Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg
Az: 6 Sa 1814/10
Urteil vom 26.11.2010
In dem Rechtsstreit hat das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, 6. Kammer, auf die mündliche Verhandlung vom 26. November 2010 für Recht erkannt:
1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 07.07.2010 – 39 Ca 7288/10 – geändert.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 2.947,35 € zu zahlen.
3. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beklagte war bei der Klägerin vom 14. April 1988 bis zum 15. Dezember 2009 als Serviererin tätig. Ausweislich einer Immatrikulationsbescheinigung der F. Universität Berlin (Abl. Bl. 79 d.A.) studierte die am ….. 1966 geborene Beklagte im Wintersemester 1995/96 im 15. Hochschulsemester. Spätestens seit dem 1. Januar 1999 war sie bei der T. Krankenkasse nicht mehr gesetzlich als Studentin, sondern freiwillig krankenversichert, ohne der Klägerin hiervon Mitteilung zu machen. Ihren Status als Studentin wies die Beklagte der Klägerin bis zu ihrer Exmatrikulation zum 31. März 2007 durch Vorlage von Immatrikulationsbescheinigungen nach. Aufgrund einer entsprechenden Vertragsänderung beschäftigte die Klägerin die Beklagte ab 1. April 2007 nur noch gegen geringfügige Entlohnung.
Im Anschluss an eine Betriebsprüfung nahm die Deutsche R. Bund die Klägerin mit Bescheinigung vom 16. September 2009 (Abl. Bl. 6-7R d.A.) auf Nachentrichtung von Sozialversicherungsbeiträgen für die Zeit vom 1. Januar 2005 bis 31. März 2007 in Höhe von 5.894,71 € in Anspruch, während die Beklagte für diese Zeit ihre Beiträge zur Krankenversicherung erstattet bekam.
Das Arbeitsgericht Berlin hat die auf Erstattung des Arbeitnehmeranteils der nachentrichteten Sozialversicherungsbeiträge gerichtete Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, auch wenn die Beklagte gehalten gewesen wäre, der Klägerin mitzuteilen, nicht mehr als Studentin sozialversicherungspflichtig zu sein, sei die Unterrichtung weder vorsätzlich noch grob fahrlässig unterblieben. Die Beklagte habe vielmehr die Versicherungsbeiträge weiterhin allein aufgebracht, mithin erkennbar nicht damit gerechnet, dass ein Beitragseinzug durch die Klägerin als ihre Arbeitgeberin zu erfolgen habe, zumal ihr Studentenstatus unverändert fortbestanden habe.
Gegen dieses ihr am 29. Juli 2010 zugestellte Urteil richtet sich die am 23. August 2010 eingelegte und am 23. September 2010 begründete Berufung der Klägerin. Sie meint, der Beklagten hätte sich das Fehlen der Eigenschaft einer „ordentlich Studierenden“ aufdrängen müssen, da sie aufgrund ihres Langzeitstudiums in die freiwillige Krankenversicherung habe wechseln müssen. Zudem müsse im Hinblick auf den Zweck der gesetzlichen Regelung des grundsätzlich nur beschränkten Lohnabzugsverfahren berücksichtigt werden, dass der Beklagten die Krankenversicherungsbeiträge aus dem ohne Abzüge ausgezahlten Arbeitsentgelt erstattet worden seien.
Die Klägerin beantragt, die Beklagte unter Änderung des angefochtenen Urteils zu verurteilen, an sie 2.947,35 € zu zahlen.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt das angefochtene Urteil und meint, die Klärung der Sozialversicherungspflicht eines Arbeitnehmers sei Sache des Arbeitgebers. Ihr sei nicht bekannt gewesen, dass es im Bereich des Sozialversicherungsrechts eine andere Begrifflichkeit des „ordentlich Studierenden“ gäbe als im Hochschulbereich und dass nach Auffassung der Deutschen R. Bund die Sozialversicherungspflicht widerlegbar erst nach Ablauf des 25. Studiensemesters eintrete.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils und die in der Berufungsinstanz gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
1. Die Berufung ist begründet.
1.1 Die Klägerin hat gegen die Beklagte gemäß § 28g Satz 1 SGB IV einen Anspruch auf Erstattung der von ihr für sie abgeführten Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung für die Zeit vom 1. Januar 2005 bis 31. März 2007 in rechnerisch unstreitiger Höhe von 2.947,35 €.
