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Rechtswidrigkeit der Entlassung eines Beamten – Fürsorgepflichtverstoß des Dienstherrn

Hessischer Verwaltungsgerichtshof – Az.: 1 B 2138/11 – Beschluss vom 09.03.2012

Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 4. Oktober 2011 – 9 L 2202/11.F – wird zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 21.334,75 € festgesetzt.

Gründe

Die Beschwerde der Antragsgegnerin ist nicht begründet. Das Verwaltungsgericht hat dem Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers zu Recht stattgegeben.

Das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des angefochtenen Entlassungsbescheids vom 16. Juni 2011 überwiegt nicht das private Interesse des Antragstellers an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs. Der Entlassungsbescheid der Deutschen Bundesbank vom 16. Juni 2011 ist bei summarischer Prüfung offensichtlich rechtswidrig; seine Vollziehung ist deshalb nicht eilbedürftig.

Aufgrund der gegen den angefochtenen Beschluss vorgebrachten Bedenken kann nicht festgestellt werden, dass das Verwaltungsgericht vorläufigen Rechtsschutz zu Unrecht gewährt hat, wobei eine über das Beschwerdevorbringen hinausgehende Überprüfung dem Senat verwehrt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO).

Das Verwaltungsgericht hat zu Recht entschieden, dass die Entlassung des Antragstellers unter anderem deshalb offensichtlich rechtswidrig ist, weil die Entlassung die Fürsorgepflicht des Dienstherrn (§ 78 BBG) verletzt. Zur Begründung nimmt der Senat gemäß § 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO auf die diesbezüglichen zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts (Seite 10, 3. Absatz bis Seite 13, 4. Absatz des Beschlussabdrucks) Bezug, allerdings mit der Einschränkung, dass bereits aufgrund der vom Antragsteller eingeräumten Pflichtverletzungen im Disziplinarverfahren durchaus seine Entfernung aus dem Beamtenverhältnis in Betracht kommt. Das Vorbringen der Antragsgegnerin im Beschwerdeverfahren rechtfertigt keine andere rechtliche Beurteilung.

Der Hessische Verwaltungsgerichtshof hat bereits durch Urteil vom 22. Juni 1951 – O.S. 28/51 – (DVBl. 1951, 738 ff.) entschieden, dass bei Vorliegen ganz besonderer Umstände durch die Annahme eines Entlassungsantrags die beamtenrechtliche Fürsorgepflicht verletzt werden kann, insbesondere dann, wenn dem Beamten für seinen Entlassungsantrag nach der Aufdeckung von Dienstpflichtverletzungen keine ausreichende Überlegungsfrist eingeräumt wurde. Bei Entgegennahme eines formgültigen Entlassungsantrags trifft zwar den Dienstherrn generell keine allgemeine Verpflichtung, einen Beamten über die Rechtsfolgen einer Entlassung zu belehren. Aus Gründen der Fürsorge kann sich jedoch dann eine Belehrungs- und Beratungspflicht ergeben, wenn außergewöhnliche Umstände den Beamten zur Antragstellung veranlasst haben und bei verständiger Würdigung des Sachverhalts anzunehmen ist, dass er den Antrag bei vernünftiger, reiflicher Überlegung nicht gestellt hätte. Die Fürsorgepflicht des Dienstherrn kann diesen im Einzelfall daran hindern, einem Entlassungsantrag des Beamten vor Verstreichen einer ausreichenden Überlegungszeit und gegebenenfalls auch vor einer eingehenden Aufklärung über die rechtlichen Folgen seines Antrags stattzugeben (OVG Lüneburg, Beschluss vom 23. Dezember 2004 – 2 ME 1245/04 – juris; VG Aachen, Urteil vom 24. Januar 2008 – 1 K 106/07 – juris; von Roetteken/Rothländer, Beamtenstatusgesetz, Stand: Oktober 2011, § 23 Beamtenstatusgesetz Rdnr. 177 m.w.N.). Wie das Verwaltungsgericht zutreffend im Einzelnen begründet hat, liegen im vorliegenden Fall besondere Umstände vor, die die Entlassung des Antragstellers als einen Verstoß gegen die dem Dienstherrn obliegende Fürsorgepflicht (§ 78 BBG) erscheinen lassen. Die Antragsgegnerin hat den Antragsteller in erheblicher Weise zur Abgabe des Entlassungsantrags gedrängt und ihn insbesondere auch zeitlich in einer Weise unter Druck gesetzt, die dem Antragsteller die gebotene sachgerechte Abwägung aller für seine Erklärung bedeutsamen Umstände nicht ermöglichte. Dem Antragsteller wurde erst am Nachmittag des 15. Juni 2011 von der Antragsgegnerin in einem Personalgespräch mitgeteilt, sie beschuldige ihn des Beihilfebetrugs und der Urkundenfälschung. Er wurde aufgefordert, bis zum nächsten Tag um 11.00 Uhr zu entscheiden, ob er zur Abwendung eines ansonsten einzuleitenden Disziplinarverfahrens mit dem Ziel der Entfernung aus dem Beamtenverhältnis einen Entlassungsantrag stellt. In dem Personalgespräch am 16. Juni 2011 ab 11.00 Uhr unterzeichnete der Antragsteller den Entlassungsantrag. Unmittelbar im Anschluss wurde ihm „im Gegenzug“ die vorbereitete schriftliche Entlassungsverfügung und Entlassungsurkunde ausgehändigt, die der nicht am Gespräch teilnehmende Leiter des Zentralbereichs Personal der Antragsgegnerin schon vorher unterzeichnet hatte (vgl. Bl. 49a der Entlassungsakte).

