Oberlandesgericht Hamm
Az: 3 Ss OWi 620/07
Beschluss vom 24.09.2007
Das angefochtene Urteil mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde – an das Amtsgericht Essen zurückverwiesen.
Gründe:
I.
Das Amtsgericht Essen hat den Betroffenen wegen eines fahrlässigen Rotlichtverstoßes, wobei die Rotphase bereits länger als eine Sekunde andauerte, gemäß §§ 37 Abs. 2 Zif. 1, 49 StVO, 24 StVG zu einer Geldbuße von 125 EUR verurteilt und zugleich ein Fahrverbot für die Dauer eines Monats verhängt.
Das Amtsgericht hat zu dem Verkehrsverstoß folgende Feststellungen getroffen:
„Am 09.03.2007 gegen 3.45 Uhr befuhr der Betroffene mit dem Pkw Marke J mit dem amtlichen Kennzeichen ………. die Straße …-Straße …-Weg in F in Fahrtrichtung L Straße. An der Kreuzung …-Straße …-Weg / P-Straße missachtete er das Rotlicht der dort stehenden Lichtzeichenanlage, obwohl die Rotphase bereits länger als 1 Sekunde andauerte und fuhr in die Kreuzung ein und überquerte diese.“
In der Beweiswürdigung hat das Amtsgericht u.a. ausgeführt:
„Die beiden Zeugen haben sicher bekundet, dass die Ampel deutlich vor Überqueren der Haltelinie durch den Betroffenen Rotlicht gezeigt habe und der Betroffene dies auch sicher habe sehen können. Sie selber hätten das Rotlicht der Ampel schon von weitem gesehen. Sie waren sich auch sicher, dass das Rotlicht bereits länger als
1 Sekunde für ihn sichtbar gewesen ist.“
Gegen dieses Urteil richtet sich die Rechtsbeschwerde des Betroffenen.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht zurückzuverweisen.
II.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer Stellungnahme vom 10.09.2007 zu der Rechtsbeschwerde des Betroffenen Folgendes ausgeführt:
„Die gem. § 79 Abs. 1 Nr. 2 OWiG statthafte Rechtsbeschwerde ist rechtzeitig eingelegt und form- und fristgerecht begründet worden. Sie hat auch einen zumindest vorläufigen Erfolg.
1.
Soweit der Betroffene die fehlerhafte Behandlung seines Beweisantrages beanstandet, hätte er zur ordnungsgemäßen Erhebung der Rüge die den Mangel begründenden Tatsachen so genau bezeichnen und vollständig angeben müssen, dass das Beschwerdegericht schon anhand der Beschwerdebegründung ohne Rückgriff auf die Akten prüfen kann, ob ein Verfahrensverstoß vorliegt, falls die behaupteten Tatsachen zutreffen. Die Rüge ist insoweit aber nicht in der gem. § 79 Abs. 3 OWiG i.V.m. § 344 Abs. 2 S. 2 StPO gebotenen Form ausgeführt und deshalb unzulässig.
2.
Soweit der Verteidiger des Betroffenen die Zulassung der Rechtsbeschwerde beantragt hat, ist dieser Antrag gem. § 300 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 OWiG, § 344 Abs. 1, Abs. 2 StPO als Rechtsbeschwerde unter Erhebung der allgemeinen Sachrüge auszulegen.
Die Feststellungen der angefochtenen Entscheidung zu einem qualifizierten Rotlichtverstoß sind lückenhaft und halten der rechtlichen Überprüfung nicht Stand.
Der von dem Amtsgericht angenommene qualifizierte Rotlichtverstoß erfordert die Feststellung, dass der Fahrzeugführer das Rotlicht nach einer Rotlichtphase von mehr als einer Sekunde missachtet hat, wobei nach gefestigter obergerichtlicher Rechtsprechung der Zeitpunkt des Überfahrens der Haltelinie und, wenn diese nicht vorhanden ist, das Einfahren in den von der Lichtzeichenanlage gesicherten Kreuzungsbereich ausschlaggebend ist (zu vgl. Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 39. Aufl., § 37 Rdn. 61 m.w.N.). Um dem Rechtsbeschwerdegericht die rechtliche Überprüfung des Verstoßes zu ermöglichen, hat das Tatgericht nähere Feststellungen zu den örtlichen Verhältnissen und zum Ablauf des Rotlichtverstoßes zu treffen. Dies gilt insbesondere, wenn die Feststellungen zum Zeitablauf – wie hier – nicht auf einer technischen Messung mittels eines geeichten Messgerätes beruhen. Wegen der damit verbundenen zahlreichen Fehlermöglichkeiten bedarf es klarer und erschöpfender Feststellungen zum Zeitablauf sowie zur Entfernung des Fahrzeugs zum Einmündungsbereich zur Lichtzeichenanlage und zu einer ggfs. vorhandenen Haltelinie (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 29.10.1998, 4 Ss OWi 1254/98).
