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Punktestand – Eintritt der Rechtskraft der Verstöße

Oberverwaltungsgericht Münster

Az: 16 B 2174/06

Beschluss vom 09.02.2007

Vorinstanz: VG Münster – Az.: 10 L 642/06


Leitsätze:

1. Für die Frage, zu welchem Zeitpunkt sich Punkte im Sinne von § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 bis 3 StVG „ergeben“ haben bzw. ein bestimmter Punktestand im Sinne von § 4 Abs. 5 StVG „erreicht“ ist, kommt es nicht auf den Tag an, an dem die jeweilige Verkehrsübertretung begangen worden ist; entscheidend ist nach der Gesetzessystematik vielmehr grundsätzlich der Eintritt der Rechtskraft der die Verkehrsverstöße ahndenden behördlichen oder gerichtlichen Entscheidungen.

2. Sinn und Zweck des Punktsystems erfordern es, dass die von der Fahrerlaubnisbehörde nach § 4 Abs. 3 StVG zu treffenden Maßnahmen den Betroffenen erreichen und er sein Verkehrsverhalten entsprechend ausrichten kann, bevor er einen Verkehrsverstoß begangen hat, mit dem er auf Grund der Punktebewertung die nächste Stufe des Maßnahmekatalogs erreicht. Um dies sicherzustellen, muss für das „Sich-Ergeben“ oder „Erreichen“ eines Punktestandes ausnahmsweise auf den Tattag abgestellt werden (wie VG Leipzig, Beschluss vom 21.11.2005 1 K 1110/05 juris).

3. Die Herabstufung gemäß § 4 Abs. 5 StVG hat ggf. wiederholt zu erfolgen, bis die Fahrerlaubnisbehörde die auf der jeweils vorhergehenden Stufe erforderlichen Maßnahmen gegenüber dem Betroffenen ergriffen hat (wie OVG Bbg., Beschluss vom 16.7.2003 4 B 145/03 , DAR 2004, 46; a. A. OVG Rh.-Pf., Beschluss vom 18.7.2003 7 B 0921/03 , DAR 2003, 576).


Der Antragsteller war auf Grund vorangegangener Verkehrsverstöße und nach rechtzeitiger Verwarnung gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG sowie der (punktereduzierenden) Teilnahme an einem Aufbauseminar nach der am 30.4.2004 rechtskräftig gewordenen Bußgeldentscheidung wegen einer am 17.5.2003 begangenen Geschwindigkeitsüberschreitung mit insgesamt 15 Punkten belastet. Daraufhin verwarnte ihn der Antragsgegner unter dem 23.6.2004 gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StVG. In der Folgezeit nahm der Antragsteller an einer verkehrspsychologischen Beratung teil und legte dem Antragsgegner rechtzeitig die hierüber am 27.7.2004 ausgestellte Teilnahmebescheinigung vor mit der Folge einer Reduzierung seines Punktestandes um 2 Punkte (§ 4 Abs. 4 Satz 2 StVG), sodass nunmehr noch 13 Punkte zu verzeichnen waren. Bereits am 2.4.2004 hatte der Antragsteller eine Geschwindigkeitsüberschreitung begangen, wobei die zugehörige Bußgeldentscheidung am 28.1.2005 rechtskräftig wurde, was zu einem weiteren Punkt führte. Obgleich nunmehr wiederum 14 Punkte erreicht waren, ergriff der Antragsgegner nicht erneut die sich aus § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StVG ergebenden Maßnahmen. Am 14.6.2004 missachtete der Antragsteller ein Überholverbot, was nach Rechtskraft der Bußgeldentscheidung am 1.6.2005 zu einem weiteren Punkt führte. Am 24.7. sowie am 5.10.2005 beging der Antragsteller erneut zwei Geschwindigkeitsübertretungen; mit Rechtskraft der zugehörigen Bußgeldentscheidungen am 14.12.2005 sowie am 9.2.2006 kamen weitere 3 Punkte bzw. 1 Punkt hinzu. Der Antragsgegner entzog die Fahrerlaubnis gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG mit Ordnungsverfügung vom 18.7.2006. Schließlich wurden am 3.8. bzw. 5.9.2006 Entscheidungen zu zwei weiteren, am 2.3.2005 bzw. 11.5.2006 begangenen Verkehrsverstößen rechtskräftig (zusammen 4 Punkte). Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des gegen den Entzug der Fahrerlaubnis erhobenen Widerspruchs hatte im Beschwerdeverfahren Erfolg.

