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Pandemiebedingter Rücktritt von Auslandsreise vor Reisebeginn

AG Hannover – Az.: 548 C 7046/20 – Urteil vom 07.05.2021

1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 672 € zu zahlen.

2. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, soweit nicht der Kläger vor Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.

Mit der Klage verlangt der Kläger die Rückerstattung von Stornierungsgebühren nach pandemiebedingtem Rücktritt von einer Auslandsreise.

Der Kläger buchte im Jahr 2019 bei der Beklagten als Reiseveranstalterin eine Reise nach Mallorca für den Zeitraum vom 13. bis zum 31.05.2020. Am 14.04.2020 trat der Kläger, der an Vorerkrankungen leidet und im Zeitpunkt der Kündigung 70 Jahre alt war, von der Reise aufgrund der Corona-Pandemie zurück. Die Beklagte berief sich auf ihre Stornierungsbedingungen und zahlte dem Kläger eine Stornierungsgebühr von 672 € trotz dessen Aufforderung nicht zurück.

Zum Zeitpunkt des Rücktritts bestand eine Reisewarnung des Auswärtigen Amtes, die jedoch zunächst nur für den Monat April galt und am 29.04.2020 auf den streitgegenständlichen Urlaubszeitraum verlängert wurde. Die WHO hatte bereits zuvor den internationalen Gesundheitsnotstand am 30.01.2020 und die Ausbreitung des Corona-Virus am 11.03.2020 zur weltweiten Pandemie erklärt.

Spanien gehörte im Frühjahr 2020 zu einem der am stärksten von der Pandemie betroffenen Länder, wobei Mallorca landesintern zu den weniger stark beeinträchtigten Regionen zählte. Zum Kündigungszeitpunkt galten im Zielland zahlreiche öffentliche Einschränkungen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens, die zunächst bis zum 26.04.2020 befristet waren. Das vom Kläger gebuchte Hotel war zum Rücktrittszeitpunkt bereits pandemiebedingt geschlossen.

Der Kläger meint, dass zum Zeitpunkt des Rücktritts absehbar gewesen sei, dass die Reise wegen der Corona-Pandemie gefährdet oder nicht durchführbar sein würde.

Der Kläger beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an ihn 672 € zu zahlen.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist begründet.

Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Rückzahlung des restlichen Reisepreises von 672 € aus § 651h Abs. 5 BGB.

Der Kläger ist nach § 651h Abs. 1 S. 1 BGB vor Reisebeginn vom Vertrag zurückgetreten und hat einen Anspruch auf vollständige Rückerstattung des Reisepreises.

Eine angemessene Entschädigung im Sinne des § 651h Abs. 2 S. 2 BGB in Form der berechneten Stornierungsgebühr von 672 € steht der Beklagten nicht zu. Der Entschädigungsanspruch ist gemäß § 651h Abs. 3 S. 1 BGB ausgeschlossen, weil am Bestimmungsort begründet durch die Verbreitung des Coronavirus am geplanten Urlaubsort unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände auftraten und die Durchführung der Pauschalreise erheblich beeinträchtigt hätten.

Nach § 651h Abs. 3 BGB liegen unvermeidbare und außergewöhnliche Umstände vor, wenn sie nicht der Kontrolle der Partei unterliegen, die sich hierauf beruft, und sich ihre Folgen auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Vorkehrungen getroffen worden wären. Dieses Begriffsverständnis deckt sich mit den europäischen Vorgaben aus Art. 12 Abs. 2 Pauschalreise-Richtlinie (EU) 2015/2302 und der Definition des Art. 2 Nr. 12 Pauschalreise-Richtlinie (EU) 2015/2302.

Dabei hat der europäische Richtliniengeber mit Blick auf Erwägungsgrund 31 S. 2, 3 Pauschalreise-Richtlinie (EU) 2015/2302 ausdrücklich intendiert, dass ein entschädigungsfreier Rücktritt möglich sein soll, wenn „erhebliche Risiken für die menschliche Gesundheit“ wie der „Ausbruch einer schweren Krankheit am Reiseziel“ vorliegen.

