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Schnee- und Eisglätte – Fahrzeugführer darf nur noch Schrittgeschwindigkeit fahren

OLG Düsseldorf, Urteil vom 08.12.1992, Az: 5 Ss 317/92 – 100/92 I

Gründe

Das Amtsgericht – Schöffengericht – Düsseldorf hat gegen den Angeklagten wegen fahrlässiger Tötung (§ 222 StGB) auf eine Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 70,– DM erkannt. Auf seine Berufung hat das Landgericht durch das angefochtene Urteil den Angeklagten freigesprochen. Hiergegen richten sich die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin, die die Verletzung sachlichen Rechts rügen.

Schnee- und Eisglätte – Fahrzeugführer darf nur noch Schrittgeschwindigkeit fahren
Symbolfoto: SNEHITDESIGN / Bigstock

Die Rechtsmittel sind begründet. Sie führen zur Aufhebung des angegriffenen Urteils, zum Schuldspruch wegen fahrlässiger Tötung (§ 222 StGB) und im übrigen zur Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz.

I.

Die Strafkammer hat festgestellt:

Der Angeklagte ist Busfahrer bei der R Bahngesellschaft AG in D. Am 19. Dezember 1990 war er als Fahrer eines zweiachsigen Linienbusses für Fahrten zwischen dem Stadtgebiet R und dem Flughafen D eingesetzt. In der Nacht zum 19. Dezember 1990 und am Vormittag des Tages hatte es in R ausgiebig geschneit, bis zum Dienstbeginn des Angeklagten um 12.44 Uhr jedoch zu schneien wieder aufgehört.

Seine erste, trotz weitgehend weder geräumter noch gestreuter Straßen, problemlos verlaufende Fahrtour ließ den Angeklagten auch den Busbahnhof R, D Platz, ansteuern. Die Fahrbahn des Busbahnhofs war nicht geräumt und nicht abgestreut, was der Angeklagte bemerkte. Sie war durchgehend mit festgefahrenem Schnee bzw. mit Schneematsch bedeckt, worunter sich möglicherweise zum Teil auch Eis gebildet hatte.

Gegen 14.30 Uhr des Tages fuhr der Angeklagte erneut planmäßig mit dem Bus den Busbahnhof D Platz in R an. Er tat das aus der H -B -Straße in einer Rechtskurve. Nach etwa 10 m steuerte er das Fahrzeug wieder nach links, um es in Richtung auf den für die Linie 759 bestimmten Anhaltepunkt zu bringen. Um den dieser Linie zugeordneten ersten, aus seiner Sicht äußerst rechts gelegenen Bussteig Nr. 7 zu erreichen, lenkte er das Fahrzeug bis etwa 15 m vor die Bordsteinkante und begann erst dort, die Vorderräder des Fahrzeugs nach links einzuschlagen. Er gedachte, dieses von ihm ständig benutzte und auch sonst übliche Fahrmanöver zu realisieren, um den Bus möglichst nahe an die Bordsteinkante heranzuführen und damit ein bequemes Aus- und Einsteigen für die Fahrgäste zu ermöglichen.

In diesem Augenblick betrug die mit dem Fahrzeug gefahrene Geschwindigkeit maximal 21 km/h, wenigstens 11,25 km/h.

Wegen einer beim ersten Anfahren der Haltestelle nicht wirksam gewordenen, von dem Angeklagten auch nicht wahrgenommenen Eis- oder Schneeglätte gerieten die Vorderräder des Fahrzeugs nun ins Rutschen. Das Fahrzeug war für den Angeklagten nicht mehr lenkbar. Es rutschte etwa 15 m weit auf den Bussteig zu, was der Angeklagte durch Bremsen und Auskuppeln nicht verhindern konnte.

Der Angeklagte versuchte nun, die auf dem Bussteig wartenden Personen durch Hupen, Gesten und laute Zurufe durch die geöffnete vordere Einstiegstür zu warnen, woraufhin die meisten davoneilten. Das gelang dem 51 Jahre alten Kurt K nicht mehr. Der Bus kam mit dem rechten Vorderrad am Bordstein zum Stehen. Mit dem rechten, etwa 1 + m überstehenden Vorderteil stieß der Bus über den Bordstein auf den Bussteig vor, erfaßte den Kurt K und drückte ihn gegen einen an der Haltestelle befindlichen Fahrkartenautomaten. Kurt K erlag wenige Stunden später den beim Aufprall des Fahrzeugs erlittenen massiven Verletzungen.

