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Versicherungsvertrag – Obliegenheitsverletzung – Relevanztheorie – Kaskoversicherung

Oberlandesgericht Frankfurt/Main

Az: 3 U 27/06

Urteil vom 31.05.2006


Gründe:

Die Klägerin macht Ansprüche aus einer bei der Beklagten bestehenden Vollkaskoversicherung geltend wegen eines Unfalles vom 22.12.2003 gegen 19.40 Uhr auf der BAB … von O1 in Richtung O2; wegen des Spurwechsels eines vorausfahrenden Fahrzeuges bremste die Klägerin ihr Fahrzeug ab, dieses kam infolge Eisglätte ins Rutschen und prallte ohne Kollision mit einem anderen Fahrzeug gegen eine Leitplanke, wodurch der Pkw der Klägerin erheblich beschädigt wurde und an der Leitplanke ein Schaden von ca. 500,00 € entstand. Wegen der Fahrbahnglätte ereigneten sich in diesem Autobahnbereich mehrere Verkehrsunfälle. Ca. 10 bis 15 Minuten nach dem Unfall fuhr die Klägerin zur nächsten Ausfahrt und verließ die Autobahn. Am 23.12.2003 um 08.30 Uhr meldete die Klägerin über ihre Mutter der Polizeiautobahnstation Langenselbold den Unfall. Das gegen die Klägerin eingeleitete Strafverfahren nach § 142 StGB wurde später gemäß § 153 a StPO eingestellt.

Das Landgericht hat nach einer teilweisen Klagerücknahme (300,00 €) der Klägerin die noch verlangten 6.822,16 € zugesprochen; es hat ausgeführt, der Anspruch ergebe sich aus § 12 AKB; die Beklagte sei wegen des Verlassens der Unfallstelle durch die Klägerin nicht gemäß § 7 V, 4 AKB i.V.m. § 6 Abs. 3 VVG leistungsfrei. Eine Verletzung der Aufklärungspflicht liege nicht vor, da es am subjektiven Tatbestand des § 142 StGB fehle; die Klägerin könne sich nämlich auf den Entschuldigungsgrund des § 35 StGB berufen. Auch wenn die Klägerin die Gefahrenlage möglicherweise durch unangebrachte Geschwindigkeit selbst geschaffen habe, so habe ihr ein längeres Zuwarten an der Unfallstelle über 10 bis 15 Minuten hinaus nicht zugemutet werden können, weil sie wegen der vorliegenden Gefahrensituation (ungesichertes Fahrzeug auf eisglatter Fahrbahn, Dunkelheit) anderenfalls sich und nachfolgende Verkehrsteilnehmer gefährdet hätte. Der Anruf bei der Polizei am nächsten Morgen sei noch „unverzüglich“ im Sinne von § 142 Abs. 2 StGB gewesen.

Dagegen richtet sich die Berufung der Beklagten: Zwar habe sich die Klägerin mit nur geringer Schuld von der Unfallstelle entfernt, gleichwohl liege jedoch eine vorsätzliche Obliegenheitsverletzung vor, die nach dem „Alles-oder-Nichts-Prinzip“ zum Verlust des Versicherungsschutzes führen müsse. Unter Berücksichtigung der polizeilichen Vermerke in der beigezogenen Strafakte könne nicht von einem entschuldigenden Notstand im Sinne des § 35 StGB ausgegangen werden. Denn danach seien alle verunfallten Fahrzeugführer an der Unfallstelle geblieben; nur die Klägerin habe die Unfallstelle verlassen und habe nur mit Hilfe des festgehaltenen Kennzeichens sowie durch den Bericht eines Polizeibeamten ermittelt werden können.

Die Klägerin verteidigt das angefochtene Urteil. Sie verweist darauf, dass sie 10 bis 15 Minuten an der Unfallstelle gewartet habe; sie sei auch nicht etwa losgefahren, als die Polizeifahrzeuge erschienen seien. Das Landgericht habe zu Recht die Voraussetzungen des § 35 StGB bejaht.

Die Berufung der Beklagten hat nach dem gegenwärtigen Sach- und Streitstand keine Aussicht auf Erfolg.

Was den Sachverhalt betrifft, so bestreitet die Beklagte nicht, dass die Klägerin nach der Kollision mit der Leitplanke ca. 10 bis 15 Minuten an der Unfallstelle gewartet hat, bevor sie diese verließ. Entgegenstehendes ergibt sich auch nicht aus den polizeilichen Vermerken in der Ermittlungsakte, wonach die Klägerin mit ihrem Fahrzeug eine gewisse Zeitspanne – die die Polizeibeamten nicht näher bestimmen konnten – im Leitplankenbereich gestanden hat; während dieser Zeit wurden nach dem polizeilichen Vermerk Bl. 10 der Strafakte von den Polizeibeamten zunächst zahlreiche andere Unfallbeteiligte „abgefertigt“, was offenbar eine nicht unerhebliche Zeit gedauert hat. In dieser Situation verließ die Klägerin, deren Kfz-Zeichen ein Polizeibeamter zuvor bereits notiert hatte, die Unfallstelle.

