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Radweg – Vorfahrtsrecht des in die entgegengesetzte Richtung fahrenden Radfahrers

LG Essen – Az.: 9 O 322/15 – Teilurteil vom 30.09.2016

Die Ansprüche der Klägerin auf Ersatz ihres materiellen Schadens aus dem Verkehrsunfall vom … auf der Q-Straße/L-Straße in N sind dem Grunde nach zu 80% gerechtfertigt.

Der Anspruch der Klägerin auf Ersatz ihres immateriellen Schadens aus dem Verkehrsunfall vom … auf der Q-Straße/L-Straße in N ist in angemessener Höhe unter Berücksichtigung eines mitwirkenden Verschuldens der Klägerin in Höhe von 20% gerechtfertigt.

Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin unter Berücksichtigung eines mitwirkenden Verschuldens der Klägerin in Höhe von 20% sämtliche künftigen materiellen und immateriellen Schäden aus dem Verkehrsunfall vom … auf der Q-Straße/L-Straße in N zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Tatbestand

Die Klägerin macht Ansprüche auf Schmerzensgeld und Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall geltend.

Sie befuhr am … (nachmittags) mit ihrem Fahrrad die Q-Straße/L-Straße in N in südwestlicher Richtung. Die Q-Straße/L-Straße ist an der Unfallstelle mit dem Richtzeichen Nr. 306 (Anlage 3 zu § 41 Abs. 2 StVO: „Vorfahrtstraße“) gekennzeichnet. Die Klägerin fuhr auf der linken Straßenseite auf einem Geh-/Radweg, was bis kurz vor der Unfallstelle gestattet war. Kurz vor der aus Sicht der Klägerin linksseitigen Einmündung der Straße J auf die Q-Straße/L-Straße befindet sich das Vorschriftzeichen Nr. 240 (Anlage 2 zu § 41 Abs. 1 StVO: „gemeinsamer Geh- und Radweg„) mit einem darunter befindlichen Zusatzzeichen, das einen Pfeil nach rechts zeigt. An dieser Stelle beginnt auf der rechten Fahrbahnseite ein gemeinsamer Geh- und Radweg. Die Klägerin fuhr über den Standort dieses Verkehrsschildes hinaus geradeaus auf dem dort – für die entgegengesetzte Richtung vorgeschriebenen – gemeinsamen Geh- und Radweg weiter, weil sie beabsichtigte, die Straßeneinmündung J zu überqueren und sodann nach links der Straße J zu folgen.

Der Beklagte zu 1) befuhr mit seinem bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten Fahrzeug die Straße J und beabsichtigte nach rechts auf die Q-Straße abzubiegen. Die Straße J ist an dieser Stelle mit dem Vorschriftzeichen Nr. 206 (Anlage 2 zu § 41 Abs. 1 StVO: „Halt. Vorfahrt gewähren.“ [Stoppschild]) gekennzeichnet.

Es kam zu einem Zusammenstoß, der sich – soweit unstreitig – wie folgt ereignete. Der Beklagte zu 1) hielt an der mit dem Stoppschild versehenen, noch vor dem gemeinsamen Geh- und Radweg befindlichen Haltelinie an. Auch die Klägerin fuhr langsam auf die Einmündung zu und hielt möglicherweise noch vor der Straße an. Beide Unfallbeteiligten fuhren jedoch gleichzeitig los bzw. weiter und die Klägerin wurde von dem vorderen Teil des Kraftfahrzeugs getroffen und fiel zunächst auf die Motorhaube. Im weiteren Verlauf prallte sie mit dem Kopf auf der Straße auf.

Die Klägerin wurde ganz erheblich verletzt und erlitt ein schweres Schädel-Hirn-Trauma, einen Schädel-Basis-Bruch sowie eine Kniefraktur. Es bestand akute Lebensgefahr und die Klägerin wurde mit dem Notarztwagen zunächst in das N1-Hospital nach N transportiert und sodann per Rettungswagen ins L1-Krankenhaus nach S verbracht. Sie lag mehrere Tage auf der Intensivstation und wurde anschließend umfangreich wegen der körperlichen Verletzungen und psychologisch behandelt.