Aus den Gründen:

Die Ordnungsverfügung vom 18.7.2006, mit der dem Antragsteller die Fahrerlaubnis entzogen worden ist, erweist sich aufgrund summarischer Überprüfung als offensichtlich rechtswidrig. Die Voraussetzungen des § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG liegen mit einem hohen Grad an Gewissheit nicht vor.

Gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG gilt der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, wenn sich in Anwendung des Punktsystems nach § 4 StVG insgesamt 18 oder mehr Punkte „ergeben“; in diesem Fall hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen. Allerdings reduziert sich der Punktestand auf 13 bzw. 17 Punkte und die Entziehung der Fahrerlaubnis hat zu unterbleiben, wenn der Fahrerlaubnisinhaber 18 Punkte erreicht oder überschreitet, ohne dass die Fahrerlaubnisbehörde die in § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 bzw. 2 StVG vorgesehenen Maßnahmen ergriffen hat (§ 4 Abs. 5 StVG). Hiervon ausgehend erweist sich die Ordnungsverfügung des Antragsgegners als offensichtlich rechtswidrig, weil der Antragsteller zu dem für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit dieser Ordnungsverfügung maßgeblichen Zeitpunkt ihrer Bekanntgabe, vgl. hierzu OVG NRW, Beschluss vom 24.5.2006 16 B 1093/05 , NWVBl. 2007, 24; ebenso OVG M. V., Beschluss vom 23.11.2006 1 M 140/06 , juris; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 17.2.2005 10 S 2875/04 , VRS 108, 454; vgl. aber auch OVG Rh.-Pf., Beschluss vom 19.7.2006 10 B 10750/06 , DÖV 2006, 834, nicht mit 18, sondern in Anwendung von § 4 Abs. 5 Satz 2 StVG erst mit 17 Punkten belastet war. Dies ergibt sich aus Folgendem:

Zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der Ordnungsverfügung des Antragsgegners hatte der Antragsteller zahlreiche Verkehrsverstöße begangen, die (selbst unter Berücksichtigung der Tilgung von Punkten wegen der Teilnahme an einem Aufbauseminar und einer verkehrspsychologischen Beratung) kumuliert mit 23 Punkten zu bewerten wären. Damit steht aber nicht fest, dass sich zum maßgeblichen Zeitpunkt im Sinne von § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG 18 oder mehr Punkte „ergeben“ haben. Denn es kommt für die Frage, zu welchem Zeitpunkt sich Punkte im Sinne von § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 bis 3 StVG „ergeben“ haben bzw. ein bestimmter Punktestand im Sinne von § 4 Abs. 5 StVG „erreicht“ ist, nicht auf den Tag an, an dem die jeweilige Verkehrsübertretung begangen worden ist; entscheidend ist vielmehr grundsätzlich der Eintritt der Rechtskraft der die Verkehrsverstöße ahndenden behördlichen oder gerichtlichen Entscheidungen.

Es kann dahingestellt bleiben, ob für diese Sichtweise bereits allein Wortlaut der genannten Vorschriften („ergeben“, „erreicht“) spricht. Vgl. hierzu z.B. einerseits VG Halle, Beschluss vom 14.5.2004 1 B 31/04 , juris, und andererseits Thür. OVG, Beschluss vom 12.3.2003 2 EO 688/02 , NJW 2003, 2770.

