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Schadensersatzprozess wegen Verkehrssicherungspflichtverletzung – Pflicht zur Beweiserhebung

OLG München –  Az.: 3 U 4256/13 –  Urteil vom 05.02.2014

I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Endurteil des Landgerichts München I vom 10.09.2013 nebst dem zugrunde liegenden Verfahren aufgehoben.

II. Der Rechtsstreit wird zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht München I zurückverwiesen.

III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

I.

Gegenstand des Berufungsverfahrens ist ein von der Klägerin geltend gemachter Anspruch auf Schadensersatz und Schmerzensgeld sowie Feststellung der Pflicht des Beklagten zum Ersatz zukünftigen materiellen und immateriellen Schadens, resultierend aus der behaupteten Verletzung von Verkehrssicherungspflichten, die der Beklagte am 08.05.2010 zum Nachteil der Klägerin im Rahmen des Betriebs seines Friseurgeschäfts begangen haben soll.

Hinsichtlich des erstinstanziellen Verfahrens wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze, das Protokoll über die mündliche Verhandlung vom 10.09.2013 (Bl. 46/48 d. A.) sowie die im Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen verwiesen.

Das Erstgericht hatte die auf Ersatz des materiellen Schadens in Höhe von 18.515,41 Euro, Schmerzensgeld in Höhe von mind. 12.500 Euro und Feststellung der Ersatzpflicht gerichtete Klage abgewiesen; auf das Endurteil (Bl. 49/52 d. A.) wird Bezug genommen.

Mit ihrer Berufung verfolgt die Klägerin die erstinstanziell geltend gemachten Ansprüche unverändert weiter.

Sie ist der Auffassung, das erstinstanzielle Gericht habe eine unzulässige Beweiswürdigung unter Verstoß gegen allgemeine Beweisregeln vorgenommen und dadurch das Vorliegen einer Gefahrenquelle verkannt. Zudem habe das Erstgericht sich in keiner Weise mit dem Sachvortrag der Klägerin und den von ihr angebotenen Beweisen auseinandergesetzt.

Im Einzelnen wird beanstandet:

Die erstinstanzliche Beweiswürdigung sei sowohl unvollständig als auch in sich widersprüchlich und verstoße zudem gegen Denksätze bzw. Erfahrungssätze. Fehlerhaft sei die Beweiswürdigung bereits deshalb, da das Gericht seine Entscheidung auf eine vermeintlich hinreichend eigene Sachkunde stütze, die es aber tatsächlich nicht besitze. Insbesondere sei in dem Urteil nicht ausreichend ausgeführt, welche exakten Umstände dem Erstrichter bekannt gewesen seien, und welche er der Entscheidung zugrunde lege.

Zu dem Vorgang, im Zuge dessen die Klägerin die Verletzungen erlitten habe, seien klageseits 2 Zeugen benannt worden, ohne dass das Gericht hierauf eingegangen sei. Auch habe das erstinstanzliche Gericht in unzulässiger Weise das Beweisangebot der Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Klärung der Frage ignoriert, inwieweit die inzwischen angetrockneten Haare auf einem Parkettboden eine erhöhte Rutschgefahr zur Folge hätten.

Auch mit der Frage des Vorliegens einer Gefahrenquelle habe sich das Erstgericht nicht hinreichend auseinandergesetzt; ein überwiegendes Mitverschulden gemäß § 254 BGB könne der Klägerin nicht zugerechnet werden.

Ergänzend wird auf den weiteren Inhalt der Berufungsbegründung vom 13.11.2013 (Bl. 67/75 d. A.) verwiesen.

Die Klägerin beantragt,

1. das Urteil des Landgerichts München I vom 10.09.2013 aufzuheben,

2. den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin ein angemessenes Schmerzensgeld, mindestens aber € 12.500,– nebst Zinsen in Höhe von 5 % über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 29.07.2011 zu zahlen,

3. den Beklagten ferner zu verurteilen, der Klägerin einen Gesamtbetrag von € 18.514,41 wegen Haushaltsführungsschaden und Heilbehandlungskosten nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 % über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 29.07.2011 zu zahlen,

4. den Beklagten zu verurteilen, der Klägerin Schadensersatz in Höhe von € 1.085,04 nebst 5 % Zinsen p.a. über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 29.07.2011 wegen außergerichtlich angefallener erstattungsfähiger Rechtsanwaltsgebühren zu zahlen,