Der Klägerin entstand ein materieller Schaden in Form von beschädigten Sachen sowie Behandlungs- und Fahrtkosten in Gesamthöhe von 6.916,51 EUR. Ihr entstand darüber hinaus bis zum 31.12.2015 ein Haushaltsführungsschaden von mindestens 12.500,00 EUR. Wegen der Einzelheiten des unstreitigen Teils des Haushaltsführungsschadens wird auf die gewechselten Schriftsätze verwiesen.

Die Beklagte zu 2) zahlte einen Schmerzensgeldbetrag in Höhe von 40.000,00 EUR und ersetzte den der Klägerin entstandenen materiellen Schaden zu 40%. Sie zahlte darüber hinaus einen Betrag von 5.000,00 EUR (40% von 12.500,00 EUR) wegen des der Klägerin entstandenen Haushaltsführungsschadens.

Die Klägerin behauptet, der Beklagte zu 1) habe nicht innerhalb der üblichen Reaktionszeit gebremst, sondern sei noch fünf Meter weitergefahren, wobei er sie mitgeschleift habe.

Sie habe durch den Unfall über die unstreitig gestellten körperlichen Verletzungen hinaus weitere körperliche und psychische Beeinträchtigungen erheblicher Art erlitten, insbesondere ein massives Schleudertrauma, eine posttraumatische Belastungsstörung, eine hirnorganische Wesensänderung, ein hirnorganisches Psychosyndrom, Geruchs- und Geschmacksverlust. Sie leide an einer depressiven Symptomatik mit Zwangsstörung und Zwangsgedanken, die auf den Unfall zurückzuführen sei. Wegen all dieser Verletzungen und Verletzungsfolgen seien intensive und langdauernde Behandlungen erfolgt. Wegen der weiteren Einzelheiten des Klägervortrags wird auf den Inhalt der klägerischen Schriftsätze verwiesen.

Ihr sei ein Haushaltsführungsschaden bis zum 31.12.2015 in Höhe von insgesamt 16.296,00 EUR entstanden. Für die Zeit ab dem 01.01.2016 bis zu ihrem Lebensende sei von einer Beeinträchtigung der Haushaltsführung in Höhe von 20% auszugehen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Klägervortrags wird auf den Inhalt der klägerischen Schriftsätze verwiesen.

Sie ist der Ansicht, die Beklagten müssten zu 100% auf die Unfallfolgen haften. Es sei ein Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 150.000,00 EUR gerechtfertigt.

Sie beantragt nach einer Teil-Klagerücknahme, die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie ein angemessenes, in das Ermessen des Gerichts zu stellendes Schmerzensgeld nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 28.01.2016 abzüglich erhaltener 40.000,00 EUR zu zahlen, die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie eine monatliche Schmerzensgeldrente in Höhe von 300,00 EUR rückwirkend ab dem 08.11.2013 vierteljährlich im Voraus jeweils zum 1.2., 1.5., 1.8. und 1.11. eines jeden Jahres zu zahlen, die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie 16.014,98 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 28.01.2016 zu zahlen, die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie ab Januar 2016 bis zu ihrem Lebensende als Haushaltsführungsschadensersatz eine Rente in Höhe von monatlich 252,00 EUR vierteljährlich im Voraus zu zahlen, festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihr sämtliche künftigen materiellen und immateriellen Schäden aus dem Verkehrsunfall vom … auf der Q-Straße/L-Straße in N zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.

Die Beklagten beantragen, die Klage abzuweisen.

Sie bestreiten die nicht unstreitig gestellten Primärverletzungen sowie die tatsächlichen Grundlagen des Haushaltsführungsschadens mit Nichtwissen.

Sie sind der Ansicht, sie müssten auf die Unfallfolgen lediglich zu 20% haften. Die darüber hinaus gehende Regulierung auf einer Basis von 40% sei aus Kulanz erfolgt. Die (angeblich) erlittenen Verletzungen und Verletzungsfolgen würden ein Schmerzensgeld in Höhe von maximal 100.000,00 EUR rechtfertigen, wobei eine Regulierung unter Berücksichtigung eines 40%igen Mitverschuldensanteils der Beklagtenseite erfolgt sei.

