LG Tübingen – Az.: 5 O 29/21 – Urteil vom 15.09.2022
1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein weiteres Schmerzensgeld in Höhe von 2.000,00 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 12.2.2021 zu bezahlen.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger weiteren Schadensersatz in Höhe von 1.350,40 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 12.2.2021 zu bezahlen.
3. Die Beklagte wird verurteilt, an die Rechtsanwälte NN, weitere vorgerichtliche Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 403,76 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 12.2.2021 zu bezahlen.
4. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
5. Von den Kosten des Rechtsstreits trägt der Kläger 80 %, die Beklagte 20 %.
6. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Streitwert: bis 17.000,00 €.
Tatbestand
Mit der Klage wird Schadenersatz aus einem Verkehrsunfall geltend gemacht, der sich am 10.4.2015 in R auf der B-straße ereignet hat.
Der bei der Beklagten versicherte Kraftwagen fuhr in einem Baustellenbereich frontal in den ordnungsgemäß vom Kläger gelenkten Pkw.
Die Parteien sind sich über die alleinige Haftung der Beklagten einig.
Der Kläger erlitt eine HWS-Distorsion sowie Prellungen.
Die Beklagte hat vorgerichtlich 1.500,00 € Schmerzensgeld und weitere materielle Schadenspositionen, die hier nicht anhängig sind, bezahlt.
Der Kläger trägt weiter vor:
Durch den Unfall wären weitere gesundheitliche Folgen aufgetreten, die HWS-Distorsion wäre sehr stark gewesen, es wäre Schwindel verursacht worden;, zudem wären auch psychische Beschwerden aufgetreten.
Der Kläger geht davon aus, daß ein Schmerzensgeld von insgesamt 8.000,00 € angemessen wäre, auf die bereits 1.500,00 € bezahlt worden sind.
Der Kläger trägt weiter vor, dass er sich, unter anderem wegen Angstzuständen, im Zeitraum ab Juli 2015 sowie in den Folgejahren, immer wieder in Behandlung, auch stationärer Behandlung, befunden habe.
Der Kläger trägt weiter vor, dass er einen Haushaltsführungsschaden erlitten habe.
Der Kläger, nunmehr 70 Jahre, lebt mit seiner Ehefrau und einem erwachsenen Sohn, der zu 100 % schwerbehindert ist, zusammen.
Er trägt weiter vor, das im Haushalt der Familie es so vereinbart war, dass er den Haushalt bewältige, während die Frau erwerbstätig war.
Er trägt weiter vor, dass im Durchschnitt aller Wochentage 3,5 Stunden pro Tag anfallen würden, sowie die Zeiten für Fahrten wegen des behinderten Sohnes. Während der Dauer von 95 Tagen, in denen er sich im Krankenhaus befunden habe, wären so 332,5 Stunden angefallen, dazu kämen jeweils 13 Logopädietermine und 26 Fahren zu Behindertentransportveranstaltungen des Sohnes, wodurch sich weitere 13 Stunden jeweils ergeben hätte, sodass er insgesamt für 358,5 Stunden jeweils 10,00 €, somit 3.585,00 €, begehre.
Zuzahlungen, Eigenanteile und Attestkosten wären i.H.v. 800,64 € angefallen, an Fahrtkosten und Parkgebühren insgesamt noch 136,60 €. Schließlich wäre ein Schaden an der Brille mit 200,00 € nur unvollständig reguliert worden, sodass er auch hier einen Anspruch von weiteren 146,74 € geltend macht.
Die vorgerichtlichen Anwaltskosten wurden aus einer Summe von 17.923,69 € begehrt, woraus sich ein Betrag von 1.171,67 € errechne, auf die 650,34 € bezahlt worden sind, weshalb er noch 521,33 € begehre.
Der Kläger stellt folgende Anträge:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichtes gestellt wird, zuzüglich Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz p.a. Für die Zeit ab Rechtshängigkeit zu zahlen.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger weiteren Schadensersatz in Höhe von 4.668,98 € zuzüglich Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz p.a. für die Zeit ab Rechtshängigkeit zu zahlen.
3. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger sämtliche materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, die zu seinen Lasten infolge des Verkehrsunfalles der sich am 10.04.2015 in R auf der B-straße ereignet hatte, entstanden sind und künftig noch entstehen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder anderen Dritte übergehen.
