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Regelfahrverbot – Absehen von der Verhängung


Amtsgericht Landstuhl

Az: 2 OWi 4286 Js 13030/13

Urteil vom 22.09.2014


Tenor

1. Der Betroffene wird wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften zu einer Geldbuße von 160 EUR verurteilt.

2. Der Betroffene trägt die Kosten des Verfahrens und seine notwendigen Auslagen.

Angewendete Vorschriften:

§§ 24 StVG, 41, 49 StVO, 11.3.7 BKat


Gründe

Der Betroffene ist verkehrsrechtlich nicht vorbelastet und als Polizeibeamter tätig für die Bereitschaftspolizei …, dort Leiter des Bereiches Service und Logistik. Er ist verheiratet, hat zwei volljährige Kinder, ein Nettoeinkommen von 3200 EUR und bedient noch einen Hauskredit mit 700 EUR pro Monat. Die Ehefrau ist selbst berufstätig und Inhaberin einer Fahrerlaubnis. Die Arbeitsstätte des Betroffenen liegt ca. 11 km von seinem Wohnort entfernt, sodass er notfalls auch mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren könnte. Er ist nicht im Schichtdienst eingeteilt und hat auch keine Außeneinsätze, die die Nutzung eines PKW erfordern würden. Er verfügt über 30 Tage Jahresurlaub und kann diesen notfalls auch vollständig in einer Folge nehmen.

Das Gericht hat nach Durchführung von Hauptverhandlung und Beweisaufnahme folgenden Sachverhalt feststellen können:

Der Betroffene fuhr am 18.05.2013 als Fahrer eines PKW, Kz …, auf der BAB62, Fahrtrichtung Pirmasens. Auf der BAB62 in Höhe km 219,6 in der Gemarkung Bann überschritt er die durch Verkehrszeichen mit 80 km/h angeordnete Höchstgeschwindigkeit um toleranzbereinigte 43 km/h und fuhr 123 km/h. Vor dem die Geschwindigkeit anordnenden Verkehrsschild waren bereits zwei weitere Schilder als Geschwindigkeitstrichter angebracht gewesen, einmal mit 100 km/h und dann noch einmal 80 km/h. Die Schilder waren sichtbar. Kurz nach der Messstelle verengt sich die BAB62 auf nur noch eine Fahrspur, sodass es sich auch um einen potentiellen Gefahrenschwerpunkt handelt, der die Geschwindigkeitsreduktion begründet. Gemessen wurde mit dem Messgerät ES 3.0, das zum Messzeitpunkt ordnungsgemäß geeicht und von einem geschulten Messbeamten vorschriftsgemäß bedient worden ist. Berücksichtigt wurden 4 km/h als Toleranzabzug.

Der Betroffene wähnte sich zu diesem Zeitpunkt in polizeilichem Einsatz, indem er einen vor ihm fahrenden silbergrauen BMW mit Kennzeichen der Stadt Cochem einzuholen versuchte, dessen Auspuff kurz zuvor bei einer kleinen Bodenwelle auf der Straße aufgeschlagen war und Funken geschlagen hatte. Der Betroffene befürchtete ein Abfallen des Auspuffs samt nachfolgender Gefahr für nachfolgende Verkehrsteilnehmer. Hierbei war er zur Gänze auf das andere Fahrzeug und den Versuch, dieses zu erreichen, fokussiert, ohne dabei auf die erkennbaren und zu beachtenden Verkehrsschilder zu achten. Nach einem weit nach der Messstelle geglückten Überholmanöver an einem noch vor ihm fahrenden Wohnmobil vorbei setzte er sich hinter das beschriebene Fahrzeug, das aber nicht auf seine Signale reagierte. Ohne den Vorfall der nächstgelegenen Dienststelle telefonisch zu melden oder einen Aktenvorgang samt vollständigem Kennzeichen anzulegen, setzte der Betroffene dann seine Fahrt fort.