Die Kammer hat Beweis erhoben durch uneidliche Vernehmung der Zeugin N2. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll vom 02.09.2016 verwiesen.

Entscheidungsgründe

I.

Die zulässigen Leistungsanträge sind dem Grunde nach gerechtfertigt, wobei ein Mitverschulden der Klägerin in Höhe von 20% zu berücksichtigen ist.

1. Die Kammer kann durch Grundurteil gemäß § 304 Abs. 1 ZPO entscheiden, weil die geltend gemachten Ansprüche nach Grund und Betrag streitig sind.

Dem Grunde nach sind die Ansprüche insoweit streitig, als Einzelheiten des Verkehrsunfallgeschehens streitig sind; zudem besteht Streit hinsichtlich der Haftungsanteile. Dem Betrag nach sind die Ansprüche streitig, weil die Verletzungen und Verletzungsfolgen, die Einfluss auf die Schmerzensgeldhöhe haben, im Einzelnen streitig sind. Zudem ist die Höhe des gegebenenfalls zu beanspruchenden Schmerzensgelds streitig; Gleiches gilt für die Voraussetzungen und die Höhe des Haushaltsführungsschadens.

Radweg - Vorfahrtsrecht des in die entgegengesetzte Richtung fahrenden Radfahrers
(Symbolfoto: Jacek Chabraszewski/Shutterstock.com)

Die Klage ist bereits jetzt zum Grunde entscheidungsreif; wegen der Höhe ist eine weitere Beweisaufnahme erforderlich; da der Klägerin Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche zu 80% zustehen, eine Regulierung bislang aber nur in Höhe von 40% stattgefunden hat, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die geltend gemachten Ansprüche im Betragsverfahren in irgendeiner Höhe auszuurteilen sind.

Die Kammer entscheidet auch hinsichtlich der auf Rentenzahlungen gerichteten Klageanträge ausschließlich über den Grund der Haftung. Ob, ab wann, für wie lange und in welcher Höhe Rentenzahlungen oder nur eine Kapitalabfindung zu erfolgen hat, ist im Betragsverfahren zu entscheiden (vgl. BGH, NJW 1972, 1943 [1945 f.]).

2. Die Klage ist dem Grunde nach zu 80% gerechtfertigt, denn der Klägerin stehen Ansprüche auf Schadensersatz und Schmerzensgeld gemäß §§ 7 Abs. 1, 11 StVG (ggf. i.V.m. § 13 StVG) bzw. gemäß §§ 823 Abs. 1 und 2, 249 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB, § 229 StGB (ggf. i.V.m. § 843 BGB), jeweils i.V.m. § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG, § 1 PflVG, zu, wobei gemäß § 9 StVG bzw. § 254 Abs. 1 BGB ein Mitverschulden der Klägerin zu 20% zu berücksichtigen ist.

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Der Beklagte zu 1) hat mit seinem bei der Beklagten zu 2) versicherten Fahrzeug die Klägerin verletzt, was einer Verletzung beim Betrieb eines Kraftfahrzeugs entspricht und wobei der Beklagte zu 1) zudem fahrlässig gehandelt hat (§ 7 Abs. 1 StVG, § 823 Abs. 1, 2 BGB, § 229 StGB); höhere Gewalt im Sinne von § 7 Abs. 2 StVG lag nicht vor.

Der näheren Erörterung bedarf allein die Frage, in welchem Umfang die Beklagten der Klägerin haften (§ 9 StVG, § 254 Abs. 1 BGB). Insoweit hat eine Abwägung der wechselseitigen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge der Unfallbeteiligten stattzufinden.

Aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme ist zunächst über den bereits unstreitigen Verlauf des Verkehrsunfalls hinaus festzustellen, dass der Beklagte zu 1) im Moment des Zusammenstoßes jedenfalls nicht innerhalb der üblichen, sondern erst nach einer ungewöhnlich langen Reaktionszeit gebremst hat und die Klägerin nicht bloß auf ihrem Fahrrad umgefahren, sondern sie und das Fahrrad noch einige Meter weit geschoben hat, wobei sich das Fahrrad unter dem Fahrzeug verkeilt hat und die Klägerin zunächst auf die Motorhaube gestürzt und anschließend mit voller Wucht mit dem Kopf auf der Straße aufgeschlagen und mitgeschleift worden ist. Diese Feststellungen trifft die Kammer aufgrund der Vernehmung der Zeugin N2, die das glaubhaft und überzeugend geschildert hat. Die Aussage der Zeugin, deren Angaben lebensnah und detailreich waren, deckt sich in einem solchen Maß mit den im Rahmen des polizeilichen Ermittlungsverfahrens gegen den Beklagten gemachten schriftlichen Angaben der Zeugin, dass die Kammer von einer wahrheitsgemäßen Schilderung des Geschehens ausgeht. Soweit die Zeugin im Rahmen der schriftlichen, polizeilichen Vernehmung eine verhältnismäßig exakte Streckenangabe („3-5 Meter“) gemacht hat, die sie in der mündlichen Verhandlung so nicht aus ihrer Erinnerung heraus bestätigen konnte, ist das für die Kammer ersichtlich auf den zwischenzeitlichen Zeitablauf von fast drei Jahren zurückzuführen. Gleichwohl ist die Kammer aufgrund der Aussage der Zeugin überzeugt, dass der Beklagte zu 1) die Klägerin über eine für einen derartigen Zusammenstoß ungewöhnlich lange Strecke vor sich hergeschoben bzw. geschleift hat, was angesichts des Umstands, dass er – unstreitig – just im Moment des Zusammenstoßes aus dem Stand heraus losgefahren war, nur mit einer – möglicherweise altersbedingten – ungewöhnlich späten Reaktion bzw. ungewöhnlich großer Unaufmerksamkeit des zum Unfallzeitpunkt 77jährigen Beklagten zu 1) zu erklären ist. Die Zeugin hat nämlich ausdrücklich erklärt, dass der Autofahrer die Klägerin „ein Stück mitgeschliffen“ und „schon ein Stück weiter gefahren“ sei. Die Angaben der Zeugin, die zwar ersichtlich noch von dem ganz erheblichen Unfallgeschehen, das sie auf einem Spaziergang mit ihrem Säugling erleben musste, beeindruckt war, waren dabei allerdings in einer Weise sachlich und reflektiert, dass die Kammer auch eine unbewusste Übertreibung ausschließen kann.

Soweit der Beklagtenvertreter nach der Beweisaufnahme erklärt hat, dass die Beklagten es sich zu eigen machen, dass die Zeugin gesagt habe, dass „die Radfahrerin angehalten und den Anschein erweckt [habe], sie würde sich ordnungsgemäß verhalten“, kann die Kammer aufgrund der Angaben der Zeugin zwar nicht letztlich sicher feststellen, dass die Klägerin tatsächlich bis zum Stillstand angehalten hat. Die Zeugin hat auf ausdrückliche Nachfrage hierzu angegeben, dass sie „fast glaube“, dass die Fahrradfahrerin auch gestanden habe, dies aber „nicht genau“ sagen könne. Die Kammer entnimmt aber dem Gesamtzusammenhang der Angaben der Zeugin, dass es sich um eine Verkehrssituation gehandelt hat, die aus Sicht der Zeugin für beide Unfallbeteiligten zunächst gefahrenfrei und jederzeit kontrollierbar schien. Die Zeugin hat insoweit von einer „surrealen Situation“ gesprochen, in der es aus ihrer Sicht „zunächst einmal überhaupt gar kein Gefahrenpotential gegeben“ habe. Dem glaubhaft und überzeugend geschilderten Eindruck der Zeugin zufolge besteht somit die gute Möglichkeit, dass sich beide Unfallbeteiligten gesehen haben und es – in den Worten der Zeugin – zu einem „Abstimmungsproblem“ der beiden gekommen ist. Die Kammer kann daraus aber nicht mit der für eine Überzeugung gemäß § 286 ZPO erforderlichen Gewissheit schließen, dass der Beklagte zu 1) gesehen hat, dass die Klägerin angehalten hat, und er daraus geschlossen hat, sie werde ihn vorfahren lassen. Die Zeugin konnte – verständlicherweise – nichts dazu sagen, ob sich die beiden Unfallbeteiligten tatsächlich gesehen haben, wenn auch vor Ort jedenfalls keine Sichthindernisse bestanden. Vor allem aber der Umstand, dass der Beklagte zu 1) die oben festgestellte ungenügende Reaktion gezeigt hat, spricht eher dafür, dass er die Radfahrerin überhaupt nicht gesehen und von ihrem Auftauchen völlig überrascht war. Hinzukommt, dass die Beklagten sich bis zur Beweisaufnahme überhaupt nicht darauf berufen haben, dass die Klägerin für den Beklagten zu 1) den Eindruck erweckt habe, sie würde stehenbleiben. Dabei berücksichtigt die Kammer, dass sie die unfallbeteiligten Parteien wegen deren Verhandlungsunfähigkeit beide nicht persönlich anhören konnte.

