LG Berlin, Az.: 7 O 356/11
Urteil vom 18.10.2011
Der Antragstellerin wird Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt …, … Berlin, bewilligt.
Raten werden nicht festgesetzt.
Der Antragstellerin wird aufgegeben, binnen drei Wochen eine Klageschrift nebst zustellungsfähigen Abschriften einzureichen.
Gründe
Der maßgebliche Rechtsschutzfall ist in versicherter Zeit eingetreten. Der Versicherungsschutz bei der Antragsgegnerin (im Folgenden: Beklagten) begann erst aufgrund des Nachtrages vom 20. Dezember 2008, mit dem die Antragstellerin (im Folgenden: Klägerin) als Versicherte in die Rechtsschutzversicherung einbezogen wurde. Maßgeblicher Rechtsschutzfall ist die von der Klägerin als rechtswidrig behauptete Ablehnung der Leistung aus der Berufsunfähigkeitsversicherung durch den Berufsunfähigkeitsversicherer mit Schreiben vom 4. November 2009 (Anlage K 6) und die Anfechtung des Vertrages.
Der Versicherungsfall (Rechtsschutzfall) hat sich damit in versicherter Zeit ereignet.
§ 4 Nr. 1 ARB 2000 enthält für den Bereich der Rechtsschutzversicherung eine Definition des Versicherungsfalles (Rechtsschutzfall), der sich in versicherter Zeit ereignet haben muss. Gemäß § 4 Nr. 1 (1) c ARB besteht danach Anspruch auf Rechtsschutz nach Eintritt eines Rechtsschutzfalles von dem Zeitpunkt an, in dem der Versicherungsnehmer oder ein anderer einen Verstoß gegen Rechtspflichten oder Rechtsvorschriften begangen hat oder begangen haben soll. Wie der BGH bereits entschieden hat, kann der durchschnittliche Versicherungsnehmer dem Wortlaut sowie dem erkennbaren Sinn und Zweck dieser Klausel entnehmen, dass für die Annahme eines den Rechtsschutzfall auslösenden Verstoßes im Sinne der Klausel jeder tatsächliche, objektiv feststellbare Vorgang ausreicht, der den Keim eines Rechtskonflikts in sich trägt (Urteil vom 28. September 2005, – IV ZR 106/04 -, VersR 2005, 1684 unter I 3 b).
Rechtsschutzfall ist damit die Deckungsablehnung mit Schreiben vom 4. November 2009 (Anlage K 6). Dieser objektive Vorgang hat unmittelbar zum Rechtskonflikt geführt, von dessen Kosten die Klägerin freigestellt werden will.
Der Beklagten ist zuzugeben, dass nach dieser Definition bedingungsgemäßer Rechtsschutzfall (auch) der von dem Berufsunfähigkeitsversicherer behauptete Rechtsverstoß durch die Klägerin namentlich die ihm vorgeworfenen unzureichenden Angaben im Rahmen des Antrags auf Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung aus dem 2002, ist. Die streitgegenständliche Wahrnehmung der rechtlichen Interessen der Klägerin im Zusammenhang mit der Leistungsablehnung und Anfechtung, ist also dadurch gekennzeichnet, dass diesem Rechtsschutzfall, bereits ein Rechtsschutzfall vorausgegangen ist, der den Erstgenannten ausgelöst hat.
§ 4 ARB stellt für den Rechtsschutzfall nicht auf die oft willkürliche Parteirolle des Versicherungsnehmers ab (vgl. BGH, Urteil vom 14. März 1984, – IV a ZR 24/82 – , VersR 1984, 530). Auch ein vom Gegner, hier vom Berufsunfähigkeitsversicherer behaupteter Rechtsverstoß kann ein Rechtsschutzfall sein. Es kommt hierbei für die Feststellung des Versicherungsfalls nicht darauf an, ob tatsächlich ein Verstoß vorgelegen hat, also eine arglistige Täuschung durch den Kläger vorliegt. Entscheidend ist vielmehr, ob die Behauptung eines Verstoßes zur Grundlage eines Rechtsstreits wird. Das ist der Fall, wenn eine der streitenden Parteien – wie hier die Feuersozietät- den angeblichen Verstoß der Gegenseite zur Stützung ihrer Position heranzieht (BGH, Urteil vom 20.10.1982- IV a ZR 48/81 – , VersR 1983, 125; Urteil vom 19.11.2008, – IV ZR 305/07 -, VersR 2009, 109).
Es gibt demnach zwei Rechtsschutzfälle, nämlich einmal die der Klägerin vorgeworfene arglistige Täuschung bei Antragstellung (November 2002) und zum anderen die dem Berufsunfähigkeitsversicherer vorgeworfene unberechtigte Anfechtung des Vertrages im November 2009 (vgl. auch van Bühren/Plote, ARB, 2. Aufl., § 4 Rdnr. 8 und Harbauer, ARB, 8. Aufl., § 4 ARB 2000, Rdnr. 79 wonach zumindest nach der Unklarheitenregel des § 305 c Abs. 2 BGB dies ein mögliches Verständnis der Klausel darstelle).
