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Versicherungsschutz trotz bewusst riskanter Fahrweise!

Bundessozialgericht

Az.: B 2 U 11/01 R

Urteil vom 04.06.2002


Leitsatz (vom Verfasser – nicht amtlich!): Arbeitnehmer haben selbst dann einen Anspruch gegen die gesetzliche Unfallversicherung, wenn sie auf dem Weg zur Arbeit durch einen „bewusst riskanten Fahrstil“ einen Unfall verursachen. Auch eine vorsätzliche Gefährdung des Straßenverkehrs, die zu einem Unfall führt, vermag daran nichts ändern.


Sachverhalt und Entscheidungsgründe: Ein Mann hatte mit seinem Auto bei Dunkelheit vor einer Bergkuppe und einer Rechtskurve eine Fahrzeugkolonne überholt und war dabei mit einem entgegenkommenden Wagen zusammengestoßen. Wegen des Unfalls wurde er zu einer Geldstrafe verurteilt.

Nach Ansicht der Richter des Bundessozialgerichts besteht auch in diesem Fall Versicherungsschutz, da dass Gesetz nicht vorschreibt, wann der Versicherungsschutz versagt werden muss.


Der 2. Senat des Bundessozialgerichts hat auf die mündliche Verhandlung vom 4. Juni 2002 für Recht erkannt:

Auf die Revision des Klägers werden das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 15. November 2000, der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 13. Oktober 1999 sowie der Bescheid der Beklagten vom 14. Juli 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Oktober 1998 aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger für die Folgen des am 31. Januar 1997 erlittenen Arbeitsunfalls zu entschädigen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits in allen drei Rechtszügen zu erstatten.

 

Gründe

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Unfall des Klägers vom 31. Januar 1997 als Arbeitsunfall zu entschädigen ist.

 

Der im Jahre 1958 geborene Kläger erlitt an diesem Tage auf der Fahrt mit dem Pkw von seiner Wohnung in F. zu einem Betrieb in H., wo er im Rahmen einer ihm vom Arbeitsamt gewährten Maßnahme der Berufsförderung ein Praktikum absol­vierte, einen Verkehrsunfall. Er überholte bei Dunkelheit auf der Landstraße vor einer Bergkuppe und einer Rechtskurve eine Fahrzeugkolonne, wobei er mit einem entgegen­kommenden Pkw seitlich zusammenstieß. Dessen Fahrer und der Kläger selbst wurden dabei erheblich verletzt. Wegen dieses Vorfalls wurde der Kläger vom Amtsgericht Hanau (AG) durch das rechtskräftige Urteil vom 19. Januar 1998 wegen vorsätzlicher Straßen­verkehrsgefährdung in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung gemäß § 315c Abs 1 Nr2b, Abs 3 Nr 1, §§ 230, 52 des Strafgesetzbuchs (StGB) zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 100,00 DM bestraft, seine Fahrerlaubnis wurde für die Dauer von drei Monaten entzogen. Er habe grob verkehrswidrig und rücksichtslos falsch überholt und dadurch fahrlässig Leib und Leben anderer Verkehrsteilnehmer und fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet.

 

Nach Beiziehung der Strafakten lehnte die Beklagte Entschädigungsleistungen wegen dieses Verkehrsunfalls ab, weil der innere Zusammenhang mit dem versicherten Zurück­legen des Weges durch das grob verkehrswidrige und rücksichtslose Verhalten des Klä­gers entfallen sei (Bescheid vom 14. Juli 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbeschei­des vom 20. Oktober 1998). Klage und Berufung waren erfolglos (Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Frankfurt am Main <SG> vom 13. Oktober 1999 und Urteil des Hessischen Landessozialgenchts <LSG> vom 15. November 2000).