Bei Einhaltung einer Geschwindigkeit von nur 8 km/h bei Rutschbeginn wäre das Fahrzeug noch rechtzeitig vor dem Bussteig zum Stillstand gelangt und der Unfall vermieden worden.

II.

Diese Feststellungen tragen den Freispruch nicht. Sie belegen vielmehr, daß der Angeklagte sich der fahrlässigen Tötung (§ 222 StGB) schuldig gemacht hat.

1. Der Angeklagte hat den tod des Kurt K durch Fahrlässigkeit verursacht. Er hat den Bus bei widrigen Straßenverhältnissen – Schnee- oder Eisglätte – unangemessen schnell gefahren und pflichtwidrig zu dicht an den Bussteig zu lenken versucht.

a) Bei schnee- oder eisglatter Fahrbahn hat der Kraftfahrer mit einer den witterungsbedingt schlechten Straßenverhältnissen angepaßten Geschwindigkeit zu fahren (vgl. Jagusch/Hentschel § 3 StVO, Rdn. 20). Er muß stets gefahrlos lenken und rechtzeitig anhalten können (vgl. BGH in VersR 1966, 1077; OLG Hamm in VRS 25, 455). Das erfordert notfalls die Einhaltung bloßer Schrittgeschwindigkeit. Das sind 4 bis 7 km/h als Fußgängerdurchschnittstempo (vgl. OLG Köln in VRS 68, 382 mit Nachweisen; ähnlich OLG Stuttgart in VRS 70, 49: 4 km/h).

b) Diesen Anforderungen ist der Angeklagte nicht gerecht geworden. Er hat den Bus auf glattem Untergrund mit einer Geschwindigkeit von wenigstens 11,25 km/h zum Zeitpunkt des Einschlagens der Vorderräder nach links, 15 m vor der Bussteigkante, gefahren. Er hat aufgrund dieser unangepaßt zu hohen Geschwindigkeit den ins Rutschen geratenen Bus von dieser Stelle an weder zu lenken noch ihn vor dem Bussteig anzuhalten vermocht. Bei Beschränkung auf eine den konkreten Straßenverhältnissen allenfalls entsprechende höchste Geschwindigkeit von 8 km/h hätte der Angeklagte den Bus jedoch noch rechtzeitig vor dem Bussteig zum Stehen gebracht.

c) Die Fahrbahnverhältnisse haben auch das vom Angeklagten eingeleitete, sonst stets geübte Fahrmanöver, nämlich das in engem Bogen möglichst nahe Heranfahren an den Bussteig, nicht zugelassen. Zwar ist dem Angeklagten aus dem Beförderungsvertrag grundsätzlich auch die Verpflichtung zugekommen, den Bus mit möglichst geringem seitlichen Abstand an den Bussteig zu lenken, um den Fahrgästen ein bequemes und durch einen zu großen Raum zwischen Trittbrett des Busses und Bordsteinkante nicht behindertes Ein- und Aussteigen zu ermöglichen (vgl. OLG Saarbrücken in VM 1980, 88). Diese hat jedoch hinter seine allgemeine Verhaltenspflicht aus § 1 Abs. 2 StVO, die Schädigung oder Gefährdung anderer – auch auf dem Bussteig wartender Personen – zu vermeiden, zurückzutreten (vgl. OLG Hamm in VRS 15, 60).

Eine glatte Fahrbahn, auf der ein Fahrzeug nicht mehr verläßlich zu lenken ist, erfordert die Wahrung eines vergrößerten Sicherheitsabstandes. Gegen dieses Sorgfaltsgebot hat der Angeklagte verstoßen. Er hat den Bus im gewohnt engen Bogen ohne zusätzlichen Sicherheitsabstand ungeachtet dort wartender Fahrgäste dicht an den Bussteig zu steuern begonnen.

2. Der Unfall ist für den Angeklagten vorhersehbar und damit – durch Fahren mit geringerer Geschwindigkeit, nämlich allenfalls 8 km/h, und durch Verzicht auf das beabsichtigte, das Fahrzeug dicht an den Bussteig heranführende Fahrmanöver – vermeidbar gewesen.