In rechtlicher Hinsicht ist davon auszugehen, dass es an einer Leistungsfreiheit der Beklagten fehlt, auch wenn man davon ausgeht, dass die Klägerin den objektiven und den subjektiven Tatbestand des § 142 StGB erfüllt hat und auch die Voraussetzungen des § 35 StGB nicht zu bejahen sind.

Allerdings ist bei einem Verstoß gegen § 142 StGB regelmäßig auch die versicherungsrechtliche Aufklärungspflicht verletzt; dies gilt grundsätzlich auch für die Kaskoversicherung, wenn ein Fremdschaden entstanden ist, der nicht völlig unerheblich ist; bei einem Leitplankenschaden von ca. 500,00 € ist eine solche völlige Unerheblichkeit zu verneinen (vgl. Prölss/Martin, 27. Aufl., § 7 AKB, Rn. 24, 25). Bei der Kaskoversicherung gilt jedoch, anders als bei der Kfz-Haftpflichtversicherung, die Verweisung auf § 6 Abs. 3 VVG (siehe § 7 V 4 AKB). Im Rahmen von § 6 Abs. 3 VVG sind aber nicht strafrechtliche, sondern versicherungsrechtliche Maßstäbe heranzuziehen.

Die Berufungsbegründung geht von einer vorsätzlichen Verletzung der Aufklärungspflicht durch die Klägerin aus. Dies kann im Folgenden unterstellt werden. Es handelt sich dann um eine vorsätzliche Obliegenheitsverletzung, die folgenlos geblieben ist. Für den Fall einer folgenlosen vorsätzlichen Obliegenheitsverletzung gilt aber die von der Rechtsprechung entwickelte „Relevanztheorie“, und zwar auch für die Kfz-Kaskoversicherung (BGH VersR 1984, 228). Diese Rechtsprechung beruht auf der Erwägung, die völlige Leistungsfreiheit des Versicherers und damit das Alles-oder-Nichts-Prinzip sei bei vorsätzlichen, folgenlosen Obliegenheitsverletzungen in bestimmten Fällen eine zu harte „Strafe“ für den Versicherungsnehmer; der letztgenannte Gesichtspunkt wird übrigens in der Berufungsbegründung ausdrücklich für den vorliegenden Fall bejaht.

Danach kann sich die Versicherung auf die eigentlich vorliegende Leistungsfreiheit dann nicht berufen, wenn die Obliegenheitsverletzung nicht generell geeignet war, die Interessen des Versicherers ernsthaft zu gefährden und in subjektiver Hinsicht den Versicherungsnehmer kein erhebliches Verschulden trifft (vgl. Römer/Langheid, VVG, 2. Aufl., § 6, Rn. 51 und 82).

Beide Voraussetzungen sind vorliegend zu bejahen. Die Handlungsweise der Klägerin war nicht generell geeignet, die Interessen der Beklagten zu gefährden. Da vorliegend die Polizei das Kennzeichen der Klägerin bereits notiert hatte und auch die Einzelheiten der Kollision mit der Leitplanke von der Polizei auch ohne Mitwirkung der Klägerin an der Unfallstelle bereits festgestellt waren (siehe Bl. 10 und 16 Strafakte) und da die Klägerin zudem den Unfall bereits am nächsten Morgen der Polizei gemeldet hat, war das Aufklärungsinteresse der Beklagten durch das Verlassen der Unfallstelle nicht tangiert; insbesondere gibt es im vorliegenden Fall keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Beklagten dadurch der Einwand auf eine etwaige Trunkenheit am Steuer oder auf § 61 VVG abgeschnitten worden sein könnte.

Es ist zudem auch nicht von einem erheblichen Verschulden der Klägerin auszugehen, was übrigens auch die Beklagte gemäß S. 2 der Berufungsbegründung so sieht. Dafür sprechen vorliegend der nur relativ geringe Fremdschaden an einer Leitplanke sowie die Tatsache, dass die Klägerin immerhin 10 bis 15 Minuten an der Unfallstelle verweilt hat, während die Polizei die Unfallaufnahme bei zahlreichen anderen Unfallbeteiligten durchgeführt hat. Zudem hat die Klägerin den Unfall bereits am nächsten Morgen über ihre Mutter der Polizei mitgeteilt. Dem entsprechend verneint die Rechtsprechung in vergleichbaren Fällen ein erhebliches Verschulden, wenn nur ein geringer Schaden entstanden ist und der Versicherungsnehmer zwar verspätet, aber noch aus eigenem Antrieb seiner Aufklärungsobliegenheit nachgekommen ist (vgl. OLG Karlsruhe NJW-RR 1993, 99; Römer/Langheid, a.a.O., § 6, Rn. 82; Prölss/Martin, a.a.O., § 7 AKB, Rn. 18).

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