1.1.1 Zwar sieht § 28g Satz 2 SGB IV vor, dass der auf den Arbeitnehmer entfallende Beitragsanteil vom Arbeitnehmer bei der Lohnzahlung vom Arbeitsentgelt einzubehalten ist, und lässt § 28g Satz 3 SGB IV grundsätzlich nur zu, dass ein unterbliebener Beitragsabzug bei den nächsten drei Lohnzahlungen nachgeholt wird, danach nur, wenn der Abzug ohne Verschulden des Arbeitgebers unterblieben ist. Ob diese Regelung, die dazu dient, den Arbeitnehmer vor hohen Nachforderungen des Arbeitgebers zu schützen, dann einer teleologischen Reduktion zu unterziehen ist, wenn dem Arbeitnehmer die von ihm selbst aus seinem Arbeitsentgelt abgeführten Krankenversicherungsbeiträge für dieselbe Zeit vom Versicherungsträger wieder ausgezahlt werden, konnte dahinstehen. Denn die Beschränkung des Arbeitgebers aufs Lohnabzugsverfahren entfällt gemäß § 28g Satz 4 SGB IV, wenn der Arbeitnehmer seiner Pflicht nach § 28o Abs. 1 Ts. 1 SGB IV, dem Arbeitgeber die zur Durchführung des Meldeverfahrens und der Beitragszahlung erforderlichen Angaben zu machen, nicht nachgekommen ist, wie dies bei der Beklagten der Fall war.
1.1.2 Die Beklagte war verpflichtet, der Klägerin davon Mitteilung zu machen, dass sie bei der T. Krankenkasse als Trägerin ihrer Krankenversicherung mit Rücksicht auf ihr langes Studium nicht mehr als Studentin pflichtversichert war, sondern sich nunmehr freiwillig versichert hat. Dass sie von der F. Universität Berlin weiterhin als ordentlich Studierende geführt wurde, hatte auf ihre gesetzliche Verpflichtung aus einem neben dem Studium bestehenden Beschäftigungsverhältnis keinen Einfluss.
1.1.3 Die Beklagte hat ihre Mitteilungspflicht grob fahrlässig verletzt. Die Verletzung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt (§ 276 Abs. 2 BGB) war nicht nur objektiv schwer, sondern auch subjektiv unentschuldbar. Gerade wenn die Beklagte die sozialversicherungsrechtlichen Folgen ihres Statuswechsels nicht überschaut haben sollte, obwohl anlässlich eines solchen Statuswechsels erfahrungsgemäß vom Versicherungsträger auf einem Merkblatt entsprechende Hinweise zu dem damit verbundenen Verlust des sog. Werkstudentenprivilegs nach § 6 Abs. 1 Nr. 3 SGB IV gegeben werden, hätte sie umso mehr Anlass gehabt, die Klägerin davon zu unterrichten, damit diese daraus in eigener Verantwortung etwaige Konsequenzen für die weitere Abwicklung des Arbeitsverhältnisses ziehen konnte, wie dies später ja auch nach Exmatrikulation der Beklagten einvernehmlich geschehen ist. Dass die Beklagte nicht damit gerechnet haben mag, dass der Beitragseinzug nunmehr durch die Klägerin als ihrer Arbeitgeberin zu erfolgen hatte, und sie deshalb die Versicherungsbeiträge weiterhin allein aufbrachte, änderte daran nichts. Gerade dass sich diese Beiträge nunmehr ungefähr verdoppelt haben dürften, hätte ihr Anlass geben müssen, dem Vorgang die gebührende Aufmerksamkeit zu widmen.
1.1.4 Unerheblich war, dass die Klägerin den Semesterbescheinigungen der Beklagten entnehmen konnte, dass diese sich Anfang 2003 bereits im 29. Hochschulsemester befand und 36 Jahre alt war. Zum einen können gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 9 SBG IV Studenten auch nach Abschluss des 14. Fachsemesters und nach Vollendung des 30. Lebensjahrs ausnahmsweise noch als solche versicherungspflichtig sein und damit zugleich das Werkstudentenprivileg genießen, wenn die Art der Ausbildung oder familiäre sowie persönliche Gründe die Überschreitung der Altersgrenze oder eine längere Fachstudienzeit rechtfertigen. Zum anderen berührt ein Mitverschulden des Arbeitgebers das eigene Verschulden des Arbeitnehmers nicht und hat auch auf den Umfang des Erstattungsanspruchs keinen Einfluss, weil es nicht um Schadenersatz geht, für den § 254 BGB eine Berücksichtigung von Mitverschulden vorschreibt. Rechtsfolge eigenen Verschuldens der Klägerin wäre ohne die grobe Fahrlässigkeit der Beklagten gemäß § 28g Satz 3 SGB IV allein die zeitliche Beschränkung ihres Erstattungsanspruchs gewesen.
1.2 Da die Klägerin mit der Berufung keine Zinsen mehr verlangt hat, konnten ihr diese nicht zugesprochen werden (§ 308 Abs. 1 Satz 2 ZPO).
2. Die Voraussetzungen des § 72 Abs. 2 ArbGG für eine Zulassung der Revision waren nicht erfüllt.