Das LSG hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt, nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) für den Bereich der Soldatenversorgung seien bei einer Verurteilung nach § 315c Abs 1 Nr 2 StGB Zweifel an der Verfolgung wehrdienstfremder Zwecke – Handeln aus Eigensucht – und deren Überwiegen gegenüber dem wehrdienstlichen Zweck ausgeschlossen (Hinweis auf BSGE 75,180 = SozR 3-3200 § 81 Nr 12). Die Feststellung eigensüchtigen Verhaltens schließe die Annahme aus, dass er trotzdem überwiegend im dienstlichen Interesse gehandelt habe. Ebenso wie alkohol­bedingte Fahruntüchtigkeit als die wesentliche Bedingung für einen Unfall gewertet werde, müsse dies auch für einen sich eigensüchtig über elementare Regeln und Vor­schriften des Straßenverkehrs hinwegsetzenden Kraftfahrer gelten. Diese Wertungen seien auf den Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung zu übertragen. Danach führe ein verbotswidriges oder sogar mit Kriminalstrafe geahndetes Verhalten zwar nicht gene­rell zum Ausschluss des Unfallversicherungsschutzes. Komme es aber zu einer rechts­kräftigen Verurteilung des Versicherten auf einem nach § 8 Abs 2 Nr 1 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) geschützten Weg wegen einer Straßenverkehrsge­fährdung nach § 315c Abs 1 Nr2b StGB, so seien nicht mehr die geschützten allgemei­nen Verkehrsgefahren als wesentliche Bedingung für den von ihm herbeigeführten Verkehrsunfall anzusehen, sondern allein das grob verkehrswidrige und rücksichtslose Ver­halten des Versicherten im Verkehr. Eine Motivforschung im Hinblick auf das Fehlverhal­ten des Klägers sei entbehrlich, da insbesondere die (vom Kläger behauptete) Absicht, den Arbeitsplatz noch rechtzeitig zu erreichen, kein den Zusammenhang herstellendes Interesse zu begründen vermöge. Mit seinem Verhalten habe der Kläger nicht mehr in erster Linie seinem Beschäftigungsverhältnis dienende. Zwecke verfolgt, sondern habe rücksichtslos eigene Interessen vorangestellt und dadurch die Verletzungen selbst verur­sacht, für die er nach der der gesetzlichen Regelung zugrunde liegenden Wertentschei­dung keine Entschädigungsleistungen der gesetzlichen Unfallversicherung verlangen könne.

 

Mit seiner – vom BSG zugelassenen – Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 8 SGB VII. Er sei bei dem Überholmanöver davon ausgegangen, dass er dieses unbescha­det beenden und dadurch seine Arbeitsstelle pünktlich erreichen könne, habe den Ver­kehrsunfall mithin nicht absichtlich herbeigeführt.

 

Der Kläger beantragt, das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 15. November 2000 sowie den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 13. Oktober 1999 aufzuheben und die Beklage unter Aufhebung des Bescheides vom 14. Juli 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Oktober 1998 zu verurteilen, den Unfall vom 31. Januar 1S97 als Wegeunfall in gesetzlichem Umfang zu entschädi­gen.

 

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen. Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Die Revision des Klägers ist begründet. Er hat entgegen der Auffassung der Vorinstanzen am 31. Januar 1997 einen Arbeitsunfall erlitten, den die Beklagte zu entschädigen hat.

Arbeitsunfälle sind nach § 8 Abs 1 SGB VII Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit (versicherte Tätig­keit). Versicherte Tätigkeit ist nach § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit. Da diese Vorschriften inhaltlich im Wesentlichen mit den früheren Regelungen des § 548 Abs 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und des § 550 Abs 1 RVO übereinstimmen, kann die hierzu ergangene Rechtsprechung auch für die rechtliche Beurteilung des Vorliegens von Arbeits- und auch Wegeunfällen nach den Vorschriften des SGB VII weiter herangezogen werden, soweit nicht die wenigen Änderungen des materiellen Rechts (ua §8 Abs 2 Nr 2 bis 5 SGB VII) entgegenstehen (BSG SozR 3-2700 §8 Nr1, 3, 6, 9). Danach ist Voraussetzung für die Anerkennung eines Arbeitsunfalls, dass das Verhalten, bei dem sich der Unfall ereignet hat, in einem inneren (sachlichen) Zusammenhang mit der Betriebstätigkeit steht, der es rechtfertigt, das betreffende Verhalten der versicherten Tätigkeit zuzurechnen. Der innere Zusammenhang ist gegeben, wenn die Zurücklegung des Weges der Aufnahme der ver­sicherten Tätigkeit bzw nach Beendigung dieser Tätigkeit der Erreichung der Wohnung oder eines dritten Ortes dient. Bei der Feststellung des inneren Zusammenhangs zwi­schen dem zum Unfall führenden Verhalten und der Betriebstätigkeit geht es um die Ermittlung der Grenze, bis zu welcher der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung reicht. Es ist daher wertend zu entscheiden, ob das Handeln des Ver­sicherten zur versicherten betrieblichen Tätigkeit bzw – wie hier – zum Weg zur oder von der Arbeitsstätte gehört (BSGE 58, 76, 77 = SozR 2200 § 548 Nr 70; BSG SozR 3-2200 § 550 Nr 1 und 14). Maßgeblich ist dabei die Handlungstendenz des Versicherten, so wie sie insbesondere durch objektive Umstände des Einzelfalls bestätigt wird (BSG SozR 3-2200 § 550 Nr4 und 16, jeweils mwN). Diese fehlt etwa dann, wenn der Versicherte den Weg zur Arbeitsstelle für zum Erreichen dieses Zieles nicht dienliche Zwecke nutzen will, wozu etwa eine Selbsttötung durch Verursachung eines Verkehrsunfalls oder die Veran­staltung eines Wettrennens gehören würden (vgl BSG SozR 3-2200 § 550 Nr21 mwN).