Denn jedenfalls aus dem systematischen Zusammenhang, in den die Vorschriften eingeordnet sind, ergibt sich das Erfordernis, auf die Rechtskraft der jeweiligen Entscheidungen abzustellen. Dass sich eine bestimmte Punktzahl „ergibt“ oder „erreicht“ wird, setzt die Bewertung der unterschiedlichsten Verkehrsverstöße mit Punkten voraus, die gemäß § 4 Abs. 2 Satz 1 StVG nach Maßgabe der Rechtsverordnung nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. s StVG erfolgt. § 4 Abs. 2 Satz 1 StVG legt darüber hinaus aber auch den Zeitpunkt dieser Bewertung fest, indem hierfür auf die „im Verkehrszentralregister nach § 28 Abs. 3 Nr. 1 bis 3 zu erfassenden Straftaten und Ordnungswidrigkeiten“ abgestellt wird. Aus dem Bezug auf die „zu erfassenden“ und nicht auf die bereits „erfassten“ Verkehrsverstöße ergibt sich zunächst, dass es für die Bewertung eines Verkehrsverstoßes mit Punkten nach dem Punktsystem nicht auf die Eintragung im Verkehrszentralregister ankommt.

Im Ergebnis ebenso, aber auf Sinn und Zweck des § 4 Abs. 5 StVG abstellend: OVG Bbg., Beschluss vom 16.7.2003 4 B 145/03 , DAR 2004, 46.

Andererseits folgt aus der Bezugnahme auf § 28 Abs. 3 Nr. 1 bis 3 StVG, wonach Daten über rechtskräftige Entscheidungen im Verkehrszentralregister gespeichert werden, dass die Bewertung nicht vor Eintritt der Rechtskraft erfolgen darf. Der Bezug des Punktsystems auf die Rechtskraft ist daher grundlegend und prägend. Vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 21.1.2003 12 ME 810/02 , NJW 2003, 1472.

Bestätigt wird dieser Befund durch die Regelung des § 4 Abs. 6 StVG. Nach dieser Vorschrift hat das Kraftfahrtbundesamt der Fahrerlaubnisbehörde bei Erreichen der betreffenden Punktestände zur Vorbreitung der Maßnahmen nach § 4 Abs. 3 StVG die vorhandenen Eintragungen aus dem Verkehrszentralregister zu übermitteln. Dem Gesetz liegt somit als Regelfall zu Grunde, dass die Rechtskraft einer Entscheidung (vgl. § 28 Abs. 3 Nr. 1 bis 3 StVG) und sogar ihre nachfolgende Eintragung der von der Fahrerlaubnisbehörde nach Maßgabe des § 4 Abs. 3 Satz 1 StVG jeweils zu veranlassenden Maßnahme vorangehen. Vgl. VG Halle, Beschluss vom 14.5.2004 1 B 31/04 , a.a.O.; VG Leipzig, Beschluss vom 21.11.2005 1 K 1110/05 , juris.

Darüber hinaus steht es in Einklang mit den Vorschriften für die Tilgung von Eintragungen im Verkehrszentralregister, bei der Ermittlung des Punktestandes nicht auf den Tattag, sondern auf die Rechtskraft der jeweiligen Entscheidung(en) abzustellen. § 29 Abs. 4 Nr. 3 StVG knüpft den Lauf der Tilgungsfristen bei gerichtlichen und verwaltungsbehördlichen Bußgeldentscheidungen sowie bei anderen Verwaltungsentscheidungen ausdrücklich an den Tag der Rechtskraft oder Unanfechtbarkeit der beschwerenden Entscheidung; bei strafgerichtlichen Verurteilungen ist der Tag des ersten Urteils bzw. der Unterzeichnung des Strafbefehls oder der Tag der Entscheidung maßgebend (§ 29 Abs. 4 Nr. 1 und 2 StVG). Für die Berechnung der Tilgungsfristen spielt der Tattag demnach keine Rolle. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus § 29 Abs. 6 Satz 2 StVG, wonach eine Ablaufhemmung eintritt, wenn eine neue Tat vor Ablauf der Tilgungsfrist begangen wird und bis zum Ablauf der einjährigen Überliegefrist (§ 29 Abs. 7 StVG) zu einer weiteren Eintragung führt. Vgl. zu dieser Bestimmung OVG NRW, Beschluss vom 27.12.2005 16 B 1430/05 , DAR 2006, 173.

