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Prozessvergleich: Wiedereinsetzung nach verstrichener Widerrufsfrist

LANDESARBEITSGERICHT NÜRNBERG

Az.: 6 Ta 128/04

Beschluss vom 01.08.2005

Vorinstanz: Arbeitgericht Bamberg, Az.: 4 Ca 135/04


In dem Rechtsstreit wegen: Sonstiges; hier: Wiedereinsetzung hat die 6. Kammer des Landesarbeitsgerichts Nürnberg ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:

Die sofortige Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Bamberg, Kammer Coburg, vom 08.04.2004, 4 Ca 1856/03 C, wird auf Kosten der Klägerin zurückgewiesen.

Gründe:

I.

Die Parteien streiten über die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen unverschuldeter Versäumung der Widerrufsfrist eines Prozessvergleiches.

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit der Kündigung eines Arbeitsverhältnisses. Am 19.01.2004 schlossen sie – die Klägerin war durch ihren Prozessbevollmächtigten vertreten – in der Sitzung vor dem Arbeitsgericht Bamberg, Kammer Coburg, einen Vergleich über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses einschließlich der Abwicklungsmodalitäten dieser Beendigung. Ziff. 8 dieses Vergleiches, dessen genauen Wortlautes wegen auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 19.01.2004 Bezug genommen wird (Bl. 16 f. d.A.), lautet wie folgt:

„Dieser Vergleich wird wirksam, wenn er nicht von einer der Parteien durch schriftliche Erklärung, die bis spätestens 02.02.2004 beim Arbeitsgericht Bamberg – Kammer Coburg – eingegangen sein muss, widerrufen wird.“

Die Klägerin ließ den Vergleich durch Schriftsatz vom 29.01.2004 widerrufen. Dieser Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten ist ausweislich des Eingangsstempels am 03.02.2004 beim Arbeitsgericht Bamberg, Kammer Coburg, eingegangen.

Nach entsprechendem Hinweis des Gerichts beantragt die Klägerin mit Schreiben vom 04.02.2004, beim Arbeitsgericht Bamberg, Kammer Coburg, ausweislich des Eingangsstempels eingegangen am 05.02.2004, Wiedereinsetzung in die versäumte Widerrufsfrist. Sie begründete diesen Antrag damit, der Schriftsatz mit dem Vergleichswiderruf vom 29.01.2004 habe die Kanzleiräume noch am selben Tag verlassen. Die zuverlässige Angestellte habe diesen Schriftsatz mit anderen Poststücken selbst zum Postkasten des Briefverteilungszentrums Bamberg gebracht und diese kurz nach 17.00 Uhr dort eingeworfen. Letzte Leerung sei 20.00 Uhr. Die Klägerin bzw. ihre Prozessvertreter hätten davon ausgehen können, dass der Schriftsatz am 30.01.2004, spätestens aber am 31.01.2004 beim Arbeitsgericht eingehen würde. Verzögerungen der Postzustellung dürften dem Rechtsuchenden nicht angelastet werden.

Die Beklagte hat eingewandt, Wiedereinsetzung könne nicht gewährt werden, weil es sich bei der Widerrufsfrist nicht um eine „Notfrist“ im Sinne der §§ 233 ff. ZPO handele.

Die Klägerin hat geltend gemacht, aus rechtsstaatlichen Grundsätzen dürfe ihr ein verspäteter Postlauf nicht zum Nachteil gereichen, und auf die Entscheidung des BGH in BGHZ 61, 394 sowie die Anmerkung von Vollkommer zu BAG AP § 794 ZPO Nr. 24 und von Zöller im ZPO-Kommentar verwiesen. Sie hat ausgeführt, im Verfahren 4 Ca 74/04 C sei ein Klageschriftsatz bei Gericht eingegangen und an die Gegenseite zur Kenntnisnahme übersandt worden; nunmehr sei allerdings das Original dieses Schriftsatzes nicht in der Gerichtsakte auffindbar. Es sei daher davon auszugehen, dass der Widerrufsschriftsatz in der Gerichtsorganisation liegen geblieben und zu spät abgestempelt worden sei.