Die getroffenen Feststellungen beruhen auf der Einlassung des Betroffenen sowie der durchgeführten Beweisaufnahme.

Der Betroffene hat den Sachverhalt wie oben geschildert, bestätigt durch die Zeugin …, ohne dass das Gericht ernsthafte Widersprüche, Lücken oder andere Umstände hätte erkennen oder gar nachweisen können, die die tatsächlichen Umstände widerlegt hätten. Der Betroffene hatte allerdings die Rechtsansicht geäußert, für sich § 35 StVO in Anspruch nehmen zu können, was das Gericht aus rechtlichen Gründen verneinte, dazu weiter unten.

Die Feststellungen zur Messung, die im Übrigen nicht angegriffen wurde, beruhen auf der Inaugenscheinnahme und Verlesung des Messbildes, das an sich nicht ausgereicht hätte, um den Betroffenen als Fahrer zu identifizieren, dazu auf der Verlesung des Messprotokolls, des Eichscheins, des Schulungsnachweises und des Auszugs aus dem Fahreignungsregister sowie auf der Inaugenscheinnahme des Kalibrierungslichtbildes und des Lichtbildes zum Aufbau der Messstelle. Des Weiteren wurde die Mitteilung des Messbeamten verlesen, dass am Messtag kein wie vom Betroffenen beschriebener BMW gemessen wurde.

Nachdem vor der Hauptverhandlung ein Ermittlungsersuchen an die Polizei Cochem insoweit ergebnislos geblieben war, dass von dort mitgeteilt wurde, dass es zur vom Betroffenen gegebenen Beschreibung 160 zugelassene PKW gebe und die Suche nach „dem“ BMW einen unverhältnismäßigen Ermittlungsaufwand bedeutet hätte, hatte das Gericht darauf ebenfalls vor der Hauptverhandlung bereits hingewiesen und auch darauf, dass § 35 StVO in der vorliegenden Konstellation nicht als einschlägig angesehen wird.

Der Betroffene hat sich aufgrund der festgestellten Tat für einen Verstoß gegen die gem. § 41 Abs. 2 StVO angeordnete Geschwindigkeitsbeschränkung zu verantworten, §§ 24 StVG, 49 StVO. Er fuhr, ohne sich hinreichend aufmerksam um die angeordnete Geschwindigkeitsbeschränkung zu kümmern, zu schnell. Dabei kann ihm kein Vorsatz vorgeworfen werden. Es fehlt an der Wissenskomponente. Zwar waren die Schilder allesamt erkennbar, sodass man durchaus von der Kenntnis des Betroffenen ausgehen könnte. Hier hat der Betroffene aber glaubhaft einen Sachverhalt geschildert, der die bewusste Wahrnehmung der Geschwindigkeitsbeschränkung nicht als sicher ermöglicht. Ihm ist aber Fahrlässigkeit vorzuwerfen. Denn er hätte aufgrund der örtlichen Umstände mit einer Geschwindigkeitsbeschränkung rechnen müssen und die Schilder beachten müssen und auch können.

