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Reiserücktritt: Wann ist eine Krankheit unerwartet?

Amtsgericht München

Az.: 163 C 9983/02

Verkündet am 18.6.2002


Das Amtsgericht München erläßt durch Richter am Amtsgericht in dem Rechtsstreit wegen Forderung aufgrund mündlicher Verhandlung vom 5.6.2002, wobei der Schriftsatz des Klägers vom 5.6.2002 Berücksichtigung fand, am 18.6.2002 folgendes

Endurteil

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Klagepartei.

Das urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Zwangsvollstreckung kann von der Klagepartei durch Sicherheitsleistung in Höhe von EUR 250,– abgewandt werden, wenn nicht die Gegenseite vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

Der Kläger macht einen Anspruch auf Ersatz von Stornogebühren gegenüber der Beklagten geltend, mit der er einen Vertrag über eine Reiserücktrittsversicherung geschlossen hat.

Der Kläger buchte für sich und seine Frau eine Pauschalreise nach Antalya für den Zeitraum 28.09. bis 19.10.2001 bei der Fa. T zum Preis von DM 2.982,-. Gleichzeitig wurde eine Reiserücktrittsversicherung bei der Beklagten mit den Versicherungsbedingungen VB-ERV1998 zum Preis von DM 92,- abgeschlossen. Die Ehefrau des Klägers leidet seit 1994 an einer manisch verlaufenden Depression mit Namen Zycothymie. Sie war seitdem in ständiger therapeutischer Behandlung. Als Dauermedikation bekam sie in weitgehend unveränderter Dosierung verschiedene Psychopharmaka verschrieben. Unter diesem medikamentösen Einfluss ergab sich eine nachhaltige Stabilisierung des Gesundheitszustandes der Ehefrau des Klägers. Ihre Erwerbs- und Unternehmensfähigkeit war durch die manisch depressive Erkrankung in keiner Weise beeinträchtigt. Sie unternahm regelmäßig Auslandsreisen. Am 21.09.2001 traten bei der der Ehefrau des Klägers erstmalig ausgedehnte Angstzustände, unterbrochen durch regelechte Panikattacken intensive Schlafstörungen auf. Dies kam für die Ehefrau des Klägers unerwartet. Trotz Erhöhung der Medikamentendosis trat keine kurzfristige Besserung ein. Zwischen dem 21.09. und 12.10.2001 nahm die Ehefrau des Klägers mehrere Therapietermine bei ihrem Arzt wahr. Am 24.09.2001 wurde die Reise vom Kläger storniert. Ihm wurde 65 % des Reisepreises mithin DM 1.939.- (€ 919.39) berechnet. Mit Schreiben v. 18.10.2001 verlangte der Kläger diesen Betrag von der Beklagten. Die Beklagte zahlte nicht.

Der Kläger trägt vor. es handele sich um eine unerwartet schwere Erkrankung der Ehefrau des Klägers, die die Beklagte zur Zahlung gem. Vertrag verpflichte, auch wenn die Krankheitsphase eine Reaktion auf die Ereignisse v. 11.09.2001 in den USA gewesen sein mag.

Der Kläger beantragt zuletzt: Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin € 991.39 nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit 31.10.2001 zu bezahlen.

Die Beklagte beantragt die Klage abzuweisen. Die Beklagte trägt vor, der Sachvortrag des Klägers stelle keine unerwartet schwere Erkrankung der Ehefrau des Klägers i. S. § l Ziffer l a VB-ERV Teil A dar. Grunderkrankungen, die phasenweise in ein akutes Stadium treten können, seien keine unerwartet schweren Erkrankungen. Das Risiko der Reiseabsage aus Anlass einer akuten Krankheitsphase sei nicht versicherbar. Das Auftreten der bei Abschluss der Reiserücktrittsversicherung bereits vorhandenen und auch zum diesem Zeitpunkt medikamentös behandelten Erkrankung der Ehefrau des Klägers sei trotz der behaupteten Stabilisierung nicht unvorhersehbar gewesen. Bei schweren Erkrankungen muss nach der Lebenserfahrung mit dem Auftreten von Komplikationen und verzögertem Heilungsverlauf gerechnet werden. Bereits aus der Tatsache der Dauermedikation folgt, dass mit dem Auftreten eines akuten Schubs der Grunderkrankung der Ehefrau des Klägers zu rechnen war.

Die Hoffnung, rechtzeitig bis Reiseantritt wieder gesund zu werden, sei nicht vom
Versicherungsschutz umfasst. Im übrigen handele es sich bei der Erkrankung um ein
spekulativ bedingtes subjektives Empfinden, das unter Berücksichtigung der zeitlichen Nähe
zu den Ereignissen des 11.09.2001 in den USA zu sehen sei.