4. Die Beklagte wird verurteilt, an die Rechtsanwälte NN, weitere vorgerichtliche Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 521,33 € zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz p.a. für die Zeit ab Rechtshängigkeit zu zahlen.
Die Beklagte beantragt Klagabweisung.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Schriftsätze der Bevollmächtigten nebst Anlagen Bezug genommen.
Das Gericht hat Beweis erhoben zunächst durch Einholung eines Unfallgutachtens des Sachverständigen Dipl.-Ing. F, der für das Gericht beim Unfall entstandene Energie und Geschwindigkeit zu ermitteln hatte. Auf das Gutachten wird insoweit Bezug genommen.
Das Gericht hat sodann weitere Gutachten bei dem medizinischen Sachverständigen Dr. S, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, sowie Prof. Dr. W, Facharzt für Orthopädie, eingeholt.
Auch wegen dieser Gutachten wird auf das jeweilige schriftliche Gutachten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist nur zum Teil begründet.
1. Schmerzensgeld:
Der dem Gericht seit vielen Jahren hilfreiche Sachverständige Dipl.-Ing. F, der über außerordentlich große forensische Erfahrungen verfügt, hat hier ein Gutachten erstattet, das zum Ergebnis kommt, dass eine Kollisionsgeschwindigkeitsveränderung von mindestens 40 km/h stattgefunden hat.
Damit liegt eine nicht unerhebliche Kollisionsgeschwindigkeit vor.
Weiter war zu sehen, dass es sich nicht um einen „üblichen“ Auffahrunfall gehandelt hat, sondern um eine Frontalkollision, die mit erheblich anderer, auch subjektiv-psychischer Auswirkung, sich ereignet hat. Es macht für das Gericht einen Unterschied, ob ein Fahrzeug von hinten am Ende einer Kolonne auffährt, oder ob ein anderes Fahrzeug frontal entgegenkommt und in das selbst gesteuerte Fahrzeug kracht.
Zu sehen waren für die Höhe des Schmerzensgeldes weiter die Verletzungen und ihre Folgen.
Hier hat sich das Gericht der Unterstützung der erfahrenen Forensiker Dr. S und Dr. W bedient.
Beide haben detailliert, nachvollziehbar und umfassend die gesundheitliche Problematik beim Kläger begutachtet. Sie kamen dabei zum Ergebnis, dass aus neurologischer und psychiatrischer Sicht keinerlei Folgen des Unfalls zurückgeblieben sind und es sich bei den primären Verletzungen um ein starkes HWS-Syndrom gehandelt haben kann, was im Einklang mit der Kollisionsgeschwindigkeit zu bringen ist.
Weiter wird, insbesondere im Gutachten von Dr. W, klargestellt, dass nach längstens 8 Wochen von einer vollständigen Abheilung der unfallbedingten Verletzung und ihren Folgen auszugehen ist. Soweit darüber hinaus noch Beschwerden vorhanden waren, sind diese nicht auf das Unfallereignis zurückzuführen.
Unter Berücksichtigung all dieser Umstände und des Umstandes, dass der Unfall ausschließlich und allein von der Gegenseite verursacht wurde, erscheint ein Schmerzensgeld von insgesamt 3.500,00 € angemessen, auf das bereits 1.500,00 € bezahlt wurden, weshalb noch 2.000,00 € auszuurteilen waren.
2. Haushaltsführungsschaden
Das Gericht erachtet sich aufgrund eigener Erfahrung für den zeitlichen Umfang als sachkundig zur Beurteilung von anfallender Haushaltsarbeit in Haushalten der Größenordnung 1 – 4 Personen, worunter auch der vorliegende Haushalt fällt.
Unter Berücksichtigung der üblicherweise anfallenden Zeiten für die Nahrungsmittelzubereitung, die Reinigungsarbeiten, die Arbeiten bezüglich der Versorgung der Wäsche und der weiteren im Haushalt üblicherweise anfallenden Arbeiten erscheint der klägerseits geltend gemachte Zeitraum von 3,5 Stunden pro Tag nachvollziehbar und zutreffend.
Plausibel und nicht substantiiert bestritten erscheint sodann die Arbeitsverteilung im Haushalt, die der Altersstruktur entspricht.