Das Arbeitsgericht hat den Antrag mit Beschluss vom 08.04.2004 zurückgewiesen mit der Begründung, er sei unzulässig; die Parteien hätten die Anwendung von Notfristen nicht vereinbart. Eine gerichtliche Fehlbehandlung sei auszuschließen. Die Befragung der Mitarbeiter habe ergeben, dass das Widerrufsschreiben tatsächlich am 03.02.2004 eingegangen und abgestempelt worden sei.

Gegen die ihr am 15.04.2004 zugestellte Entscheidung hat die Klägerin mit am 28.04.2004 eingegangenem Schriftsatz selben Tages Beschwerde eingelegt mit der Begründung, die ergänzende Vertragsauslegung ergebe, dass für den abgeschlossenen Vergleich im Fall eines unverschuldeten Versäumens der Widerrufsfrist Wiedereinsetzung zu gewähren sei. Dies gebiete auch Treu und Glauben. Der Gesetzgeber selbst habe geplant, den Prozessvergleich den Vorschriften der ZPO zu unterwerfen. Es sei jedoch dabei geblieben, dass er überhaupt nicht geregelt worden sei.

Die Beklagte hat sich gegen die Wiedereinsetzung gewandt und erklärt, die Parteien hätten eine Regelung über die Wiedereinsetzung im vorliegenden Fall nicht getroffen. Das Arbeitsgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen und sie dem Landesarbeitsgericht zur Entscheidung vorgelegt.

II.

Die Beschwerde ist nicht begründet. Der Klägerin kann Wiedereinsetzung nicht gewährt werden. Der Antrag ist nicht zulässig, da die Vorschriften der §§ 233 ff. ZPO auch im arbeitsgerichtlichen Verfahren auf die Versäumung der Widerrufsfrist eines Prozessvergleiches nicht anwendbar sind.

1. Die – nach §§ 46 Abs. 2, 64 Abs. 7 ArbGG grundsätzlich auch im arbeitsgerichtlichen Verfahren geltenden – Vorschriften der §§ 233 ff. ZPO sind auf von den Parteien vereinbarte Fristen nicht anwendbar. Dies zeigt schon der klare Wortlaut des § 233 ZPO. In dieser Vorschrift findet sich eine Aufzählung von Sachverhalten, in denen nach §§ 233 ff. ZPO Wiedereinsetzung gewährt werden kann. Die von den Parteien vereinbarte Frist für die Möglichkeit, bis zu welchem Zeitpunkt ein Vergleich widerrufen werden kann, gehört nicht dazu. Es handelt sich hierbei insbesondere nicht um eine „Notfrist“ im Sinne des Gesetzes. Eine solche „Notfrist“ ist nach § 224 Abs. 1 S. 2 ZPO nur gegeben, wenn sie ausdrücklich als eine solche bezeichnet ist. Widerrufsfristen für einen Prozessvergleich sind im Gesetz nicht geregelt; es handelt sich nicht um gesetzliche Notfristen im Rechtssinne.