Dass hier der Tattag ausdrücklich benannt wird, ist Beleg für den Ausnahmecharakter dieser Vorschrift, weil es ansonsten des ausdrücklichen Bezugs auf den vor Ablauf der Tilgungsfristen liegenden Tattat nicht bedurft hätte, der sich im Übrigen zwanglos im Hinblick auf die Überliegefrist des § 29 Abs. 7 StVG erklärt. Anderenfalls könnte es nämlich dazu kommen, dass ein innerhalb der Überliegefrist begangener und rechtskräftig geahndeter sowie mit Punkten belegter Verkehrsverstoß die Tilgung von Punkten hemmte, für die die maßgebliche Tilgungsfrist bereits abgelaufen ist. Die Überliegefrist würde in einem solchen Fall zu einer echten Verlängerung der Tilgungsfristen, was aber nicht ihre Aufgabe ist. Darüber hinaus kommt es im Rahmen des § 29 Abs. 6 Satz 2 StVG entscheidend darauf an, dass der Verkehrsverstoß innerhalb der Überliegefrist zu einer Eintragung im Verkehrszentralregister führt, was wiederum die Rechtskraft der zugrundeliegenden Entscheidung voraussetzt (vgl. § 28 Abs. 3 Nr. 1 bis 3 StVG). Vgl. hierzu auch VG Leipzig, Beschluss vom 21.11.2005 1 K 1110/05 , a.a.O.

Im Übrigen sprechen auch die in § 2a Abs. 2 Satz 1 StVG sowie § 65 Abs. 4 Satz 1 StVG enthaltenen Regelungen, die jeweils auf den Tattag abstellen, dafür, dass außerhalb ihres jeweiligen Anwendungsbereichs nicht der Tattag Anknüpfungspunkt für Maßnahmen der Fahrerlaubnisbehörde ist. § 2a Abs. 2 Satz 1 StVG betrifft die besondere Situation der befristeten Fahrerlaubnis auf Probe, während § 65 Abs. 4 Satz 1 StVG die sich aus der Neuordnung des Straßenverkehrszulassungsrechts zum 1.1.1999 ergebenden Konsequenzen für die zuvor begangenen Verkehrsverstöße thematisiert. Insbesondere der Regelung des § 2a Abs. 2 Satz 1 StVG bedürfte es nicht, wenn es auch ansonsten für die von der Fahrerlaubnisbehörde gegenüber einem Fahrerlaubnisinhaber zu treffenden Maßnahmen auf den Tattag ankäme. Vgl. OVG Schl.-H., Beschluss vom 6.12.2005 4 MB 107/05 , DAR 2006, 174, unter Bezugnahme auf VG Schl.-H., Beschluss vom 30.5.2005 3 B 86/05 , juris; VG Halle, Beschluss vom 14.5.2004 1 B 31/04 , a.a.O.; VG Leipzig, Beschluss vom 21.11.2005 1 K 1110/05 , a.a.O.; a.A. Thür. OVG, Beschluss vom 12.3.2003 2 EO 688/02 , a.a.O.

Gegenteiliges ergibt sich auch nicht aus dem bis zur Neuordnung des Fahrerlaubnisrechts zum 1.1.1999 geltenden Punktsystem, das zur Berechnung des Zeitraums, innerhalb dessen sich 18 Punkte ergeben hatten, auf den „Tag der Begehung der ersten und letzten Tat“ abstellte (§ 3 Nr. 3 und 4 VV zu § 15b StVZO).
So aber Thür. OVG, Beschluss vom 12.3.2003 2 EO 688/02 , a.a.O.