Ein gewissenhafter Kraftfahrer hat auf nach ergiebigen Schneefällen ungeräumter und nicht gestreuter Straße mit sich gegebenenfalls auch nur zeit- und stellenweise bildender Glätte zu rechnen und seine Fahrweise darauf einzurichten. Der Angeklagte hat um die Witterungsbedingungen und die Fahrbahnbeschaffenheit gewußt. Er hätte an plötzlich auftretende Glätte auch bei bis dahin unauffälligem Fahrverhalten des Busses jederzeit und auch an zuvor schon einmal befahrenen und nicht als glatt empfundenen Stellen denken und sich darauf einstellen müssen. Gerade bei Zufahren auf eine Personengruppe hätte er die Geschwindigkeit seines Fahrzeugs bis notfalls zum Schrittempo zurücknehmen und von der Einleitung einer engen Kurvenfahrt zur Annäherung an die Bussteigkante ohne Einhaltung eines zusätzlichen Sicherheitsabstandes absehen müssen. Er hätte bei Beobachtung gehöriger Sorgfalt erkennen können und müssen, daß der mit noch mindestens 11,25 km/h und in engem Bogen gefahrene Bus bei Glätte auf die wartenden Fahrgäste hat zu rutschen und diese erfassen konnte. Daß er durch eine bei glatter Fahrbahn unangemessen hohe Geschwindigkeit bei Ausführung eines einen besonderen Sicherheitsabstand nicht wahrenden Fahrmanövers möglicherweise eine auf dem Bussteig wartende Person anfahren und dadurch töten werde, hätte dem Angeklagten bewußt sein können und müssen. Dabei braucht das Unfallgeschehen nicht in allen Einzelheiten voraussehbar zu sein. Es genügt vielmehr dessen allgemeine Vorstellbarkeit in den wesentlichen Zügen (vgl. BGH in VRS 54, 436 mit Nachweisen).

III.

Das angefochtene Urteil kann danach keinen Bestand haben. Es ist aufzuheben (§ 353 StPO).

1.

Aufgrund der lückenlosen und tragfähigen Feststellungen der Strafkammer ist der Senat in der Lage, den vom Amtsgericht verurteilten und erst vom Berufungsgericht freigesprochenen Angeklagten der fahrlässigen Tötung gemäß § 222 StGB schuldig zu sprechen. Der Freispruch durch die Strafkammer beruht auf einem bloßen Subsumtionsfehler. Weitere Feststellungen sind nicht zu erwarten. Das rechtfertigt die Ersetzung des Freispruchs durch einen Schuldspruch (vgl. BGH in VRS 54, 436; Urteil des Senats vom 17. März 1986 in NJW 1986, 2518 = JZ 1986, 555 = MDR 1986, 688 = OLGSt § 130 StGB Nr. 2; Urteil des 2. Strafsenats vom 26. September 1990 in NJW 1991, 1123; OLG Koblenz in NJW 1986, 1700; OLG Hamburg in NJW 1985, 1654; OLG Karlsruhe in NJW 1976, 902).

Der verschiedentlich im Schrifttum vertretenen Ansicht, eine Verurteilung des vom Tatrichter freigesprochenen Angeklagten durch das Revisionsgericht sei nicht zulässig (vgl. Pikart in KK, StPO, 2. Aufl., § 354 Anm. 13; Paulus in KMR, StPO, 7. Aufl., § 354 Anm. 19; Dahs/Dahs, Die Revision im Strafprozeß, 4. Aufl., Rdnr. 502; Kleinknecht/Meyer, StPO, 40. Aufl., § 354 Rdnr. 23; Peters, Strafprozeß, 4. Aufl., S. 664; Roxin, Strafverfahrensrecht, 21. Aufl., § 53 J III. 1), schließt sich der Senat jedenfalls für den vorliegenden Fall nicht an. Das von den Vertretern jener Ansicht angeführte Argument, der Angeklagte könne gegen das freisprechende Urteil kein Rechtsmittel einlegen und daher die Richtigkeit der Feststellungen nicht bekämpfen, trifft hier nicht zu. Der Sachverhalt steht fest. Daß sich an den Feststellungen des angefochtenen Urteils etwas ändern könnte, ist ausgeschlossen.

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2.

Die Sache ist lediglich zur Festsetzung der Strafe an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2 StPO).

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