 

Fehlt es an einem inneren Zusammenhang in diesem Sinne, scheidet ein Versicherungs­schutz selbst dann aus, wenn sich der Unfall auf derselben Strecke ereignet, die der Ver­sicherte auf dem Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit gewöhnlich benutzt (BSG SozR 3-2200 §550 Nr4 und 16, jeweils mwN). Für die tatsächlichen Grundlagen des Vorliegens versicherter Tätigkeit muss der volle Beweis erbracht werden, das Vorhan­densein versicherter Tätigkeit also sicher feststehen (vg! BSGE 58, 76, 77 = SozR 2200 § 548 Nr 70; BSGE 61, 127, 128 = SozR 2200 § 548 Nr 84 mwN), während für die kau­sale Verknüpfung zwischen ihr und dem Unfall die hinreichende Wahrscheinlichkeit genügt (vgl BSGE 58, 80, 82 = SozR 2200 § 555a Nr 1 mwN).

 

Da der Kläger nach den nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen ange­griffenen und damit für den Senat bindenden Feststellungen (§ 163 des Sozialgerichtsge­setzes <SGG>) des LSG Teilnehmer an einer berufsfördernden Maßnahme war, gehörte er als Lernender gemäß § 2 Abs 1 Nr2 SGB VII zu dem gegen Unfall versicherten Per­sonenkreis (vgl Begründung der Bundesregierung, BT-Drucks 13/2204 S 74 zu § 2 Abs 1 SGB VII); dieser Unfallversicherungsschutz erstreckte sich gemäß §8 Abs 2 Nr1 SGB VII auch auf Wege zur und von der Betriebsstätte, dem Schulungsort usw, hier dem Ort des in die berufsfördernde Maßnahme einbezogenen Praktikums als Betriebsstätte (oder jedenfalls ähnlicher Einrichtung). Nach den bindenden Feststellungen des LSG befand sich der Kläger auf dem (direkten) Weg dorthin. Entgegen der Ansicht der Vorin­stanzen bestand dabei auch noch zum Unfallzeitpunkt ein innerer Zusammenhang zwi­schen dem zum Unfall führenden Verhalten und der versicherten Tätigkeit.

 

Das Befahren der Straße in Richtung Hanau war zum Erreichen dieses Zieles ohne Zweifel dienlich. Auch der Überholvorgang, bei dem sich der Unfall ereignete und der nach den bindenden Feststellungen des LSG bei Dunkelheit vor einer Bergkuppe und einer Rechtskurve stattfand, diente noch diesem Zweck, da mit ihm ein Teil der Wegstre­cke zum Praktikumsort zurückgelegt werden sollte. Dass der konkrete Überholvorgang gegen ein gesetzliches Verbot verstieß und dass durch dieses Verhalten die allgemeine Verkehrsgefahr für den Kläger ganz erheblich erhöht wurde (und sich dann auch verwirk­lichte), machte diese Handlung noch nicht zu einer privaten, betriebsfremden und damit unversicherten Tätigkeit.