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Denn mit der Neuordnung des Fahrerlaubnisrechts wurde das bisherige Punktsystem nicht nur auf eine gesetzliche Grundlage gestellt, sondern anerkanntermaßen auch inhaltlich in erheblichem Ausmaß überarbeitet. Ob vor diesem Hintergrund der Vergleich von alter und neuer Rechtslage sogar eher für die Anwendung des Rechtskraftprinzips spricht, vgl. VG Schl.-H., Beschluss vom 30.5.2005 3 B 86/05 , a.a.O., sei dahingestellt. Jedenfalls lässt sich dem Vergleich in Anbetracht der inhaltlichen Unterschiede nichts zu Gunsten des Tattagsprinzips im Rahmen von § 4 StVG entnehmen.

Für das Rechtskraftprinzip streiten demgegenüber die hiermit erreichte Rechtssicherheit und Rechtsklarheit. Ihnen kommt zunächst aus Sicht des Betroffenen große Bedeutung zu. Erst wenn die einen Verkehrsverstoß ahndende Entscheidung rechtskräftig geworden ist, hat dieser nämlich Sicherheit, dass und welche Folgen sich aus der Tat für ihn ergeben. Zuvor kann er sein künftiges Verhalten zwar an den möglichen Konsequenzen seines vorherigen Handelns ausrichten, er muss es aber nicht, weil er im Rechtsstaat darauf hoffen darf, dass Rechtsbehelfe erfolgreich sein werden und er deshalb keine Nachteile zu gewärtigen haben werde. Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass offensichtlich aussichtslose Rechtsbehelfe allein zu dem Zweck eingelegt werden könnten, die Rechtskraft etwa nach zwischenzeitlicher Teilnahme an einer verkehrspsychologischen Beratung mit anschließendem Punkteabzug (§ 4 Abs. 4 Satz 2 StVG) eintreten zu lassen.
So aber Thür. OVG, Beschluss vom 12.3.2003 2 EO 688/02 , a.a.O.

Es trifft zwar zu, dass der Betroffene auf diese Art und Weise Einfluss auf den Eintritt der Rechtskraft und damit u.U. auch auf seinen Punktestand nehmen kann. Dies ist aber als Folge des Rechtsschutzsystems der Bundesrepublik Deutschland hinzunehmen, das einen umfassenden Rechtsschutz gegen belastende Entscheidungen zur Verfügung stellt und es prinzipiell auch nicht als unlauter ansieht, sich durch die Inanspruchnahme zugebilligter Rechte Vorteile zu verschaffen. Das belegt nicht zuletzt die schon erwähnte Regelung des § 29 Abs. 6 Satz 2 StVG: Wird die neue Tat etwa infolge eingelegter Rechtsbehelfe nicht innerhalb der Überliegefrist (§ 29 Abs. 7 StVG) rechtskräftig geahndet und führt sie deshalb nicht zu einer Eintragung innerhalb dieses Zeitraums, tritt keine Ablaufhemmung ein und bereits vorhandene Punkte werden getilgt. Das Gesetz respektiert also selbst ausdrücklich, dass der Betroffene um Rechtsschutz gegen ihn belastende Entscheidungen nachsuchen kann, und zwar auch um den Preis, dass sein Vorgehen vorwiegend taktischen Überlegungen folgt.

Im Ergebnis ebenso: Nds. OVG, Beschluss vom 21.1.2003 12 ME 810/02 , a.a.O.; OVG Schl.-H., Beschluss vom 6.12.2005 4 MB 107/05 , a.a.O., unter Bezugnahme auf VG Schl.-H., Beschluss vom 30.5.2005 3 B 86/05 , a.a.O.; VG Leipzig, Beschluss vom 21.11.2005 1 K 1110/05 , a.a.O.; VG Stuttgart, Urteil vom 23.3.2006 10 K 712/05 , DAR 2006, 469.

Allerdings ist zu konzedieren, dass auch bei Anwendung des Tattagprinzips die Fahrerlaubnisbehörde erst nach Eintritt der Rechtskraft der jeweiligen Entscheidung die betreffenden Maßnahmen ergreifen dürfen soll, wodurch rechtsstaatliche Bedenken als ausgeräumt angesehen werden. Vgl. Thür. OVG, Beschluss vom 12.3.2003 2 EO 688/02 , a.a.O.; vgl. aber auch Bay. VGH, Beschluss vom 11.8.2006 11 CS 05.2735 , juris.