Im übrigen wird auf die gewechselten Schriftsätze und das Protokoll der Sitzung 05.06.2002 bezug genommen. Das Gericht hat in dieser Sitzung Hinweise gegeben.

Entscheidungsgründe:

1) Die zulässige Klage ist unbegründet. Dem Kläger steht kein Anspruch gegenüber der Beklagten auf Erstattung der Stornorechnung v. 24.09.2991 zu.

§ l Ziffer l der VB-ERV 1998 lautet:

1. Versicherte Rücktrittsgründe

Tritt die versicherte Person vor Reiseantritt zurück, erstattet die EUROPÄISCHE X die vertraglich geschuldeten Stornogebühren, wenn die Stornierung aus den nachstehenden Gründen erfolgt ist:

a) Tod, Unfall, unerwartet schwere Erkrankung …. der versicherten Person oder einer Risikoperson;

Eine unerwartet schwere Erkrankung i.S. dieser Bestimmung lag bei der Ehefrau des Klägers nicht vor.

a) Krankheiten i.S. dieser Vorschriften ist objektiv zu versehen, d.h. es kommt auf das Vorhandensein einer Krankheit im Sinne des Sprachgebrauchs des täglichen Lebens an. wie er sich auf der Grundlage allgemein bekannt werdender Erkenntnisse der Medizin gebildet hat. Es handelt sich also um einen anomalen, körperlichen oder geistigen Zustand, der eine nicht ganz unerhebliche Störung körperlicher oder geistiger Funktionen mit sich bringt. Ob sich die betreffende Person krank fühlt, ist gleichgültig. Nicht jede nesative Abweichung vom Normalzustand ist eine Krankheit. Die Grenze zur Krankheit ist überschritten, wenn eine manifeste geistige oder psychische Störung eingetreten ist. Keine Krankheit ist die ungünstige Disposition infolge einer früheren ausgeheilten Krankheit (zum Ganzen: Prölss/Martin, WG, 26. Auflage 1998, Rn 11 zu § l ABRV und Rn 4 und 12 zu § l MBKK94).

b) Eine Krankheit ist schwer, wenn dies objektiv der Fall ist (Prölss/Martin, VVG, 26. Auflage 1998, Rn 12 zu § l ABRV).

c) Wann eine Krankheit unerwartet ist, ist umstritten. Unerwartet bedeutet mangelnde Voraussehbarkeit der Krankheit i.S. § 2 Nr. 2 ABRV und liegt vor, wenn bzgl. des konkreten Versicherungsfalls der Eintritt unwahrscheinlicher ist als der Nichteintritt. Wenn ein Arzt vor der Buchung der Reise um Rat gefragt wurde und keine Bedenken anmeldete, liegt keine Voraussehbarkeit vor (so Prölss/Martin, VVG, 26. Auflage 1998, Rn 13 zu § l ABRV und Rn 3 zu § 2 ABRV unter Angabe auch der abweichenden Meinungen).

In der Rechtsprechung wird allerdings vertreten:

1. Gericht: AG Gummersbach, Datum: 10. Juni 1999. Az: 2 C 172/99

NK: ABRV 1977 § 1 Nr. 2 Buchst a

RuS 2000, 167 (red. Leitsatz und Gründe)

Befindet sich der Reisende zu dem Zeitpunkt, in dem die Reise gebucht und versichert wird, in stationärer Behandlung, kann eine nicht rechtzeitige Genesung oder spätere Verschlechterung der Erkrankung nicht ausgeschlossen werden. Wird die Reise aufgrund der Erkrankung nicht angetreten, liegt keine unerwartete schwere Erkrankung iSv .ABRV 1977 § l Nr 2 Buchst a vor.

2. Gericht: Thüringer Oberlandesgericht 4. Zivilsenat, Datum: 17. Dezember 1997, Az: 4 U 742/97 NK: ABRV § l Nr l

RuS 1998, 517-518 (red. Leitsatz und Gründe) – VersR 1999, 220-222 (red. Leitsatz und Gründe)

Die Verschlimmerung oder Verschlechterung eines chronischen Leidens stellt lediglich die Fortdauer (wenn auch auf höherem Niveau) einer bereits bestehenden Erkrankung, nicht jedoch eine unvorhergesehene Erkrankung im Sinne von ABRV § l Nr l dar. Die Verschlimmerung von massiven Symptomen einer chronischen Erkrankung infolge einer beschwerlichen Auslandsreise liegt auf der Hand und ist für den Versicherungsnehmer ohne weiteres vorhersehbar.