In der kurzen Zeit vom Ende des Personalgesprächs am Nachmittag des 15. Juni 2011 bis zu dem Gespräch um 11.00 Uhr am folgenden Tag war es für den Antragsteller faktisch unmöglich, qualifizierte Rechtsberatung durch einen fachkundigen Rechtsanwalt zu erhalten. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Antragsteller in dieser kurzen Zeit einen Beratungstermin bei einem im Beamtenrecht kundigen Rechtsanwalt bekommen hätte. Die Vorgehensweise der Antragsgegnerin berücksichtigt fürsorgewidrig auch nicht, dass der Antragsteller sich nach dem Vorhalten seiner Manipulationen in dem Personalgespräch am 15. Juni 2011 in einer psychischen Ausnahmesituation befand. In diesem Zusammenhang hatte die Antragsgegnerin auch zu beachten, dass der Antragsteller nicht über eine psychisch stabile Konstitution verfügt, da er sich im Jahr 2010 einer elfwöchigen stationären psychiatrischen Behandlung unterziehen musste.

Die von der Antragsgegnerin initiierte Entlassung auf Antrag entsprach in erster Linie ihrem Interesse, sich von dem Antragsteller schnellstens auf Dauer zu trennen, und zwar ohne aufwendiges Disziplinarverfahren, in dem der Antragsteller seine prozessualen Rechte nach dem Bundesdisziplinargesetz hätte wahrnehmen können. Eine Zusage, auf eine Strafanzeige zu verzichten, ist in dem Gespräch am 15. Juni 2011 ausdrücklich nicht gemacht worden. Ihm wurde nicht die Perspektive auf einen beruflichen Neuanfang bei einem anderen Arbeitgeber ohne vorheriges Strafverfahren eröffnet (vgl. hierzu von Roetteken/Rothländer, Beamtenstatusgesetz, § 23 Beamtenstatusgesetz Rdnr. 175 m.w.N.). Einen Antrag auf Entlassung aus dem Beamtenverhältnis könnte er im Übrigen jederzeit bis zur Rechtskraft eines auf Entfernung aus dem Dienst lautenden Disziplinarurteils stellen.

Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin musste der Antragsteller zu dem Zeitpunkt, zu dem er seine Entlassung aus dem Beamtenverhältnis beantragte, nicht seit mehreren Wochen damit rechnen, dass sein Manipulationsverhalten schwerwiegende dienstrechtliche Konsequenzen zur Folge haben würde. Er ging vielmehr bis zu dem Personalgespräch am Nachmittag des 15. Juni 2011 davon aus, dass seine betrügerischen Manipulationen nicht entdeckt worden sind.

Da die Antragsgegnerin dem Antragsteller allein vom zeitlichen Ablauf des Entlassungsvorgangs her nicht die Möglichkeit der Beratung durch einen fachkundigen Rechtsanwalt eingeräumt hat und die Entlassung deshalb gegen die Fürsorgepflicht des Dienstherrn verstößt, kann es der Senat offen lassen, ob die Entlassung auch deshalb rechtswidrig ist, weil die Gleichstellungsbeauftragte vorher nicht beteiligt wurde.

Die Antragsgegnerin hat die Kosten des erfolglosen Rechtsmittels zu tragen (§ 154 Abs. 2 VwGO).

Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 1 und 5 Nr. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG. Der Senat berechnet den Streitwert ebenso wie das Verwaltungsgericht.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

 

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