Danach war von 3,5 Stunden pro Tag auszugehen. Hinsichtlich der Einschränkung konnte das Gericht den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. W folgen, aus denen hervorgeht, dass längstens 2 Wochen 100 % Einschränkungen bestanden, sodann längstens 3 weitere Wochen mit 40 % und 3 weitere Wochen mit 20 %. Bei einem Stundensatz von 14,00 €, auf dessen Höhe noch einzugehen sein wird, und 3,5 Stunden pro Tag, sowie 7 Tagen pro Woche ergeben sich insgesamt 380 %, somit 1.303,40 €.
Zum Stundensatz:
Das erkennende Gericht legt seit Jahren bei Haushaltsführungsschäden den Betrag zugrunde, der sich aus § 21 JVEG ergibt; die Zugrundelegung erfolgt auf der Basis von § 287 ZPO (vgl. z. B. LG Tübingen, Urteil von 10.12.2013, 5 O 80/13, Juris).
Das Gericht hat in der zitierten Entscheidung ausgeführt:
„Als Stundensatz wurden unter Anwendung von § 287 ZPO…12,00 € (Anm.: heute 14,00 €) zugrunde gelegt. Der Gesetzgeber geht in § 21 JVEG von einer Entschädigung von Nachteilen bei der Haushaltsführung von (Anm.: heute) 14,00 € aus. Damit gibt der Gesetzgeber eine eigene, pauschalierende Bewertung für den Wert dieser Tätigkeiten ab; auch unter pauschalierender Anwendung von § 287 ZPO ist kein Grund ersichtlich, bei der Berechnung des Haushaltsführungsschadens hiervon abzuweichen. Es wäre nicht nachvollziehbar, wenn ein Unfallverletzter für die Zeit, in der er verletzungsbedingt den Haushalt nicht führen kann, eine geringere Entschädigung erhalten würde, als in der Zeit, in der er wegen desselben Unfalls Monate später vor Gericht als Zeuge aussagt und deswegen an seiner Haushaltstätigkeit gehindert ist.“
Die obergerichtliche Rechtsprechung ist diesen Erwägungen bisher, unterstützt von einigen wenigen Literaturstellen, nicht gefolgt, vgl. OLG Frankfurt, Urteil vom 18.10.2018, 22 U 97/16, Juris. Dort ist ausgeführt, dass die Anknüpfung des Landgerichts Tübingen an § 21 JVEG abzulehnen wäre, weil der Anknüpfungspunkt ein anderer wäre.
Zur weiteren Begründung wird auf einen Aufsatz von Wenker verwiesen. Wenker wiederum hat sich in einer Urteilsanmerkung mit der Rechtsprechung des Landgerichts Tübingen befasst (Wenker, Juris PR-VerkR 3/2016, Anmerkung 3, Juris). Zur Begründung führt Wenker aus, dass bei der Bemessung eines Haushaltsführungsschadens es nicht um eine Inanspruchnahme von wenigen Stunden als Zeuge ginge, sondern um einen deliktischen Schadensersatzanspruch für einen längeren Zeitraum. Diese Begründung erscheint nicht tragfähig.
Zunächst ist bereits nicht ersichtlich, weshalb es bei einer Inanspruchnahme von wenigen Stunden um andere Bemessungskriterien gehen soll, als bei einer längeren Inanspruchnahme. Die Ausgangslage ist in beiden Situationen dieselbe:
Der den Haushalt Führende ist daran gehindert. Es mag durchaus in einzelnen Fällen nachvollziehbar sein, wenn ein Gericht hier auf aufwändige Art und W exakte oder vermeintlich exakte Berechnungen vornimmt. Dessen ungeachtet gilt jedoch auch für die Bemessung des Haushaltsführungsschadens das Schätzungsermessen gemäß § 287 ZPO. Bei der Ausübung dieses Ermessens hat der Richter im Regelfall gesetzliche bzw. gesetzgeberische Pauschalierungserwägungen zu bedenken. Hier hat sich der Gesetzgeber in § 21 JVEG mit dieser Problematik befasst. Er hat dabei nicht unterschieden, ob die Inanspruchnahme des Zeugen nur kurzfristig oder in mehreren Terminen erfolgt. Ein Grund, bei der Bemessung des Haushaltsführungsschadens hier nach der Dauer der Inanspruchnahme zu differenzieren, ist daher nicht ersichtlich.