Dem Betroffenen kommt in der rechtlichen Bewertung der Tat nicht das Privileg des § 35 StVO zugute. Zuerst hat der von den Verkehrsvorschriften Befreite grundsätzlich keine Vorrechte gegenüber den übrigen Verkehrsteilnehmern. § 35 StVO befreit nur von StVO-Pflichten, ändert die Verkehrsregeln und -gebote jedoch nicht (König in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 42. Auflage, 2013, § 35 StVO, Rn. 4). Dies folgt unmittelbar aus § 35 Abs. 8 StVO, wonach die Sonderrechte nur unter gebührender Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgeübt werden. Der Umfang der Befreiung ist daher an § 35 Abs. 8 StVO zu messen, woraus schon gefolgert werden kann, dass die Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung bei Sonderrechtsfahrten nicht obsolet wird. Vielmehr ist § 35 Abs. 1 StVO im Hinblick auf die mit der Wahrnehmung von Sonderrechten verbundenen erheblichen Gefährdungen (anderer Verkehrsteilnehmer) eng auszulegen und als Ausnahmevorschrift zu bezeichnen (OLG Jena, SVR 2007, 299; LG Bonn, Urt. v. 09.01.2012 – Az.: 1 O 276/11 – juris; OLG Celle, NJW-RR 2011, 1323; OLG Stuttgart, NZV 2002, 410). Konsequenz hieraus ist, dass der Berechtigte die Verkehrsregeln allenfalls mit größter Sorgfalt „missachten“ darf. Die dem Sonderrechtsfahrer obliegende Sorgfaltspflicht ist dabei umso größer, je mehr seine gegen die StVO verstoßende Fahrweise, die zu der zu erfüllenden hoheitlichen Aufgabe nicht außer Verhältnis stehen darf, die Unfallgefahr erhöht. Es gelten der allgemeine Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und das Übermaßverbot (vgl. BGH, NJW 1975, 648; KG Berlin, NZV 2008, 147).

Zwar entfällt für einen Polizeibeamten das Vorrecht des § 35 StVO nicht nur deshalb, weil er sich gerade nicht im Dienst befindet. Die Polizei handelt im Einsatz bzw. hoheitlich auch dann, wenn sie in zivil agiert oder keinen besonderen Einsatzbefehl hat. Die Geschwindigkeitsüberschreitung eines Polizeibeamten im privaten Pkw zum Zwecke der Verfolgung eines verdächtigen Straftäters ist etwa gerechtfertigt, wenn unter Berücksichtigung der Gesamtumstände die sofortige Diensterfüllung wichtiger erscheint als die Beachtung der Verkehrsregeln (vgl. OLG Stuttgart, NZV 1992, 123; KG Berlin, Urt. v. 23.01.1989 – 12 U 2218/88 – juris; AG Siegen, Urt. v. 21.08.1995 – 16 OWi 35 Js 519/95 – Sch 49/95 – juris / VerkMitt 1996, Nr. 55). Aber schon daran hat das Gericht hier erhebliche Zweifel. Die Engstelle auf der BAB62 ist schon für verkehrsrechtliche Laien als Gefahrenstelle zu erkennen, noch mehr muss dies für einen jedenfalls in früheren Jahren auch im Verkehrseinsatz tätigen Polizeibeamten wie den Betroffenen gelten. An dieser Stelle in solcher Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit zu fahren und – nach eigener Einlassung des Betroffenen – vielleicht das Überholmanöver bzgl. des Wohnmobils schon an dieser Stelle zu schaffen, ist nicht nur riskant, sondern auch unverhältnismäßig. Erster Schritt hätte zunächst sein müssen, die nächstgelegene Dienststelle zu informieren, um das zu verfolgende Fahrzeug ggf. am Ende der BAB62 zu empfangen. Auch wäre es angezeigt gewesen, das Kennzeichen zuerst vollständig zu notieren, um später den Einsatz zu dokumentieren. Dass dies auch später nicht geschah, macht den Beginn des vermeintlichen Einsatzes nicht besser.