Jedoch ergeben sich bei Anwendung des Tattagsprinzips auch erhebliche Unsicherheiten für die Tätigkeit der Fahrerlaubnisbehörde. Dem Punktsystem ist es immanent, dass die Behörde nicht völlig sicher sein kann, ob der von ihr (regelmäßig nach Mitteilung des Kraftfahrtbundesamtes, vgl. § 4 Abs. 6 StVG) angenommene Punktestand im Zeitpunkt der von ihr getroffenen Maßnahmen der jeweiligen Stufe des § 4 Abs. 3 StVG entspricht. Dies gilt im Prinzip unabhängig davon, ob für die Bewertung von Verkehrsverstößen mit Punkten auf den Tattag oder den Eintritt der Rechtskraft abgestellt wird. Die Unsicherheiten sind aber bei Anwendung des Tattagsprinzips erheblich größer, weil nicht einmal der Betroffene von einem Verkehrsverstoß Kenntnis haben muss. So könnten etwa im Rahmen einer Punktereduzierung nach § 4 Abs. 4 StVG erhebliche Unsicherheiten darüber auftreten, ob nach der Teilnahme an einem Aufbauseminar vier oder doch nur zwei Punkte in Abzug zu bringen sind bzw. ob nach Teilnahme an einer verkehrspsychologischen Beratung zwei Punkte abzuziehen sind oder ob dies wegen vorherigen Erreichens von 18 Punkten nicht der Fall ist.

Schließlich gebieten es auch Sinn und Zweck des Punktsystems nicht, bei der Bewertung von Verkehrsverstößen mit Punkten auf den Tattag abzustellen.
So aber Thür. OVG, Beschluss vom 12.3.2003 2 EO 688/02 , a.a.O.; Bay. VGH, Beschluss vom 11.8.2006 11 CS 05.2735 , a.a.O.; Sächs. OVG, Beschluss vom 15.8.2006 3 BS 241/05 , NJW 2007, 168.

Zu Sinn und Zweck des Punktsystems hat das beschließende Gericht in inhaltlicher Übereinstimmung mit den zuvor genannten Obergerichten im Beschluss vom 21.3.2003 19 B 337/03 , NVwZ-RR 2003, 681, Folgendes ausgeführt:

„Die genannten Regelungen sind Teil des durch das Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und anderer Gesetze vom 24.4.1998, VKBl 1998 S. 731 ff., geänderten Maßnahmenkatalogs des so genannten Punktsystems. Die neue Konzeption des Maßnahmenkatalogs zielt nach der Gesetzesbegründung stärker als der bisherige in § 3 VwV enthaltene Maßnahmenkatalog auf Angebote und Hilfestellungen zum Abbau von fahreignungsrelevanten Defiziten bei den so genannten Mehrfachtätern.
Vgl. Amtliche Begründung zum Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und anderer Gesetze vom 24.4.1998, VKBl 1998 S. 772 bis 774 und S. 793 f.

Mit der Zielrichtung, dem Mehrfachtäter stärker als bisher Angebote und Hilfestellungen zum Abbau von Defiziten zu geben, ist der geänderte Maßnahmenkatalog ein verhältnismäßiger Ausgleich dafür, dass nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG anders als nach dem bisherigen Maßnahmenkatalog des § 3 VwV bei Erreichen von 18 oder mehr Punkten generell die Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen vermutet wird. Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 25.6.2002 19 B 1545/01 -, und 2.2.2000 – 19 B 1886/99 -, NZV 2000, 219 (220 f.).

Ein solcher Punktestand rechtfertigt die gesetzliche Ungeeignetheitsvermutung nur deshalb, weil es sich nach der Wertung des Gesetzgebers um einen uneinsichtigen Mehrfachtäter handelt, der sämtliche Angebote und Hilfestellungen zum Abbau von vorhandenen Defiziten und auch die Möglichkeiten, durch freiwillige Teilnahme an einem Aufbauseminar und einer verkehrspsychologischen Beratung „Bonus-Gutschriften“ zu erhalten (§ 4 Abs. 4 StVG), nicht oder nicht hinreichend genutzt hat.