3. Gericht: AG CLOPPENBURG, Datum: 4. November 1996, Az: 2a C 323/96 NK: ABRV § l Nr 2 Buchst a

VERSR 1997. 874 (red. Leitsatz)

Der Versicherungsnehmer, der bereits vor Abschluß der Reiserücktrittskostenversicherung und vor der Buchung der Reise an einer sogenannten Mischpsychose litt, muß auch nach erfolgreicher ärztlicher Behandlung damit rechnen, daß sich die psychotische Erkrankung wieder aktualisiert, das Auftraten einer neuen Phase der Krankheit ist deshalb auch dann nicht als Auftreten einer unerwartet schweren Erkrankung im Sinne des ABRV § l Nr 2 Buchst a anzusehen, wenn der Versicherte zum Zeitpunkt der Buchung in der Lage gewesen wäre, die Reise anzutreten.

4. Gericht: AG München. Datum: 4. August 1982, Az: 5 C 3055/82 NK: ABRV § l

VersR 1984, 181-181 (red. Leitsatz l und Gründe)

Die Annahme der Reiseunfähigkeit eines mitversicherten Familienmitglieds infolge unerwarteter und plötzlicher Erkrankung wird nicht durch die Feststellung ausgeschlossen, daß der Erkrankte für die Krankheit chronisch anfällig war.

5. Gericht: AG München, Datum: 15. Februar 1982, Az: 9 C 18619/81 NK: ABRV § 2. ABRV § 3, ABRV § 4

VersR 1984, 180-181 (red. Leitsatz und Gründe)

Die Klägerin litt bei Buchung der Reise an einer Gallenblasenentzündung, so daß der Umstand, daß sie die Reise nicht würde antreten können, für sie voraussehbar war.

6. Gericht: AG München, Datum: 29. Januar 1981, Az: 4 C 11502/79 NK: ABRV § l, ABRV § 2; VersR 1984. 330-332 (red. Leitsatz l und Gründe)

Ein unvorhersehbarer und unerwarteter Krankheitsschub einer langjährigen chronischen Erkrankung ist keine unerwartet schwere Erkrankung, die den Eintritt des Versicherungsfalles begründet.

d) Die Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Ehefrau des Klägers war kein unerwartetes Ereignis. Sie litt unstreitig im Zeitpunkt der Buchung an der schweren Krankheit Zvcothymie. Sie bekam die ganze Zeit über verschiedene Psychopharmka. Die Krankheit war unstreitig nicht ausgeheilt. Lediglich die Folgen der Krankheit waren durch die medikamentöse Behandlung im Griff. Ist aber eine Krankheit nicht ausgeheilt, ist das Risiko, die Reise nicht antreten zu können, weil die Grunderkrankung in eine neue Phase eintritt, nicht versichert. Insofern gelten die Gründe der o.g. Entscheidungen des Thüringer OLG, des AG Cloppenburg, des AG Gummersbach sowie des AG München v. 15.02.1982, und 29.01.1981. Dem Steht auch nicht die Entscheidung des AG München v. 04.08.1982 entgegen, da es dort um chronische Anfälligkeit für eine (nicht bestehende) Erkrankung, hier jedoch um eine die ganze Zeit bestehende Dauererkrankung geht. Das Gericht verkennt nicht, dass es demnach für Personen, die im Zeitpunkt der Buchung der Reise aufgrund einer schweren Erkrankung medikamentös behandelt werden, nicht möglich ist. einen Versicherungsschutz zu den Bedingungen der Beklagten als Reiserücktrittsversicherer zu erlangen. Dies ist allerdings auch sachgerecht, da die Versicherungsprämien im Verhältnis zum versicherten Risiko sehr gering sind (hier: DM 92,- zu DM 2.982,-). Die Gewährung von Versicherungsschutz im konkreten Fall würde auch zu einer erheblichen Belastung der Versichertengemeinschaft führen. Personen, die im Zeitpunkt der Buchung krank sind und einen Reiserücktrittsversicherung abschließen wollen, mögen ihre Erkrankung offenbaren (für die Offenbarungspflicht Prölss/Martin, WG, 26. Auflage 1998, Rn 15 zu § l ABRV. Wohl als Korrelat für die von ihm vertretene Auffassung, dass die Versicherungen viel umfassender leistungspflichtig wären, Prölss/Martin, WG, 26. Auflage 1998, Rn 14 zu § l ABRV) und können individuell eine Reiserücktrittsversicherung zu gesonderten Bedingungen (u. ggf. Tarifen) abschließen.

Aus Rechtsgründen kam daher eine Beweisaufnahme u.a. zu der Frage, ob aus Sicht der Ehefrau des Klägers und deren Arzt die Verschlechterung des Zustands der Ehefrau vorhersehbar war, nicht in Betracht. Die Klage war daher abzuweisen.

2) Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 91 I ZPO.

3) Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit gründet sich auf §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

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