 

Dadurch, dass eine zum Unfall fuhrende Handlung mit der Rechtsordnung nicht überein­stimmt, insbesondere verbotswidrig ist, wird der Versicherungsschutz noch nicht in Frage gestellt. Denn verbotswidriges Handein, zu dem auch ein Verstoß gegen gesetzliche -auch strafrechtlich bewehrte – Verbote gehört (Brackmann/Krasney, SGB VII, § 7 RdNr 16 mwN), schließt nach der ausdrücklichen Bestimmung des § 7 Abs 2 SGB VII, die mit der Vorgängervorschrift des § 548 Abs 3 RVO im Wesentlichen übereinstimmt, die Annahme eines Versicherungsfalles in Gestalt eines Arbeitsunfalles (Abs 1 aaO) nicht aus, selbst wenn bei einem nicht rechtswidrigen Handeln der Unfall nicht eingetreten wäre (BSGE 42, 129,133 = SozR 2200 § 548 Nr22). Die Rechtsprechung des BSG hat dementspre­chend in zahlreichen Fällen ein verbotswidriges Handeln im Rahmen der versicherten Tätigkeit als unschädlich für den Versicherungsschutz erachtet (vgl BSG SozR 3-2200 §550 Nr21 und Brackmann/Krasney, aaO, RdNr17, beide mit zahlreichen Beispielen). Der Umstand, dass der Kläger auf dem Weg zur Betriebsstätte in verbotswidriger, straf­barer Weise überholte, führt mithin für sich noch nicht zum Verlust des Unfallversiche­rungsschutzes auf diesem Teilstück des Weges. Dass der Kläger deswegen rechtskräftig verurteilt wurde, ändert daran insoweit nichts, da § 7 Abs 2 SGB VII keine Beschränkung auf unbestraftes verbotswidriges Verhalten vorsieht.

 

Eine mit dem verbotswidrigen Überholen verbundene, auf betriebsfremde Zwecke gerichtete Handlungstendenz des Klägers hat das LSG hier indes nicht festgestellt. Es hat unter Bezugnahme auf die rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilung des Klägers durch das AG Hanau dargelegt, bei einer solchen Verurteilung wegen Straßenverkehrs­gefährdung nach § 315c Abs 1 Nr 2b StGB seien nicht mehr die geschützten allgemeinen Verkehrsgefahren als wesentliche Bedingung für den vom Versicherten herbeigeführten Verkehrsunfall anzusehen, sondern allein dessen grob verkehrswidriges und rücksichts­loses – eigensüchtiges – Verhalten im Verkehr; dies schließe einen inneren Zusammen­hang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Zurücklegen des Weges aus. Dabei handelt es sich indes nicht um die tatsächliche Feststellung einer auf betriebsfremde Zwecke gerichteten Handlungstendenz, sondern um eine rechtliche Wertung. Den Aus­führungen des LSG, eine „Motivforschung im Hinblick auf das Fehlverhalten des Klägers“ sei entbehrlich, da die Absicht, den Arbeitsplatz noch rechtzeitig zu erreichen, kein den Zusammenhang herstellendes betriebliches Interesse zu begründen vermöge, ist nicht zu entnehmen, dass hier tatsächlich das Vorliegen einer betriebsfremden Handlungstendenz in Betracht gekommen, vom LSG jedoch aus Rechtsgründen nicht ermittelt worden wäre. Sie sind im Gesamtzusammenhang vielmehr so zu verstehen, dass der Kläger zwar wei­terhin sein Ziel, die Betriebsstätte, erreichen wollte, jedoch durch sein strafbares Verhal­ten „rücksichtslos eigene Interessen vorangestellt“ und dadurch -nach Wertung des LSG – den Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit unterbrochen hat, ohne dass es noch auf die Motivation für diese Handlungsweise ankäme. Dieses Verhalten blieb indes – rücksichtsloses und verkehrswidriges – Fahren in Richtung auf den Zielort, an dem die versicherte Tätigkeit beginnen sollte; die tatsächlichen berufungsgerichtlichen Feststel­lungen stehen dem nicht entgegen.