Diesen Anforderungen wird das Urteil nicht gerecht. Das Gericht hat nicht mitgeteilt, in welchem Abstand sich das Fahrzeug des Betroffenen zu einer Haltelinie bzw. zur Lichtzeichenanlage befunden haben soll, als diese bereits länger als eine Sekunde Rotlicht angezeigt haben soll. Auch fehlen Angaben zu der gefahrenen Geschwindigkeit des Betroffenen.
Die der Verurteilung zugrunde gelegten Feststellungen beruhen allein auf einer Schätzung der Zeugen C und A, die zudem keine gezielte Überwachung der Lichtzeichenanlage vornahmen, sondern dem Betroffenen nur hinterherfuhren.
Eine solche Schätzung kann nur dann ausreichen, wenn eine gezielte Überwachung der Lichtzeichenanlage erfolgt und die Schätzung durch weitere hinzutretende Umstände untermauert wird (vgl. Hentschel a.a.O., Rdn. 61b).
Beides ist hier nicht der Fall. Zum einen lag keine gezielte Überwachung der Lichtzeichenanlage vor. Zum anderen hat das Gericht keine Feststellungen zu weiteren Umständen getroffen, die die vorgenommene Schätzung hätten untermauern können, wie beispielsweise den Phasenwechsel einer zugehörigen Fußgänger-Lichtzeichenanlage oder das Anfahren des Querverkehrs.
Die Feststellungen zur Einsehbarkeit der Lichtzeichenanlage durch den Betroffenen, wonach ein LKW in 50 Meter Entfernung von der Lichtzeichenanlage gestanden haben soll, reichen als Bezugspunkt nicht aus, da ein Zusammenhang zwischen dem Standort des LKW und der Entfernung des Fahrzeugs des Betroffenen von der Lichtzeichenanlage hieraus nicht hergeleitet werden kann.
Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht zurückzuverweisen.“
Diesen zutreffenden Ausführungen schließt sich der Senat nach eigener Sachprüfung an und macht sie zur Grundlage seiner Entscheidung. Dabei weist der Senat darauf hin, dass die Feststellung eines qualifizierten Rotlichtverstoßes aufgrund der Angaben von Polizeibeamten oder anderen Zeugen bei einer zufälligen Rotlichtüberwachung nicht von vorneherein ausgeschlossen ist (vgl. Senat, Beschluss vom 29.08.2002, 3 Ss OWi 729/02, NZV 02, 577). Jedoch muß die im Urteil festgestellte Verkehrssituation in solchen Fällen konkrete Tatsachen aufweisen, auf denen die Schätzung der Dauer der Rotlichtphase zum Zeitpunkt des Überfahrens der Haltelinie beruht und einer gerichtlichen Überprüfung zugänglich sein. Bloße Schätzungen sind wegen der Ungenauigkeit des menschlichen Zeitgefühls in der Regel mit einem erheblichen Fehlerrisiko behaftet (vgl. Hanseatisches OLG, Beschluss vom 29.12.2004, NZV 2005, 209, 210 m.w.N; OLG Köln, Beschluss vom 07.09.2004, NJW 2004, 3439 m.w.N.). Eine Überprüfung der Schätzung ermöglichen neben den von der Generalstaatsanwaltschaft genannten Umständen beispielsweise auch die Mitteilung, nach welcher Methode der Zeuge die Zeit geschätzt hat (etwa durch Mitzählen), mit welchen Geschwindigkeiten der Betroffene und der Zeuge gefahren ist, in welchem Abstand sich die Fahrzeuge dabei zur Haltelinie befanden, bzw. in welchem Abstand die Fahrzeuge hintereinander her gefahren sind (vgl. Hanseatisches OLG, a.a.O.).
Da der Erfolg der Rechtsbeschwerde noch nicht feststeht, hat das Amtsgericht in der neuen Entscheidung auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde zu befinden.