Amtliche Begründung zum Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und anderer Gesetze vom 24.4.1998, a. a. O., S. 774.

Angesichts dieser Wertung des Gesetzgebers greift die Ungeeignetheitsvermutung gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG nur dann ein, wenn der Fahrerlaubnisinhaber die Möglichkeit hatte, zumindest diejenigen Angebote und Hilfestellungen des neuen Maßnahmenkatalogs wahrzunehmen, die auf der jeweils vorhergehenden Schwelle vorgesehen sind. OVG NRW, Beschlüsse vom 25.6.2002 – 19 B 1545/01 -, und 2.2.2000 – 19 B 1886/99 -, a.a.O., 221.

Das ergibt sich auch aus dem Sinn und Zweck der Regelung in § 4 Abs. 5 StVG. Mit der in dieser Vorschrift vorgesehenen Reduzierung des Punktestandes ist für die Fälle, in denen der Fahrerlaubnisinhaber auf atypische Weise, d. h. „auf einen Schlag“, 14 oder 18 Punkte erreicht oder überschreitet, sichergestellt, dass er Gelegenheit erhält, das Bonus-System und die Möglichkeiten des Aufbauseminars und der verkehrspsychologischen Beratung zu nutzen.

Amtliche Begründung zum Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und anderer Gesetze vom 24. April 1998, a. a. O., S. 774 und 795; vgl. auch OVG NRW, Beschlüsse vom 25.6.2002 – 19 B 1545/01 -, und 2.2.2000 – 19 B 1886/99 -, a.a.O., 220 f.“

Hiervon ausgehend können gegen die Anwendung des Rechtskraftprinzips im Rahmen des Punktsystems in der Tat Einwendungen erhoben werden, die sich darin begründen, dass Fallgestaltungen denkbar sind, in denen die Warn- und Appellfunktion des Maßnahmenkatalogs nicht zum Tragen kommt. So verhält es sich etwa, wenn bei einem Punktestand von 15 Punkten ein weiterer, mit 3 Punkten belegter Verkehrsverstoß begangen wird und die Fahrerlaubnisbehörde (in Unkenntnis des neuen Verstoßes) erst danach die in § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StVG vorgesehenen Maßnahmen ergreift und schließlich die den neuerlichen Verkehrsverstoß ahndende Entscheidung rechtskräftig wird, sodass sich insgesamt 18 Punkte ergeben und die Fahrerlaubnis gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG zu entziehen ist. Entsprechende Fallkonstellationen sind auch im Verhältnis der ersten und zweiten Stufe des § 4 Abs. 3 Satz 1 StVG denkbar.

Dieser Einwand nötigt aber nicht dazu, entgegen des sich jedenfalls aus der Gesetzessystematik ergebenden Erfordernisses, auf die Rechtskraft der jeweiligen Entscheidungen abzustellen, generell den Tattag als den für das „Sich-Ergeben“ bzw. das „Erreichen“ eines bestimmten Punktestandes maßgeblichen Tag anzusehen. Vielmehr kann (und muss) dem Einwand durch eine entsprechende Auslegung von § 4 Abs. 3 und 5 StVG Rechnung getragen werden, indem im Wege einer teleologischen Reduktion in den geschilderten Fallkonstellationen ausnahmsweise das Tattagsprinzip anzuwenden ist, sodass es hier entscheidend darauf ankommt, dass die von der Fahrerlaubnisbehörde nach § 4 Abs. 3 StVG zu treffenden Maßnahmen den Betroffenen erreichen und er sein Verhalten entsprechend ausrichten kann, bevor er einen Verkehrsverstoß begangen hat, mit dem er auf Grund der Punktebewertung die nächste Stufe des Maßnahmekatalogs erreicht.
So auch VG Leipzig, Beschluss vom 21.11.2005 1 K 1110/05 , a.a.O.; a.A. Nds. OVG, Beschluss vom 21.1.2003 12 ME 810/02 , a.a.O.