Auf Grundlage des unstreitigen Sachverhalts sowie dieser Feststellungen ist von einem Mitverschuldensanteil der Klägerin gemäß § 9 StVG bzw. § 254 Abs. 1 BGB in Höhe von 20% auszugehen.

Die in der höchstrichterlichen und obergerichtlichen Rechtsprechung vorgekommenen Haftungsquoten variieren in Fällen von Zusammenstößen zwischen Kraftfahrzeug und Fahrrad bei Benutzung des linken Radwegs durch den Radfahrer freilich deutlich und reichen von einem Haftungsanteil auf Seiten des Radfahrers von 25% über 33%, 50%, 60%, 75% bis sogar 100% (vgl. Grüneberg, in: Grüneberg, Haftungsquoten bei Verkehrsunfällen, 14. Aufl. 2015, E Rdnr. 370). In der untergerichtlichen Rechtsprechung finden sich auch (ältere) Fälle einer 100%igen Haftung des Kraftfahrers (Grüneberg a.a.O.). Maßgeblich für die Bewertung der wechselseitigen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge sind – wie stets – die Umstände des Einzelfalls.

Zunächst lässt sich feststellen, dass die Klägerin gegen § 2 Abs. 4 S. 2 StVO verstoßen hat, denn sie hat, obwohl durch das Zeichen 240 und das Zusatzzeichen angeordnet, nicht bereits vor der Unfallstelle die Straßenseite gewechselt und den rechten gemeinsamen Rad- und Gehweg benutzt.