Weitere Voraussetzung für die Anerkennung als Sonderrechtsfahrt ist, dass diese zur Erfüllung hoheitlicher Aufgaben dringend erforderlich war. Dies war hier nicht der Fall. Dringend geboten ist das Abweichen von Verkehrsvorschriften zur Erfüllung hoheitlicher Aufgaben nur, wenn die sofortige Diensterfüllung wichtiger erscheint als die Beachtung der Verkehrsregeln (BHJJ/Heß, Straßenverkehrsrecht, 23. Aufl., 2014, § 35 StVO, Rn. 8). Eine solche dringende Erforderlichkeit hat der Betroffene nicht einmal in seiner eigenen Einlassung wiedergeben können. Denn der Aufschlag des Auspuffs geschah an einer Bodenwelle und der Auspuff zeigte keine geschilderten Anzeichen dafür, dass ein sofortiges Abfallen mit dringender Gefahr für nachfolgende Fahrzeuge gegeben gewesen wäre. Das Handeln des Betroffenen war demnach schon nach eigener Beschreibung allenfalls präventiv und auch hier handelte es sich höchstens um eine abstrakte Gefahr. Kann die Aufgabe aber – wie hier – später ohne Nachteil oder sogar bei Beachtung der Verkehrsregeln ebenso erfüllt werden, eben durch Meldung des Fahrzeugs samt Kennzeichen und Mangel an die Dienststelle, fehlt es am Merkmal „dringend geboten“. Die hoheitliche Aufgabe muss also ein gewisses sachliches Gewicht haben, was hier nicht der Fall war (vgl. NK-GVR/Koehl, 1. Aufl., 2014, § 35 StVO, Rn. 9).

Dem Betroffenen kommt hier auch keine Irrtumslage zugute. Die Fehleinschätzung der rechtlichen Voraussetzungen des Sondereinsatzes begründet allenfalls einen vermeidbaren Rechtsirrtum. Gerade ein unbesonnenes In-den-Dienst-setzen während der Urlaubsfahrt verlangt vom Beamten erhöhte Beachtung der rechtlichen Vorgaben, um vermeidbare Fehler und Gefährdungen einer Verkehrssituation auszuschließen.

Hinsichtlich der Rechtsfolge hat das Gericht zunächst den Rahmen des BKat Ziffer 11.3.7 angewendet und vorliegend keine Umstände erkennen können, die ein Abweichen vom Regelsatz von 160 EUR hätten begründen können.

Bezüglich des ebenfalls als Regelfolge anzuordnenden Fahrverbots hat das Gericht allerdings auf der Rechtsfolgenseite eine solche Maßnahme nicht für erforderlich erachtet. Denn das Gericht geht hier davon aus, dass der Handlungsunwert dieses durchaus atypischen Verstoßes durch die Fehleinschätzung des Betroffenen so stark gemindert ist, dass das als Denkzettel vorgesehene Regelfahrverbot hier gar nicht erst anzuordnen ist (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 04.02.2003 – 4 Ss OWi 74/03 – juris). Der Betroffene hat zum einen durch seine detaillierte Einlassung, sowohl zur vorgeworfenen Tat als auch zu seiner Berufseinstellung, zum anderen mit dem berechtigten Hinweis darauf, dass er sich unter Berufung auf sein Schweigerecht eines Freispruchs wegen des schlechten Messbildes durchaus sicher hätte sein können, für das Gericht überzeugend dargelegt, dass es ihm nicht an einer korrekten Einstellung zu den rechtlichen Vorgaben des Straßenverkehrs mangelt, sondern dass er – so die Einschätzung des Gerichts – die Reichweite der Privilegierung schlicht verkannt hat, mglw. auch durch seine nun schon jahrelange Verwendung im Innendienst ohne echte aktuelle Praxiserfahrung mit Situationen wie dieser. Die Verkennung der Privilegierung in der oben festgestellten Situation kann aber seitens des Gerichts am ehesten mit einem Augenblicksversagen verglichen werden. In solchen Fällen geht es zwar typischerweise um die Fehleinschätzung einer Tatsachenlage. Nichts anderes kann aber gelten, wenn wie hier eine Fehleinschätzung einer Abwägungslage vorliegt, die bei sauberer Vollendung des „Einsatzes“ durchaus noch hätte gerettet werden können.

In Fällen wie dem vorliegenden kommt auch die Anwendung des § 4 Abs. 4 BKatV nicht in Betracht. Denn ein Absehen vom Fahrverbot kann nach dessen Wegfall nicht mehr vorgenommen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 46 OWiG, 465 StPO.


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