Der hiergegen vorgebrachte Einwand, es erscheine wenig konsistent, das Tattagsprinzip nur in den genannten Fallkonstellationen anzuwenden, den Umkehrschluss zu Lasten des Betroffenen aber abzulehnen, so Sächs. OVG, Beschluss vom 15.8.2006 3 BS 241/05 , a.a.O., greift nicht durch. Denn durch die prinzipielle Anwendung des Rechtskraftprinzips einschließlich der ausnahmsweisen Berücksichtigung des Tattags wird sowohl der Gesetzessystematik als auch dem Sinn und Zweck des Punktsystems in größtmöglichem Umfang Rechnung getragen. Für eine (ausschließlich) am Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelungen ausgerichtete Auslegung der einschlägigen Vorschriften zu Lasten des Betroffenen ist daher kein Raum.

Kommt es somit für die Berechnung des Punktestandes grundsätzlich auf die Rechtskraft der die jeweiligen Verkehrsverstöße ahndenden Entscheidungen an, so ist im Hinblick auf die Regelungen des § 4 Abs. 3 und 5 StVG daran zu erinnern, dass die Fahrerlaubnisbehörde verpflichtet ist, die in § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 und 2 StVG vorgesehenen Maßnahmen erneut zu ergreifen, wenn sich die dort genannten Punktestände nach zwischenzeitlich erfolgter Tilgung von Punkten erneut ergeben haben. Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 21.3.2003 19 B 337/03 , a.a.O.

Dies gilt entgegen der Auffassung des VG auch, wenn der Betroffene „nur“ nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StVG zu verwarnen ist und ein Abbau von Punkten gemäß § 4 Abs. 4 StVG nicht mehr erreicht werden kann. Denn diese Verwarnung stellt die letzte vom Gesetz vorgesehene Maßnahme dar, den Betroffenen zur Beachtung der Verkehrsvorschriften anzuhalten. Sie ist zwar nicht mehr mit einem Bonus in Form der Möglichkeit eines Abbaus von Punkten verknüpft. Ihr kommt aber ebenso wie den übrigen von der Fahrerlaubnisbehörde zu ergreifenden Maßnahmen eine Warn- und Appellfunktion zu. Fehlt es an dieser Verwarnung vor Erreichen von 18 Punkten, hat deshalb gemäß § 4 Abs. 5 Satz 2 StVG eine Punktereduzierung auf 17 zu erfolgen.

Der Senat merkt an, dass die Herabstufung gemäß § 4 Abs. 5 StVG wie hier ggf. wiederholt zu erfolgen hat, bis die Fahrerlaubnisbehörde die auf der jeweils vorhergehenden Stufe erforderlichen Maßnahmen gegenüber dem Betroffenen ergriffen hat.
Ebenso OVG Bbg., Beschluss vom 16.7.2003 4 B 145/03 , a.a.O.; a.A. OVG Rh.-Pf., Beschluss vom 18.7.2003 7 B 10921/03 , DAR 2003, 576.

§ 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StVG schreibt zwingend vor, dass die dort genannten Maßnahmen bei einem Punktestand zwischen 14 und 17 zu ergreifen sind. Im Übrigen wird nur so dem Sinn und Zweck des Maßnahmekatalogs Rechnung getragen, zumal angesichts dessen, dass der Betroffene von einer Herabstufung nach § 4 Abs. 5 StVG keine Kenntnis erhalten muss, nichts dafür ersichtlich ist, dass ihr eine den Maßnahmen nach § 4 Abs. 3 StVG vergleichbare Warnfunktion zukäme.

Unter Berücksichtigung vorstehender Ausführungen ergibt sich im Falle des Antragstellers, dass er im maßgeblichen Zeitpunkt der Bekanntgabe der Ordnungsverfügung des Antragsgegners nur mit 17 Punkten belastet war. (wird ausgeführt.)

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