Mit diesem Verhalten hat sie zwar im Hinblick auf die der Q-Straße/L-Straße untergeordnete Straße J nicht ihr durch die Zeichen 206 und 306 gewährtes Vorfahrtsrecht (§ 8 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 StVO) verloren. Bei der gerichtlichen Beurteilung, wie weit das Vorfahrtsrecht geht, ist nämlich der Grundsatz der Klarheit und Einfachheit der Verkehrsregel zu beachten (OLG Düsseldorf, NZV 2000, 506). Dieser Grundsatz bedingt, dass nicht nur die einen Fahrradweg in der gestatteten Fahrtrichtung benutzenden Radfahrer – selbstverständlich (OLG Düsseldorf a.a.O.) – an dem Vorfahrtsrecht der betreffenden Straße teilnehmen, sondern auch die, die den Radweg, sei es aufgrund einer verkehrsrechtlichen Gestattung, sei es fehlerhaft, in der entgegengesetzten Richtung benutzen (so auch OLG Hamm, NJWE-VHR 1997, 57 und NJWE-VHR 1996, 163; offengelassen in NZV 1999, 86 [87]). Andernfalls entstünde für die Fahrzeugführer auf der untergeordneten Straße eine Ungewissheit, ob der aus der „falschen“ Richtung kommende Radfahrer den Radweg aufgrund einer verkehrsrechtlichen Gestattung benutzt oder nicht, denn die entsprechende Beschilderung ist von der untergeordneten Straße in der Regel nicht zu sehen (OLG Düsseldorf a.a.O.). Soweit in der Rechtsprechung vertreten wird, dass das Vorfahrtsrecht entfalle, wenn ein Radfahrer unter Verstoß gegen § 2 Abs. 4 S. 2 bzw. 4 StVO den linken Radweg benutzt (vgl. BGH, NJW 1982, 334; OLG Bremen, NJW 1997, 2891), teilt die Kammer diese Auffassung nicht. Soweit der Bundesgerichtshof (a.a.O.) nämlich darauf abstellt, dass ein „Recht zur Vorfahrt [ … ] dann begrifflich ausgeschlossen [sei], wenn es schon an einem Recht zum Fahren [mangle]“, erscheint dieser Satz zwar einleuchtend, ist aber bei genauer Betrachtung für sich genommen nicht überzeugend, da hier aus reinen Begrifflichkeiten rechtliche Schlussfolgerungen gezogen werden, was keinen zwingenden Charakter haben kann (vgl. dazu auch krit. Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, § 7 III und IV). Dementsprechend wird – dem o.g. Satz entgegenstehend – im Allgemeinen etwa auch der Grundsatz aufgestellt, dass verkehrswidriges Verhalten des Berechtigten dessen Vorfahrt nicht beseitigt, etwa wenn der Vorfahrtsberechtigte zu schnell fährt oder eine für ihn gesperrte Straße (z.B. Anliegerverkehr) benutzt (Heß, in: Burmann/Heß/Jahnke/Janker, StVR 24. Aufl. 2016, § 8 StVO Rdnr. 52 ff.). Dem stellt sich auch der Bundesgerichtshof (a.a.O.) nicht entgegen. Soweit der Bundesgerichtshof in der genannten Entscheidung zwar insoweit überzeugender konkret darauf abstellt, dass ein Vorfahrtsrecht demjenigen nicht zustehen könne, der auf einer Straße fährt, die deutlich erkennbar für jeglichen Fahrverkehr gesperrt ist oder – wie im damals gegebenen Fall bei einer Einbahnstraße – in der befahrenen Richtung nicht zur Verfügung steht, lässt sich daraus für den hier vorliegenden Fall gerade nicht entnehmen, dass die Klägerin nicht vorfahrtsberechtigt war. Eine derart eindeutige Sachlage, aufgrund der der Beklagte zu 1) bzw. jeder andere Fahrzeugführer an seiner Stelle hätte annehmen müssen, dass aus der Richtung der Klägerin niemand kommen dürfe, lag nämlich gerade nicht vor.

Gleichwohl ist das Fehlverhalten der Klägerin zu ihren Lasten zu werten, denn das die Klägerin an dieser Stelle treffende Verbot, den linken Radweg weiter zu benutzen (vgl. auch § 2 Abs. 4 S. 4 StVO), soll unter anderem die Gefahr, die sich hier verwirklicht hat – nämlich dass Autofahrer an einer Einmündung mit Radweg nicht mit von rechts kommenden Radfahrern rechnen, sondern sich auf den Verkehr von links konzentrieren -, mindern und ausschließen (vgl. OLG Hamm, NZV 2000, 506 f.). Dem steht es auch nicht entgegen, dass von einem Kraftfahrzeugführer erwartet wird, damit zu rechnen, dass der Radweg vorschriftswidrig in falscher Richtung befahren wird (OLG Hamm, NJWE-VHR 1997, 57). Denn damit ist lediglich der den Straßenverkehr im Allgemeinen bestimmende Grundsatz ständiger Vorsicht und gegenseitiger Rücksicht (§ 1 Abs. 1 StVO) zum Ausdruck gebracht, der es erfordert, mit verkehrswidrigem Verhalten anderer zu rechnen und der ohnehin im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen ist.

Relativiert wird der Verstoß auf Seiten der Klägerin allerdings dadurch, dass sie beabsichtigte, in die Straße J abzubiegen und das von dem Verkehrsschild geforderte Verhalten für diesen Fall ein ebenfalls mit Gefahren verbundenes zweimaliges Überqueren der Hauptstraße verlangt hätte. Zwar wird man für diesen Fall fordern müssen, dass die Klägerin ganz besondere Vorsicht walten lässt; indes ist aufgrund der glaubhaften Aussage der Zeugin N2 davon auszugehen, dass die Klägerin gerade nicht in einem Zug mit „normaler“ Geschwindigkeit den Radweg entlanggefahren ist; vielmehr ist die Klägerin langsam an die Einmündung herangefahren, wobei allerdings – wie ausgeführt – nicht festgestellt werden kann, dass sie tatsächlich bis zum Stillstand angehalten hat.