Für die Beurteilung, ob unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände vorliegen, ist der Kenntnisstand des Reisenden bei Rücktrittserklärung maßgeblich. Notwendigerweise handelt es sich dabei um eine Prognoseentscheidung. Die tatsächliche Entwicklung der Gefahrenlage bleibt unbeachtlich (vgl. Amtsgericht Köln, Urteil vom 14.09.2020 – 133 C 213/20 = RRa 2021, 70; Amtsgericht Frankfurt, Urteil vom 11.08.2020 – 32 C 2136/20 = COVuR 2020, 538, 540: Harke, in: BeckOGK, BGB, Stand: 01.02.2021, § 651h Rn. 46; Steinrötter, in: jurisPK, BGB, Stand: 11.05.2020, § 651h Rn. 44.1; Löw, NJW 2020, 1252, 1253).

Anderenfalls wäre dem Reisenden ein Anreiz gesetzt, möglichst früh zurückzutreten und den Verlauf der Ereignisse ohne Risiko abzuwarten (so auch: Staudinger/Achilles-Pujol, in: Schmidt, Covid-19, § 7 Rn. 24), was dem in Erwägungsgrund 5 S. 2 Pauschalreise-Richtlinie (EU) beschriebenem, ausgewogenen Verhältnis zwischen einem hohen Verbraucherschutzniveau und der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen entgegenstünde.

Für die erforderliche Wahrscheinlichkeit des Gefahreintritts kann die Hurrikan-Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH, Urteil vom 15.10.2002 – X ZR 147/01 = NJW 2002, 3700, 3701), nach der die 25-prozentige Wahrscheinlichkeit einer schwerwiegenden Naturkatastrophe zur Kündigung durch den Reisenden berechtigt, als Ansatzpunkt für den vorliegenden Fall verwendet werden. Sie erging zu § 651j Abs. 1 BGB a.F. („höhere Gewalt“) und unterlag noch nicht den Veränderungen durch die Pauschalreise-Richtlinie (EU) 2015/2302, von denen sich der nationale Gesetzgeber insbesondere eine Anlehnung an das Regime aus Art. 5 Abs. 1, Art. 1 Nr. 11 Fluggastrechte-Verordnung erhoffte (BT-Drs. 18/10822, S. 76, vgl. zu dieser Unterscheidung auch Harke, in: BeckOGK, BGB, Stand: 01.02.2021, § 651h Rn. 43; Steinrötter, in: jurisPK, BGB, Stand: 11.05.2020, § 651h Rn. 15, 18). Aufgrund des extensiveren Wortlauts des § 651h Abs. 3 BGB im Vergleich zu § 651j Abs. 1 BGB a.F. sowie in Ansehung der verbraucherfreundlichen Zielsetzung der Pauschalreise-Richtlinie (vgl. nur Erwägungsgründe 1 S. 1, 3 Pauschalreise-Richtlinie (EU) 2015/2302) ist aber jedenfalls davon auszugehen, dass es für einen berechtigten Rücktritt mindestens ausreichen sollte, wenn mit einer Wahrscheinlichkeit zu 25% von reisebeeinträchtigenden Umständen ausgegangen werden kann (weitgehender Amtsgericht Köln, Urteil v. 14.09.2020 – 133 C 213/20 = RRa 2021, 70; Führich, NJW 2020, 2137, 2138; Tonner, in: MüKo, BGB; § 651h Rn. 44; ebenfalls krit. Staudinger/Achilles-Pujol, in: Schmidt, Covid-19, § 7 Rn. 24).

In jedem Fall bedarf es einer sorgsamen Abwägung unter Einbeziehung aller entscheidungserheblichen Umstände des Einzelfalls, zu denen etwa indizierende Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes, Reisehinweise, Risikogebietserklärungen des RKI, Infektionszahlen, Maßnahmen zur Eindämmung des Pandemiegeschehens, die aktuelle Auslastung des Gesundheitssystems sowie bereits bestehende Hotelschließungen zählen (vgl. allein Führich, NJW 2020, 2137, 2138 f.).

Selbst, wenn das Reisegebiet bei Rücktritt noch nicht betroffen ist und keine amtliche Reisewarnung für den Reisezeitraum vorliegt, ist ein entschädigungsfreier Rücktritt nach § 651h Abs. 3 BGB nicht ausgeschlossen, sofern eine gewisse Wahrscheinlichkeit für eine gesundheitsgefährdende Pandemieentwicklung am Zielort spricht. Subjektive Angstgefühle des Reisenden allein reichen hingegen nicht aus (so auch: Staudinger/Achilles-Pujol, in: Schmidt, Covid-19, § 7 Rn. 25 f.; Steinrötter, in: jurisPK, BGB, Stand: 11.05.2020, § 651h Rn. 44.1; ähnlich Harke, in: BeckOGK, BGB, Stand: 01.02.2021, § 651h Rn. 43: „erhebliche Wahrscheinlichkeit“).

