3-3800 § 1 Nr. 14; Urteil vom 23. Oktober 1985 – 9a RVg 9/85 -, SozR 3800 § 1 Nr. 6 – zu körperlichen Kontakten auf Volksfesten). Die straf- und entschädigungsrechtlich relevante Dimension seiner Handlung konnte L. im Februar 1997 dagegen nicht erkennen. Er konnte weder die unmittelbaren Folgen dieser Krafteinwirkung (Sturz des I.) und erst recht nicht den weiteren Geschehensablauf (Ertrinken) voraussehen. So erfordert die Fähigkeit, den Sturz des I. (als erste Folge der unmittelbaren Krafteinwirkung) voraussehen zu können, dass der Handelnde u.a. das Ausmaß der eigenen Kraftentfaltung, die Reaktionsweise des Getroffenen und dessen Standfestigkeit (ggf. unter Berücksichtigung der örtlichen Gegebenheiten wie z.B. der Beschaffenheit des Untergrundes) einschätzen kann. Einen solchen komplexen Geschehensablauf kann ein 4 ½-jähriges Kind in einer konkreten konfliktbehafteten Situation nicht vorausgesehen, weil diese Fähigkeit im Vorschulalter allenfalls in geführten Gesprächssituationen entwickelt werden kann (vgl. S. 4f. des Gutachtens der Dr. W.). Generell erfolgen konfliktbelastete Interaktionen bei Kindern im Alter von ca. 4 ½ Jahren impulsiv und ohne vorherige Überlegung der Folgen (vgl. S. 5 des Gutachtens der Dr. W.). Erst recht fehlte L. im Februar 1997 die Fähigkeit, den weiteren Geschehensablauf (Sturz in den Fluss und anschließendes Ertrinken) vorhersehen zu können. Denn die Fähigkeit zum perspektivischen Denken ist bei Kindern im Alter von 3 bis 7 Jahren noch nicht hinreichend ausgereift (vgl. S. 9 des Gutachtend der Dr. W.).

Damit fehlt – auch bei Unterstellung eines Schubsens infolge einer Rangelei oder eines Streits – bereits das intellektuelle Moment des Vorsatzes hinsichtlich des straf- und entschädigungsrechtlich relevanten Teils des Geschehens vom 19. Februar 1997 (Sturz ins Wasser).

(cc) Ebenso fehlt das voluntative Element des Vorsatzes. Ein Wollen oder auch nur Inkaufnehmen einer Tatbestandsverwirklichung setzt notwendig die Kenntnis zumindest der Möglichkeit der Tatbestandsverwirklichung voraus. Dagegen fehlte es L. zum damaligen Zeitpunkt gerade an der Fähigkeit, den Sturz als solchen oder auch den weiteren Geschehensablauf (Sturz ins Wasser mit anschließendem Ertrinken) voraussehen zu können (s.o.). Vielmehr konnte L. allenfalls die unmittelbare Wirkung seiner Handlung vorhersehen, nämlich die reine Krafteinwirkung auf I. mit der damit evtl. verbundenen Verursachung von Schmerz als direkte Folge der Stoßes. Dieses Wollen bzw. Inkaufnehmen war jedoch nicht auf eine Gewalttat i.S.d. OEG, sondern – wie bereits ausgeführt – auf eine unter Kindern im Vorschulalter sozial übliche und deshalb von der staatlichen Entschädigungspflicht nicht erfasste Rangelei / Schubserei gerichtet. Der Vorsatz i.S.d. OEG muss dagegen gerade auf Rechtsbruch gerichtet sein (BSG, Urteil vom 3. Februar 1999 – B 9 VG 7/97 R, SozR 3-3800 § 1 Nr. 14).

Darüber hinaus ist das voluntative Elementes des Vorsatzes deshalb zu verneinen, weil ein 4 ½-jähriges Kind entwicklungsbedingt nicht in der Lage ist, in einer konfliktbehafteten Situation die sich aus dem eigenen Handeln möglicherweise ergebenden Gefahren moralisch zu bewerten (d.h. in Kenntnis der Unerwünschtheit dieses Verhaltens mögliche Folgen des eigenen Handelns willentlich oder billigend in Kauf zu nehmen), vgl. S. 10f. des Gutachtens der Dr. W … Diese von der gerichtlichen Sachverständigen eingehend dargelegte entwicklungspsychologische Erkenntnis entspricht auch der Regelung im Deliktsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), wonach Kinder bis zur Vollendung des 7. Lebensjahres für einen von ihnen verursachten Schaden nicht verantwortlich sind (§ 828 Abs. 1 BGB).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG

Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtsfrage, welche Anforderungen bei einem schuldunfähigen Kind im Vorschulalter an den Vorsatz i.S.d. § 1 OEG („natürlicher Vorsatz“, vgl. BSG, SozR 3-3800 § 1 Nr. 14) zu stellen sind, zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).

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