5. festzustellen, dass der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin den zukünftigen materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen, der der Klägerin aus dem Unfall vom 08.05.2010 noch entstehen wird, sofern diese Ansprüche nicht auf einen öffentlich-rechtlichen Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergehen;

hilfsweise:

den Rechtsstreit an das Landgericht München I zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Der Beklagte verteidigt das erstinstanzielle Urteil. Die Berufungsbegründung enthalte keine plausible Erklärung dafür, aus welchen Gründen der Beklagte eine Verkehrssicherungspflichtverletzung begangen haben solle. Tatsächlich sei die Klägerin nicht hinter dem Stuhl, auf dem ihre Haare geschnitten worden waren, gestürzt, sondern auf dem Weg zu einem anderen Stuhl und an der Stelle des Sturzes seien keinerlei Haare auf dem Boden gelegen. Die von der Klägerin gegebene Schilderung spreche nicht dafür, dass der bei dem Sturz keiner Belastung ausgesetzte Fuß hätte verletzt werden können.

Selbst wenn die Klägerin auf Haaren, die auf dem Boden lagen, ausgerutscht sein sollte, ergäbe dies kein Verschulden des Beklagten, da es sich um ihre eigenen Haare, die sich keineswegs überraschend dort befunden hätten, gehandelt habe. Der Fall zeige, dass es ein allgemeines Lebensrisiko gebe, mit dem jeder leben müsse, ohne dass einem anderen die Schuld an der Verwirklichung des Lebensrisikos zugeschoben werden könne.

Ergänzend wird auf den weiteren Inhalt der Berufungserwiderung vom 23.12.2013 (Bl. 80/83 d. A.) verwiesen.

Der Senat hat am 08.01.2014 mündlich verhandelt (Protokoll Bl. 84/88 d. A.); der hierbei zustande gekommene Vergleich wurde von dem Beklagten fristgerecht widerrufen.

II.

1. Die zulässige Berufung der Klägerin führt, entsprechend dem Hilfsantrag, zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht München I gemäß § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO.

Ein wesentlicher Verfahrensmangel in Form unterbliebener Aufklärung liegt vor, da das Erstgericht die klageabweisende Entscheidung auf der Grundlage einer mangelhaften Beweiswürdigung vorgenommen hat, zum anderen von einer erforderlichen Beweisaufnahme ohne zulässigen Ablehnungsgrund Abstand genommen hat (vgl. Thomas/Putzo, ZPO, 34. Aufl. 2013, Bearbeiter Reichold, § 538, Rdnr. 11). Infolge dieser Verfahrensfehler ist eine umfangreiche Beweisaufnahme zur Herbeiführung der Entscheidungsreife unterblieben.

Das Erstgericht hat aufgrund des ihm vorliegenden Akteninhalts die Auffassung gewonnen, der Beklagte habe durch das behauptete Liegenlassen von abgeschnittenen Haaren auf dem Boden des Friseursalons keine zusätzliche Gefahrenquelle geschaffen, die über das allgemeine Lebensrisiko hinausgehe. Es konstatiert, dass der klägerische Vortrag, es habe eine erhebliche Gefahrenquelle mit großer Rutschgefahr vorgelegen, nicht zutreffe, wobei dies das Gericht „aus eigener Sachkunde beurteilen“ könne. Denn der Einzelrichter habe „sich in jedem Lebensalter bei zahlreichen Friseurbesuchen aus eigener Anschauung davon überzeugen“ können, „dass es – zumal bei entsprechender Vorsicht – ohne weiteres möglich ist, auf am Fußboden liegenden Haaren zu stehen, ohne hierdurch zu Fall zu kommen.“

Das Erstgericht hat sich damit eine Sachkunde angemaßt, die es nach dem von ihm selbst mitgeteilten Erfahrungsspektrum tatsächlich gar nicht besitzen kann.

Zwar liegt es im Ermessen des Gerichts, ob es die eigene Sachkunde für ausreichend erachtet, jedoch muss dies im Urteil im Einzelnen dargelegt werden, wobei richterliche Erfahrung physikalische Sachkunde nicht ersetzt (vgl. Zöller, ZPO, 29. Aufl. 2012, Bearbeiter Greger, § 402, Rdnr. 7). Wie die Berufungsbegründung (Seite 3 f.) zu Recht ausführt, begründet sich die Erfahrung des Erstrichters darauf, dass es ihm bisher im Rahmen seiner Friseurbesuche möglich gewesen sei, auf am Fußboden liegenden Haaren zu stehen. Sie rügt zutreffend das Fehlen weiterer Ausführungen dazu, „welche konkreten Feldversuche mit welchen Haaren und mit welchen unterschiedlichen Böden und Bewegungen er bei seinen zahlreichen Friseurbesuchen gemacht haben will“. Tatsächlich lässt die Begründung offen, welche Umstände (Parkettboden, Linoleum, Zustand des Bodens und der Haare, Art der Bewegungen des Kunden im Friseursalon) der Erstrichter zugrundegelegt hat und wie diese in Bezug zu dem streitgegenständlichen Vorfall stehen.