Mit den vorstehenden Erwägungen durfte der Kläger zum Zeitpunkt des Rücktritts am 14.04.2020 davon ausgehen, dass seine Reise nach Mallorca vom 13. bis zum 31.05.2020 durch unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände erheblich beeinträchtigt sein würde.

Unschädlich ist dabei, dass die Reisewarnung des Auswärtigen Amts zum Zeitpunkt der Erklärung noch nicht auf den Reisezeitraum ausgedehnt war. Denn die zu fordernde gewisse Wahrscheinlichkeit einer gesundheitsgefährdenden Pandemieentwicklung ergab sich bereits aufgrund vieler weiterer Indizien.

Die WHO erklärte den internationalen Gesundheitsnotstand am 30.01.2020 und die Ausbreitung des Corona-Virus am 11.03.2020 zur weltweiten Pandemie. In Spanien war die Corona-Pandemie bereits am 12.03.2020 so weit fortgeschritten, dass die ersten Gemeinden unter Quarantäne gestellt wurden.

Am 13.03.2020 wurde der staatliche Alarmzustand in Spanien ausgerufen. Verbunden waren damit eine landesweite Ausgangssperre, die auch Freizeitaktivitäten im Freien sowie die Schließung öffentlich zugänglicher Einrichtungen betraf. Auch das vom Kläger gebuchte Hotel war pandemiebedingt geschlossen. Die letzte Verlängerung dieser Maßnahmen vor der Rücktrittserklärung erfolgte am 04.04.2020 bis zum 26.04.2020. Daneben waren die Infektionszahlen in Spanien bis zum Zeitpunkt des Rücktritts gemessen in Relation zur Einwohnerzahl höher als in Deutschland.

Auch, wenn sich die Corona-Lage in Spanien mit Übergang in den Mai deutlich entspannte, so war diese Entwicklung nicht zu prognostizieren. Das galt umso mehr, als im Frühjahr 2020 noch wenig Erfahrung im Umgang mit der Pandemie vorhanden und nicht sicher abzusehen war, ob und wie nachhaltig öffentliche Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie beitragen könnten. Auch befand sich die Entwicklung von Medikamenten und Impfstoffen noch in einer frühen Entwicklungsstufe.

Die vorliegenden Informationen sind gerichtsbekannt im Sinne des § 291 ZPO (vgl. nur https://de.wikipedia.org/wiki/COVID-19-Pandemie_in_Spanien; https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1101414/umfrage/fallzahl-des-coronavirus-in-deutschland-frankreich-spanien/).

Die vorstehende Prognoseentscheidung zum Zeitpunkt des Rücktritts wird weiter dadurch gestützt, dass der Kläger im streitgegenständlichen Zeitraum 70 Jahre alt war und aufgrund von unstreitigen Vorerkrankungen einem besonders hohen Risiko ausgesetzt ist, durch eine Infektion mit dem Corona-Virus erhebliche Gesundheitsschäden zu erleiden und in Lebensgefahr zu geraten.

Auch das individuelle Erkrankungsrisiko des Reisenden ist bei der Bewertung, ob unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände vorliegen, mit einzubeziehen (so auch: Führich, NJW 2020, 2137, 2139).

Eine umfassende Abwägung aller Umstände des Einzelfalls erfordert, dass insbesondere bei Gesundheitsgefahren, die im Einzelfall lebensbedrohlich sind, subjektive Vorschäden und Risikofaktoren aus objektivem Blickwinkel einzubeziehen sind. Dafür spricht im Allgemeinen die verbraucherschützende Zielrichtung des Pauschalreiserechts sowie konkret der Erwägungsgrund 31 S. 3 Pauschalreise-RL (EU) 2015/2302, der bei erheblichen Risiken für die menschliche Gesundheit nicht danach differenziert, ob das Gesundheitsrisiko allein reisebedingt ist oder sich die konkrete Gesundheitsgefahr auch mit Blick auf die Person des Reisenden erhöht. Gesundheitsrisiken stehen vielmehr naturgemäß im Verhältnis zur individuellen gesundheitlichen Verfassung und zu möglichen Vorerkrankungen des Betroffenen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

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