Wie in dem bereits entschiedenen Fall einer Verurteilung des auf dem Weg zur Arbeits­stätte verunglückten Versicherten wegen einer fahrlässigen Straßenverkehrsgefährdung mit fahrlässiger Körperverletzung nach § 315c Abs 1 Nr 2b, Abs 3 Nr 2 StGB (BSG, Urteil vom 19. Dezember 2000 – B 2 U 45/99 R = SozR 3-2200 § 550 Nr 21), die in der Fachlite­ratur soweit ersichtlich auf Zustimmung gestoßen ist (s etwa Benz, SGb 2001, 516 und Schur, NZS 2002, 49) vermag sich der Senat auch für den vorliegenden Fall der Verur­teilung des Versicherten wegen einer vorsätzlichen Straßenverkehrsgefährdung mit fahr­lässiger Körperverletzung nach § 315c Abs 1 Nr2b, Abs 3 Nr 1 StGB einer solchen Auf­fassung, wie sie hier das LSG vertritt, nicht anzuschließen. Hierfür gelten im Wesentli­chen dieselben Erwägungen wie bei der Entscheidung vom 19. Dezember 2000; dass im vorliegenden Fall – anders als bei der am 19, Dezember 2000 entschiedenen Sache – die Straßenverkehrsgefährdung vorsätzlich begangen wurde und die Vorschriften des SGB VII anzuwenden sind, führt zu keiner anderen Beurteilung.

 

Auch wenn das strafbare Verhalten vorsätzlich war und als wesentliche Ursache des Unfalls anzusehen ist, kann dies nach der aus den einschlägigen Regelungen des SGB VII zu erkennenden Wertung des Gesetzgebers regelmäßig nicht zum Verlust des Versicherungsschutzes überhaupt führen. Zum einen folgt dies – wie oben dargelegt – aus § 7 Abs 2 SGB VII. Auch aus der Regelung in § 101 Abs 2 SGB VII, nach der in dem Fall, dass der Verletzte den Arbeitsunfall beim Begehen einer Handlung, die nach rechtskräfti­gem strafgerichtlichem Urteil ein Verbrechen oder vorsätzliches Vergehen ist, erlitten hat, die Leistungen ganz oder teilweise versagt werden können, wird dies deutlich. Denn damit wird vorausgesetzt, dass der Unfallversicherungsschutz bei diesen – qualifiziert strafbaren, auch vorsätzlich begangenen- Handlungen grundsätzlich zuerst einmal bestehen bleibt, der innere Zusammenhang zwischen dem zum Unfalf führenden Verhal­ten und der versicherten Tätigkeit also durch dieses Verhalten nicht von selbst entfällt, sondern vielmehr regelmäßig gegeben sein kann und erst die Entschädigung im Wege des pflichtgemäßen Ermessens des Unfallversicherungsträgers gekürzt oder ganz ver­sagt werden kann. Diese Wertung ist bei der Untersuchung, wie weit der Versicherungs­schutz in der gesetzlichen Unfallversicherung im Bereich auch der Wegeunfallversiche­rung reicht, zu berücksichtigen. Dass die vom Senat in seiner Entscheidung vom 19. Dezember 2000 (aaO) weiter hierzu herangezogene Regelung des § 553 Satz 1 RVO, nach welcher (erst dann) kein Entschädigungsanspruch besteht, wenn der Ver­letzte den Arbeitsunfall absichtlich verursacht, dh diesen Erfolg als Ziel seines Handelns erstrebt hat (s bereits BSGE 1, 150, 155), nicht in das SGB VII übernommen worden ist, bedeutet keine inhaltliche Änderung der Wertvorgaben des Gesetzgebers; eine entspre­chende Vorschrift wurde vielmehr lediglich für entbehrlich gehalten, weil im Fall der absichtlichen Herbeiführung des Unfalls durch den Versicherten selbst kein Versicherungsfall iS des § 7 vorliege (Begründung der Bundesregierung, BT-Drucks 13/2204 S 99 zu § 101 SGB VII). Aus der Gesamtsicht der Regelungen des SGB VI! – wie zuvor denen der RVO – folgt, dass auch ein vorsätzliches strafbares Handeln nicht zum Wegfall des inneren Zusammenhangs im obigen Sinne und damit des Unfallversicherungsschutzes führen muss.