Zu Lasten der Beklagten wiegt hingegen bereits die allgemeine Betriebsgefahr des Kraftfahrzeugs schwer, die in Fällen des Zusammenstoßes mit einem anderen Verkehrsteilnehmer, der nicht Kraftfahrzeugführer ist, grundsätzlich schon gemäß § 7 Abs. 1 StVG zu einer vollen Haftung führt, die erst durch besondere Umstände gemäß § 9 StVG bzw. § 254 BGB gemindert werden kann. Darüber hinaus geht der Verstoß des Beklagten zu 1) gegen § 8 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 StVO (siehe oben) zu Lasten der Beklagtenseite.

Ebenfalls zu Lasten der Beklagten geht das konkrete Bremsverhalten des Beklagten zu 1) im Moment des Zusammenstoßes. Wie festgestellt ist davon auszugehen, dass der Beklagte zu 1) mit einer deutlichen Verzögerung gebremst und dadurch die Verletzungsgefahr für die Klägerin erheblich erhöht hat. Es kann dabei dahinstehen, ob das zögerliche Bremsverhalten des Beklagten zu 1) auf sein erhöhtes Alter und damit möglicherweise verbundene Wahrnehmungs- und Reaktionsschwächen zurückzuführen ist oder ob es sich schlicht um Unaufmerksamkeit oder einen übergroßen Unfallschreck gehandelt hat (vgl. Heß, in: Burmann/Heß/Jahnke/Janker, StVR 24. Aufl. 2016, § 1 StVO Rdnr. 52 ff.). Jedenfalls liegt darin ein gewichtiger Verstoß gegen die allgemeine Rücksichtspflicht des § 1 Abs. 2 StVO. Nach den aufgrund der Aussage der Zeugin N2 getroffenen Feststellungen ist davon auszugehen, dass angesichts der herrschenden Geschwindigkeitsverhältnisse ein Zusammenstoß bei gehöriger Aufmerksamkeit hätte vermieden werden können oder erheblich glimpflicher verlaufen wäre.

Soweit die Beklagtenseite darauf abgestellt hat, dass der Beklagte zu 1) angesichts des Verhaltens der Klägerin habe darauf vertrauen dürfen, dass sie ihn vorfahren lassen würde, vermag die Kammer wie bereits ausgeführt schon nicht positiv festzustellen, dass der Beklagte zu 1) ein solches Vertrauen im Unfallzeitpunkt tatsächlich hatte. Unabhängig davon kann der Vertrauensgrundsatz zwar grundsätzlich zu einer (erhöhten) Mithaftung des Vorfahrtsberechtigten führen (vgl. jedoch zu den Einschränkungen Heß, in: Burmann/Heß/Jahnke/Janker, StVR 24. Aufl. 2016, § 8 StVO Rdnr. 45 f.). Indes legen die Angaben der Zeugin N2 eher nahe, dass nicht (nur) die Klägerin durch ihr Verhalten signalisiert hat, warten zu wollen, sondern dass beide Unfallbeteiligten jeweils davon ausgegangen sind, der andere werde warten, wobei zu den subjektiven Vorstellungen der Unfallbeteiligten allerdings – wie ausgeführt – letztlich keine Feststellungen getroffen werden konnten.

Die genannten Umstände und wechselseitigen Verfahrensverstöße sind abschließend dahingehend zu bewerten, dass die Beklagten zu 80% auf die Unfallfolgen haften. Der Verstoß der Klägerin gegen § 2 Abs. 4 S. 2 StVO erscheint angesichts der Verstöße des Beklagten zu 1) gegen § 8 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 StVO und § 1 Abs. 1 und 2 StVO eher gering, tritt jedoch nicht völlig zurück.

Im Rahmen der geltend gemachten Schmerzensgeldansprüche war im Tenor des Grundurteils auszusprechen, dass das angemessene Schmerzensgeld unter Berücksichtigung des festgestellten Mitverschuldensanteils der Klägerin zu bestimmen ist (vgl. Spindler, in: BeckOK BGB, 40. Edition, § 253 Rdnr. 61).

II.

Der Feststellungsantrag ist zulässig und nach dem Gesagten unter Berücksichtigung eines mitwirkenden Verschuldens der Klägerin in Höhe von 20% begründet.

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