Nach § 4.1 (2) Satz 2 Halbs. 2 ARB 2008 bleiben allerdings Rechtsschutzfälle außer Betracht, die länger als ein Jahr vor Beginn des Versicherungsschutzes für den betroffenen Gegenstand der Versicherung eingetreten sind. So liegt der Fall hier in Bezug auf die der Klägerin vorgeworfene arglistige Täuschung als ersten Rechtsschutzfall. Die Antragstellung erfolgte beim Berufsunfähigkeitsversicherer am 12. November 2009 und war jedenfalls bei Ausfertigung des Versicherungsscheins im Oktober 2003 abgeschlossen. Versicherungsschutz bei der Beklagten besteht erst gemäß Nachtrag vom 20. Dezember 2008.
Entgegen der Ansicht der Beklagten liegt kein Dauerverstoß und damit nur ein Versicherungsfall vor, der in vorvertraglicher Zeit mit der Antragstellung beim Berufsunfähigkeitsversicherer begonnen und bis zur Anfechtungserklärung angedauert hat. Dem ist bereits entgegen zu halten, dass das der Klägerin vorgeworfene arglistige Verschweigen gefahrerheblicher Umstände mit Vertragsschluss als Rechtsverstoß beendet war. Eine Nachmeldepflicht der Klägerin nach Vertragsschluss gem. § 16 VVG a.F. bzw. nach Antragstellung gem. § 19 VVG besteht nämlich nicht.
Von einem einzigen Dauerverstoß kann vorliegend jedoch auch deshalb nicht ausgegangen werden, weil die in Rede stehenden Verstöße von verschiedenen Personen begangen worden sein sollen; konkret einmal von der Klägerin und einmal vom Berufsunfähigkeitsversicherer. Insbesondere dies unterscheidet den Fall von den bisher in der Rechtsprechung als Dauerverstoß qualifizierten Konstellationen: Zahlt z.B. ein Arbeitgeber über einen längeren Zeitraum hinweg keinen Lohn bzw. keine Sozialversicherungsbeiträge, betrifft der Vorwurf nur ihn. Entsprechend trifft nur den Versicherungsnehmer ein Vorwurf, wenn er seiner Pflicht zur Ratenzahlung nicht nachkommt. Auch Verstöße eines Kassenarzt gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot während mehrerer aufeinander folgender Quartale treffen nur diesen (vgl. zu diesen Beispielen, jeweils mit Nachweisen aus der Rechtsprechung: Harbauer/Maier, Rechtsschutzversicherung, 8. Aufl. ARB 2000, § 4 Rn. 119).
Teilweise wird in der Rechtsprechung vgl. OLG Celle, VersR 2008, 1645 m.w.N.) vertreten, es sei nur von einem Verstoß auszugehen, wenn bei einem Dauerschuldverhältnis letztlich über die Wirksamkeit dieses Vertrages gestritten werde. Nach dieser Ansicht sei bereits die Entstehung des Vertrages mit dem Keim des zukünftigen Rechtskonflikts belastet. Die ggf. spätere Verweigerung der vertraglich versprochenen Leistung stelle dann keinen eigenständigen und selbständig zu bewertenden Verstoß mehr dar, sondern sei nur logische Folge der Behauptung der Unwirksamkeit des Vertrages. Mehrere Rechtsverstößen lägen dann nicht vor. Diese Rechtssprechung ist nach Auffassung der Kammer jedoch aus den dargelegten Gründen nicht auf die vorliegende Fallkonstellation übertragbar.
Auch findet dieses Verständnis aus der Sicht des durchschnittlichen Versicherungsnehmers – zumindest für den vorliegenden Fall – keine hinreichende Stütze im Wortlaut der Klausel und in deren erkennbaren Sinn. Mit der Regelung des § 4 Nr. 1 ARB 2000 soll zwar vermieden werden, dass die Rechtsschutzversicherung mit Kosten solcher Rechtskonflikte belastet wird, die bei Abschluss des Versicherungsvertrags bereits die erste Stufe der konkreten Gefahrverwirklichung erreicht haben, also gewissermaßen „vorprogrammiert“ sind. Dies ändert jedoch nichts an der Möglichkeit des Versicherungsnehmers nach einem möglichen eigenen Verstoß ein Jahr mit dem Abschluss einer Rechtsschutzversicherung zu warten und seine eigenen Ansprüche dann nach Ablauf der Wartezeit geltend zu machen. Weil dann der eigene Verstoß außer Betracht bleibt, mag er sich zwar gezielt Deckungsschutz verschaffen können. Diese Möglichkeit ist mit der Fassung des § 4 Nr. 1 (2) Satz 2 Halbs. 2 ARB 2000 aber hingenommen (so ausdrücklich: BGH vom 14. März 1984 a.a.O. unter I 3 e zum identischen § 14 Abs. 3 ARB 75).
Dieses Verständnis schützt den Versicherungsnehmer auch davor, dass der Gegner des Rechtsstreits, für den Versicherungsschutz begehrt wird, durch unbegründete Behauptungen den Versicherungsnehmer um den Versicherungsschutz aus der Rechtsschutzversicherung bringen kann (Maier, RuS 1995, 361, 364).
Soweit die Kammer in der Entscheidung vom 09.01.1990 (ZfSch 1990, 92) eine andere Auffassung vertreten hat, hält sie daran in geänderter Besetzung nicht mehr fest (vgl. auch Urteil vom 16.07.2009, 7 O 519/08 und zur ähnlichen Problematik Urteil vom 09.03.2010, 7 S 39/09; sog. Fahrschulfälle)