Erforderlich ist für das Entfallen des inneren Zusammenhangs aufgrund des Vorliegens einer strafbaren Handlung vielmehr auch bei Vorsatz, dass die Handlungstendenz des Versicherten bei einem solchen Verhalten auf einen betriebsfremden Zweck gerichtet ist. Dass seine Handlungsweise als grob verkehrswidrig und rücksichtslos iS des §315c Abs 1 Nr 2b StGB und – daraus gefolgert – „eigensüchtig“ zu qualifizieren ist, kann dem­nach hierfür nicht ausreichen. Denn der Bezug zum Zurücklegen des Weges, dem betrieblichen Zweck, wird dadurch nicht aufgehoben. Es handelt sich vielmehr weiterhin um ein Verkehrsverhalten, das die Fortbewegung zur Betriebsstätte zum Ziel hat und sich deshalb innerhalb des im Rahmen der Wegeunfallversicherung versicherten Risikos der allgemeinen Verkehrsgefahren hält; eine qualitative Veränderung des Verhaltens in Richtung auf einen betriebsfremden – nicht der Zurücklegung des Weges dienlichen -Zweck liegt nicht vor. Die grobe Verkehrswidrigkeit und die Rücksichtslosigkeit des Ver­haltens betreffen lediglich die Qualität der – grundsätzlich unter dem Schutz der gesetzli­chen Unfallversicherung stehenden – Fortbewegung in Richtung Ziel, ohne etwas anderes als das Erreichen des Ziels zu bezwecken. Auf eine Abwägung zwischen dem betriebli­chen Interesse und der Sicherheit des Straßenverkehrs kann es in diesem Zusammen­hang aus unfallversicherungsrechtlichen Gesichtspunkten nicht ankommen. Die Berück­sichtigung einer dem strafrechtlichen Schuldvorwurf entnommenen „Eigensucht“ als eines betriebsfremden Zweckes würde indes den dem Recht der gesetzlichen Unfallversiche­rung eigenen Grundsatz des verschuldensunabhängigen Versicherungsschutzes ohne entsprechende gesetzliche Grundlage für die hier vorliegende Fallgestaltung aufheben.

Eine durch grob verkehrswidrige und rücksichtslose Fahrweise begangene Gefährdung des Straßenverkehrs ist – auch wenn sie vorsätzlich begangen wird – hinsichtlich der Beurteilung des Vorliegens des inneren Zusammenhangs nicht mit einer durch Fahren unter Alkoholeinwirkung verursachten Verkehrsgefährdung infolge herabgesetzter Fahr­tüchtigkeit gleichzusetzen, wie es der 9. Senat des BSG für angezeigt hält (BSGE 75, 180,183 = SozR 3-3200 § 81 Nr 12). Denn während der Alkoholgenuss wegen der damit untrennbar verbundenen Herabsetzung oder Aufhebung der Fahrtüchtigkeit generell von vornherein nicht zum Erreichen des Ortes der Tätigkeit im Straßenverkehr geeignet und damit in keiner Weise betriebsdienlich ist, ist das Fahren in Richtung Ziel – wie oben auf­gezeigt – auch bei grob verkehrswidriger und rücksichtsloser Fahrweise dazu im Allge­meinen geeignet und damit betriebsdienlich, wie der Senat bereits in seiner Entscheidung vom 19. Dezember 2000 (aaO) dargelegt hat.

 

Das riskante Überholen stellt auch keine „selbstgeschaffene Gefahr“ dar, die zum Verlust des Unfallversicherungsschutzes führen könnte. Der Begriff „selbstgeschaffene Gefahr“ ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG eng auszulegen und nur mit größter Zurückhaltung anzuwenden. Einen Rechtssatz des Inhalts, dass der Versicherungsschutz entfällt, wenn der Versicherte sich bewusst einer höheren Gefahr aussetzt und dadurch zu Schaden kommt, gibt es nicht; auch leichtsinniges unbedachtes Verhalten beseitigt den bestehenden inneren Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit nicht. Dies ist vielmehr nur ausnahmsweise dann der Fall, wenn ein Beschäftigter sich derart sorglos und unvernünftig verhält, dass für den Eintritt des Arbeitsunfalls nicht mehr die versi­cherte Tätigkeit, sondern die selbstgeschaffene Gefahr als die rechtlich allein wesentliche Ursache anzusehen ist (vgl BSG vom 5. August 1976 -2 RU 231/74 = BSGE42, 129, 133 = SozR 2200 § 548 Nr22). Dabei hat das BSG stets klargestellt, dass ein solches Verhalten den Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall nie ausschließt, wenn der Versicherte ausschließlich betriebliche Zwecke verfolgt, die selbst­geschaffene Gefahr also erst dann Bedeutung bekommt, wenn ihr betriebsfremde Motive zugrunde liegen (vgl BSG vom 2. November 1988 -2RU 7/88- BSGE 64, 159, 161 = SozR 2200 § 548 Nr 93 rnwN). Dies ist hier indes nach den obigen Ausführungen gerade nicht der Fall.