2. Die Wiedereinsetzungsvorschriften der §§ 233 ff. ZPO sind auch nicht entsprechend auf eine in einem Prozessvergleich vereinbarte Widerrufsfrist anwendbar. Die Kammer folgt der einhelligen Auffassung in der Rechtsprechung und der ganz überwiegenden Meinung der Literatur, die eine solche ausdehnende Anwendung dieser Vorschriften ablehnt (vgl. etwa BAG vom 10.11.1977, 2 AZR 269/77, AP Nr. 24 zu § 794 ZPO; BAG vom 29.06.1978, 2 AZR 88/78, AP Nr. 26 zu § 794 ZPO, bestätigt durch BVerfG vom 06.03.1979, AP Nr. 27 zu § 794 ZPO; BAG vom 04.08.1983, 2 AZR 50/82, zitiert nach Juris; BAG vom 24.10.1985, 2 AZR 52/84, AP Nr. 38 zu § 794 ZPO unter II.1. der Gründe; BAG vom 22.01.1998, 2 AZR 367/97, EzA § 794 ZPO Nr. 10; LAG Düsseldorf vom 24.02.2004, 8 Sa 1806/03, NZA-RR 2004, 321; LAG München vom 23.02.2005, 7 Sa 1074/04, n.v.; BGH vom 19.01.1955, IV ZR 160/54, zitiert nach Juris; BGH vom 06.12.1994, IX ZR 131/94, NJW 1995, 521; BVerwG vom 24.08.1999, 4 B 72/99, zitiert nach Juris; BSG vom 05.12.2001, B 7 AL 2/01 R, zitiert nach Juris; ebenso etwa OLG Frankfurt vom 29.06.1993, 3 UF 39/93; KG Berlin vom 14.12.2000, 20 U 3119/00, beide zitiert nach Juris; Zöller-Greger, ZPO, 25. Aufl. 2005, § 233 Rn. 7; MK-ZPO-Feiber, 2. Aufl. 2000, § 233 Rn. 15; MK-ZPO-Wolfsteiner, § 794 Rn. 62; Musielak-Stadler, ZPO, 4. Aufl. 2005, § 233 Rn. 1 und Musielak-Lackmann, ebenda, § 794 Rn. 14; Hartmann in Baumbach/Lauterbach, ZPO, 63. Aufl. 2005, Anh § 307 Rn. 10; Kummer, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, München 2003, Rn. 21; offen gelassen von LAG Nürnberg vom 26.11.1990, 7 Sa 267/90, zitiert nach Juris; a.A. Vollkommer in Anm. zu AP Nr. 24 und AP Nr. 39 zu § 794 ZPO; Roth in Stein/Jonas, ZPO, Band 3, 22. Aufl. 2005, § 233 Rn. 12 f.).

Für diese Auffassung sind im wesentlichen drei Gründe maßgeblich: Zum ersten legt § 233 ZPO im einzelnen bestimmte Fälle fest, in denen das Gesetz die Möglichkeit zur Wiedereinsetzung eröffnet; es handelt sich um eine Ausnahmebestimmung, die einer Analogie nur begrenzt zugänglich ist. Zum zweiten handelt es sich bei der Widerrufsfrist des Prozessvergleiches um eine von den Parteien vereinbarte, nicht aber um eine gesetzliche Frist. Nach der Wertung des Gesetzgebers hat dieser nur bei bestimmten gesetzlichen Fristen der materiellen Gerechtigkeit Vorrang vor der Rechtssicherheit einräumen wollen (so ausdrücklich auch BAG vom 18.11.2004, 6 AZR 651/03, NZA 2005, 516). Und zum dritten fehlt das Bedürfnis für die analoge Anwendung. Die Parteien haben es nämlich selbst in der Hand, die Anwendbarkeit der §§ 233 ff. ZPO auf die Widerrufsfrist des Vergleiches zu vereinbaren (BAG vom 18.11.2004, a.a.O.; MK-Feiber, § 233 Rn. 15, a.a.O.).

3. Gerade aus diesem letzten Grund ist auch verfassungsrechtlich eine Ausdehnung der Anwendbarkeit der §§ 233 ff. ZPO auf Prozessvergleiche nicht veranlasst. Soweit das Bundesverfassungsgericht sich mit der Rechtzeitigkeit des Widerrufes von Prozessvergleichen befasst hat, hat es gerade nicht verlangt, die Vorschriften der §§ 233 ff. ZPO auf versäumte Widerrufsschriftsätze auszudehnen (so ausdrücklich im Beschluss vom 06.03.1979, a.a.O.). Das BVerfG verlangt zwar, dass auch bei Widerrufsschriftsätzen Risiken und Unsicherheiten bei der Entgegennahme durch das Gericht nicht zu Lasten der Parteien gehen dürfen (BVerfG vom 14.05.1985, 1 BvR 370/84, NJW 1986, 244). Darum geht es aber vorliegend nicht. Das Arbeitsgericht hat festgestellt, dass der Schriftsatz nicht rechtzeitig beim Arbeitsgericht eingegangen ist. Eine durch das Gericht veranlasste oder im gerichtlichen Bereich entstandene Verzögerung ist damit nicht ersichtlich. Die Klägerin hat insoweit ihre ursprünglichen Bedenken in der Beschwerde nicht mehr wiederholt, ist den Ausführungen des Arbeitsgerichts insoweit nicht entgegengetreten. Der Streit geht nicht um einen Fehler in der Gerichtsorganisation, sondern um die Anwendbarkeit der §§ 233 ff. ZPO auf die vereinbarte Widerrufsfrist und die Gewährung von Wiedereinsetzung.