Vorliegend konnte das Erstgericht keinen bestimmten Sachverhalt zugrunde legen, da das Unfallgeschehen und die diesem unmittelbar vorangehenden Umstände strittig sind.

Bereits in der Klageschrift (Seite 19 Mitte) vom 7. März 2013 war Beweis dafür angeboten worden, dass gerade aufgrund der Tatsache, dass es sich bei dem Boden des Klägers (richtig: Beklagten) um einen Parkettboden handelte, durch die auf dem Boden liegenden Haare in Kombination mit dem glatten Boden eine große Rutschgefahr entstanden sei, und zum Beweis dieser Behauptung die Einholung eines Sachverständigengutachtens beantragt.

Nach Vorliegen der Klageerwiderung vom 05.08.2013, in der gegenbeweislich zum Vortrag der Klägerin die Zeugin Ursula F. benannt worden war (Seite 2 Mitte), hatte die Klägerin mit Schriftsatz vom 16.08.2013 (außer ihrer Parteieinvernahme) gleichfalls die Einvernahme dieser Zeugin zu dem von ihr vorgetragenen Hergang beantragt (Seiten 5/6), weiterhin ein unfallanalytisches Sachverständigengutachten zum Beweis dafür, dass sich die erlittenen Verletzungen mit dem von ihr vorgetragenen Sturzgeschehen vereinbaren ließen. Weiterhin wurde mit dem Schriftsatz beantragt, eine der Klägerin nur mit dem Vornamen Jana bekannte anwesende Mitarbeiterin des Beklagten einzuvernehmen, wobei dem Beklagten gerichtlich aufgegeben werden sollte, deren genaue Anschrift und Nachnamen mitzuteilen, sowie den Namen einer an diesem Tage auf dem Arbeitsplatz neben der Klägerin befindlichen weiteren Kundin.

Zu sämtlichen dieser weiteren Beweisanträge hat das Erstgericht in seinem Urteil keine Stellung genommen, was, um den Sachverhalt hinsichtlich des Vorliegens einer Gefahrenquelle ausreichend zu würdigen, erforderlich gewesen wäre. Unter den gegebenen Umständen (tatsächlich fehlende Sachkunde des Gerichts) stellt das Übergehen dieser Beweisanträge einen weiteren Verfahrensfehler dar (vgl. Zöller, a.a.O., Bearbeiter Heßler, § 538, Rdnr. 25).

Das Erstgericht wird nach Zurückverweisung die von beiden Parteien angegebene Zeugin Ursula F., gegebenenfalls 2 weitere Zeugen, zu vernehmen haben; insbesondere um deren Glaubwürdigkeit zu beurteilen, wird ggf. ein medizinisches Gutachten zu der Frage zu erstellen sein, ob sich die Verletzungen der Klägerin mit dem von ihr bzw. dem Beklagten und Zeugen geschilderten Geschehensablauf vereinbaren lassen; außerdem wird, um festzustellen, ob auf dem Parkettboden des Friseursalons der Beklagten – in Kombination mit Haaren, wie den damals der Klägerin abgeschnitten und dem von ihr verwendeten Schuhwerk – tatsächlich eine Rutschgefahr bestand, ein weiteres Sachverständigengutachten erforderlich sein. Es handelt sich hierbei um eine umfangreiche Beweisaufnahme, die die Zurückverweisung rechtfertigt.

2. Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst. Über die Kosten des Berufungsverfahrens kann gleichfalls nicht entschieden werden, da die Kostenquote vom endgültigen Obsiegen bzw. Unterliegen der Parteien abhängig ist.

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 708 Nr. 10 ZPO. Ein Ausspruch zur Abwendungsbefugnis gemäß § 711 ZPO war nicht veranlasst, nachdem keine der Parteien aus dem Urteil die Zwangsvollstreckung betreiben kann.

3. Die Revision war nicht zuzulassen. Weder hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts (§ 543 Abs. 2 ZPO).

 

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