 

Der Senat weicht mit seiner Entscheidung nicht von dem bereits zitierten Urteil des 9 Senats des BSG vom 11. Oktober 1994 (9 RV 8/94 = BSGE 75, 180 = SozR 3-3200 §81 Nr12) ab, auf das sich das LSG in seinen Entscheidungsgründen ausdrücklich bezogen hat. Eine Divergenzvorlage gemäß § 41 Abs 2 SGG hatte nicht zu erfolgen, weil deren Voraussetzungen – beabsichtigte Abweichung des erkennenden Senats in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen Senats oder des Großen Senats – nicht vorliegen Eine Abweichung iS des § 41 Abs 2 SGG von der Entscheidung eines anderen Senats ist nur dann beabsichtigt, wenn es sich um die unterschiedliche Beantwortung derselben Rechtsfrage, auf der die frühere Entscheidung eines anderen Senats beruht, handelt, also Identität der Rechtsfrage in der zu entscheidenden Sache und der früheren Entscheidung des anderen Senats besteht (vgl BSGE 65, 281, 287 = SozR 4100 § 134 Nr38) Um dieselbe Rechtsfrage handelt es sich nicht nur bei der Auslegung derselben Rechtsvorschrift, sondern auch dann, wenn es die Auslegung des gleichen Rechtssatzes betrifft, der auch in verschiedenen – unterschiedliche Fachgebiete betreffenden – Vor­schriften seinen Niederschlag gefunden hat und aufgrund einer Gesamtschau einheitlich zu beurteilen ist (BSGE 44, 151, 154 =SozR 1500 §43 Nr2; Meyer-Ladewig, SGG, 7. Aufl, § 41 RdNr 9 mwN)

Die genannte Entscheidung des 9. Senats ist auf dem Gebiet des Soldatenversorgungsrechts ergangen, und die von ihm entschiedene Rechtsfrage betrifft die Auslegung des §81 Abs1 und 4 Satz 1 Nr2 des Soldatenversorgungsgesetzes (SVG), während die Entscheidung des erkennenden Senats auf dem Gebiet der gesetzlichen Unfallversiche­rung ergeht und die Auslegung des § 8 Abs 1 und 2 Nr 1 SGB VII betrifft. Diese Vor­schriften stimmen allerdings im Wortlaut im Wesentlichen überein. Auch hat der 9. Senat in der Entscheidung vom 11. Oktober 1994 -wie auch bereits früher (stellvertretend BSG SozR 3200 § 81 Nr 24 mwN) – ausgeführt, die Grundentscheidungen des sozialen Unfall­versicherungsrechts seien auch im Entschädigungsrecht zu beachten (BSGE75, 180, 182 = SozR aaO). Damit ist die von ihm entschiedene Rechtsfrage indes noch nicht zu einer solchen auf dem Gebiet der gesetzlichen Unfallversicherung geworden, sondern betrifft weiterhin die Auslegung von Normen des SVG, für die lediglich bestimmte „Grund­entscheidungen“ des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung herangezogen werden. Da das SVG keine den für die Entscheidung des erkennenden Senats maßgeblichen § 7 Abs 2 und § 101 Abs 2 SGB VII entsprechenden Vorschriften kennt, kann hier von einer Identität der Rechtsfrage im obigen Sinne nicht ausgegangen werden.

Nach alledem waren die Urteile des SG und des LSG aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihrer angefochtenen Bescheide zu verurteilen, den Kläger für die Folgen des Arbeitsunfalls zu entschädigen.

Von der bei einer solchen Fallgestaltung in Betracht kommenden Möglichkeit, Entschädi­gungsleistungen im Ermessenswege gemäß §101 Abs 2 Satz 1 SGB VII zu versagen (vgl dazu Schur, NZS 2002,49, 50), hat die Beklagte bisher keinen Gebrauch gemacht.

Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG.

 

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