4. Soweit das BVerfG in der nicht veröffentlichten Entscheidung vom 12.08.1986 (1 BvR 539/86) darauf hingewiesen hat, der Beschwerdeführer hätte den Rechtsweg ausschöpfen müssen, weil nicht von vornherein festgestanden habe, dass dies erfolglos sei, ging es um die Einstellung der Zwangsvollstreckung, die bei greifbarer Gesetzwidrigkeit der instanzgerichtlichen Entscheidung in Betracht kam. Soweit das BVerfG insoweit auf „eine im Vordringen befindliche Mindermeinung im Schrifttum“ hingewiesen hat, die die Wiedereinsetzungsvorschriften auf den Widerruf von Prozessvergleichen für anwendbar halte, ist daraus nicht erkennbar, dass das BVerfG selbst die Anwendung dieser Auffassung aus verfassungsrechtlichen Gründen für geboten hält. Das gilt um so mehr, als die vom BVerfG als „im Vordringen“ bezeichnete Auffassung von Stein/Jonas/Schumann wie dargestellt vereinzelt geblieben ist und von den Gerichten wie von den Kommentatoren weiterhin allgemein abgelehnt wird.

5. Für eine ergänzende Auslegung des Prozessvergleiches dahingehend, dass die Parteien die Anwendbarkeit der Vorschriften der §§ 233 ff. ZPO im konkreten Fall vereinbart hätten, gibt es keine Anhaltspunkte. Die Beklagte hat bestritten, dass sie die Widerrufsklausel in diesem Sinn verstanden hätte. Aus dem Wortlaut lässt sich eine derart weitreichende Auslegung nicht entnehmen. Allein die Tatsache, dass der Widerruf gegenüber dem Gericht zu erklären war, genügt hierfür nicht. Die Tatsache, dass die Erklärung gegenüber dem Gericht zu erfolgen hat, spricht dafür, dass die Parteien eine weitestgehende Sicherheit über das Wirksamwerden des Prozessvergleiches festlegen wollten. Dem würde es widersprechen, wenn im Hinblick auf die Wiedereinsetzungsvorschriften nach § 234 Abs. 3 ZPO bis zu einem Jahr unsicher sein könnte, ob eine Prozesserledigung, aber wegen der materiellrechtlichen Wirkungen des Prozessvergleiches auch eine materielle Beendigung des zwischen den Parteien bestehenden Streits tatsächlich wirksam geworden wäre. Gerade die Tatsache, dass die Klägerin bei Vergleichsschluss durch einen Rechtsanwalt vertreten war, von dem angenommen werden kann, dass er die zitierte ständige und gefestigte Rechtsprechung sämtlicher Gerichte kennt, spricht dafür, dass die Parteien eine Auslegung ihrer Erklärungen, die dieser Rechtsprechung entgegensteht, nicht beabsichtigt haben.

6. Der Beklagten ist es nicht verwehrt, sich auf die Wirksamkeit des Vergleiches zu berufen. Irgendwelche Umstände, die ihr Verhalten als treuwidrig erscheinen ließen, sind nicht ersichtlich. Insbesondere ist nichts dafür erkennbar, dass ihr die Tatsache des Vergleichswiderrufes vor Ablauf der Widerrufsfrist bekannt gewesen wäre.

7. Nach alldem ist die nach § 567 ZPO als sofortige Beschwerde anzusehende Beschwerde gegen die Versagung der Wiedereinsetzung auf Kosten der Beschwerdeführerin (§ 238 Abs. 4 ZPO) zurückzuweisen.

8. Die Zulassung der Rechtsbeschwerde war angesichts der ständigen Rechtsprechung der obersten Bundesgerichte, denen sich das Beschwerdegericht anschließt, nicht veranlasst.

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