Auch die Erwägungen von Balke, SVR 2016, 60 – 62, Juris, helfen hier nicht weiter. Balke führt aus, dass das Landgericht Tübingen verkannt habe, dass keine Zeugenentschädigung, sondern ein Schadenersatz geltend gemacht worden wäre. Auch diese Begründung erscheint nicht tragfähig. Dem Gericht war und ist bewusst, dass im einen Fall Schadensersatz, im anderen Fall Zeugenentschädigung verlangt wird. Bei der Schätzung des Entschädigungsbetrages beim Schadenersatz geht es jedoch nicht darum, zwischen verschiedenen Funktionen eines Geschädigten zu unterscheiden, sondern nur darum, die Höhe des Schadens zu schätzen. Die Höhe des Schadens entspricht jedoch in tatsächlicher Hinsicht der Zeugenentschädigung; in beiden Fällen fällt der geschädigte Zeuge für einen bestimmten Zeitraum als Erbringer von Haushaltsführungsleistungen aus.
Hinzu kommt eine weitere Erwägung:
In beiden Fällen trägt letztendlich die Kosten der Schädiger. Der Schädiger bezahlt sowohl den eigentlichen Schadenersatz, als auch im Rahmen der Gerichtskostenabrechnung die vom Staat zunächst noch vorgeschossene Zeugenentschädigung. Das bedeutet, dass praktisch der Schädiger aus eigenen Mitteln dem geschädigten Zeugen für diejenigen Stunden, in denen er bei Gericht sitzt, 14,00 € pauschaliert bezahlen muss, für diejenigen Stunden, in denen er krank zu Hause beispielsweise liegen muss oder sich im Krankenhaus befindet und seine Haushaltstätigkeit nicht nachgehen kann, nur einen aufwendig ermittelten, wesentlich geringeren Betrag. Diese Differenzierung findet im Gesetz keine Grundlage.
Das Gericht hält daher an der entsprechenden Anwendung von § 21 JVEG im Rahmen der Schätzung des Schadens gemäß § 287 ZPO fest und legt daher 14,00 € pro Stunde pauschal zugrunde.
3. Zuzahlungen etc.
Nachdem der Sachverständige festgestellt hatte, dass nach 8 Wochen eine vollständige Ausheilung vorgelegen hat, konnten nur die Kosten innerhalb dieses Zeitraums berücksichtigt werden, somit der Eigenanteil von 10,00 € für den Krankentransport.
4. Fahrtkosten:
Hier gilt das eben Gesagte. Lediglich die beiden Fahrten unter Ziff. 4 a) und b) der Klagschrift bei jeweils 37 Kilometer fallen der Beklagtenseite zur Last; pro Kilometer werden die üblichen pauschalierten Kosten eines Fahrzeugs in Höhe von mind. 0,50 € pro Kilometer angesetzt, somit insgesamt 37,00 € (gerichtsbekannt aus der Presse hat der ADAC zuletzt 67 ct ermittelt).
5. Brille:
Hier verbleibt es bei dem Ersatzbetrag, den die Beklagte bereits geleistet hat, in Höhe von 200,00 €, da die Beklagte insoweit zutreffend darauf hinweist, dass wegen einer Sehstärkenänderung hier ohnehin eine neue Brille hätte angeschafft werden müssen.
Insgesamt errechnen sich daher die Beträge wie folgt:
- Schmerzensgeld noch 2.000,00 €,
- Zuzahlungen noch 10,00 €,
- Brille 0,00 €,
- Fahrtkosten 37,00 €
- Haushaltsführungsschaden 1.303,40 €.
Unter Berücksichtigung der zuzusprechenden Positionen errechnet sich einschließlich der vorgerichtlich bezahlten Positionen ein vorgerichtlicher Gesamtstreitwert, der bei Zugrundelegung einer 1,3 Gebühr zu Anwaltskosten (vorgerichtlich) in Höhe von 1.054,10 € führt, auf die 650,34 € bereits bezahlt wurden, sodass sich ein Restbetrag von 403,76 € errechnet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 709 ZPO.