LG Dresden, Az.: 8 S 269/13
Urteil vom 27.11.2013
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Endurteil des Amtsgerichts Dresden vom 11.04.2013, Az.: 107 C 8507/12, wie folgt abgeändert:
Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger Auskunft durch Vorlage des vom Sachverständigen R. C., … Berlin, bzgl. des Wasserschadens vom 08./09.07.2012, Objekt: … 01277 Dresden – bei der Beklagten registriert unter der Schaden-Nr. 2012… – gefertigten, vollständigen Gutachten zu gewähren.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet. .
IV. Die Revision wird – unbeschränkt – zugelassen.
Beschluss:
Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Der Kläger macht gegenüber dem beklagten Sachversicherer die Einsicht in ein von diesem eingeholtes Schadensgutachten geltend.
Der Kläger betreibt in angemieteten Räumen des Gebäudes mit der postalischen Anschrift … in 01277 Dresden eine Sanitätsschule. Er unterhält bei der Beklagten eine Vielschutzversicherung (Nr. …). Sie umfasst in § 4 der Allgemeinen Bedingungen für die D. Vielschutzversicherung – AB Vielschutzversicherung – eine Sturmversicherung.
§ 4 der AB Vielschutzversicherung lautet u.a. (Bl. 57 d. A.):
„3. Die Sturmversicherung erstreckt sich nur auf Schäden, die entstehen
a) durch unmittelbare Einwirkung des Sturms auf die versicherten Sachen
b) dadurch, dass der Sturm Gebäudeteile, Bäume oder andere Gegenstände auf die versicherten Sachen wirft
c) als Folge eines Sturmschadens gemäß a) oder b) an versicherten Sachen oder an Gebäuden, in denen sich versicherte Sachen befinden
4. Von der Versicherung ausgeschlossen sind ohne Rücksicht auf mitwirkende Ursachen Schäden durch………
c) Eindringen von Regen, Hagel, Schnee oder Schmutz durch nicht ordnungsgemäß geschlossene Fenster, Außentüren oder andere Öffnungen, es sei denn, dass diese Öffnungen durch den Sturm entstanden sind und einen Gebäudeschaden darstellen.“
Am 06.07.2012 teilte der Kläger der Beklagten mit, dass nach Unwettern am 05./06.07.2012 Wasser in die Schulungsräume des versicherten Objektes eingetreten sei. Am 09.07.2012 besichtigte ein von der Beklagten beauftragter Schadensgutachter das Anwesen.
Er erstellte ein schriftliches Gutachten. Dessen Einsichtnahme durch den Kläger ist Gegenstand des Rechtsstreits.
Unter dem 08.08.2012 lehnte die Beklagte die Deckung ab.
Mit Schreiben seines anwaltlichen Vertreters vom 11.10.2012 forderte der Kläger die Beklagte zur Übersendung des Schadensgutachtens – gegen Kostenübernahme – auf. Die Beklagte lehnte eine Versendung des Gutachtens ab. Unter dem 25.10.2012 übermittelte sie die Seite 7 des Gutachtens, welche Ausführungen zur Schadensursache und dem -hergang enthält (vgl. Anlage B 2, Bl. 84 d. A.). Im Berufungsverfahren legte die Beklagte noch die Seite 3 des Schadensgutachtens, mit dem Inhaltsverzeichnis und dem Anlagenverzeichnis, vor (Anlage B 3; Bl. 121 d. A.).
Das Amtsgericht Dresden hat mit Endurteil vom 11.04.2013 (Bl. 87 ff. d. A.) die Klage auf Auskunftserteilung über den Inhalt des Gutachtens durch Vorlage desselben abgewiesen.
Im Übrigen wird auf den Tatbestand in der angefochtenen Entscheidung Bezug genommen.
Der Kläger trägt vor, der Versicherungsfall des Sturmschadens sei eingetreten. Der Sturm habe Äste auf das Dach geworfen. Diese hätten die Dachrinne beschädigt, so dass das Wasser nicht mehr habe ablaufen können. Das gestaute Wasser sei an die Abdichtung des Dachfensters gedrückt worden, sei dann in den darunter liegenden Mietbereich gelangt und habe dort das Inventar und die Betriebsausstattung des Klägers beschädigt.
Der Kläger ist der Ansicht, ihm stehe ein Recht zur Einsicht in das Schadensgutachten zu. Der Versicherungsnehmer werde erst durch ein Gutachten in die Lage versetzt, zu prüfen, ob gegebenenfalls noch weitere Ansprüche bestehen. Zudem prüft der Versicherer die Schadenshöhe nicht im eigenen Interesse, sondern auch im Interesse aller Versicherungsnehmer. Der Versicherungsnehmer sei auf die Einsichtnahme in das Gutachten angewiesen.
Der Kläger beantragt (vgl. Schriftsatz vom 10.06.2013; Bl. 101 d. A.):
Unter Abänderung des Urteils des AG Dresden vom 11.04.2013 – Az.: 107 C 8507/12 wird die Beklagte verurteilt, dem Kläger Auskunft durch Vorlage des vom Sachverständigen R. C., … Berlin, bzgl. des Wasserschadens vom 08./09.07.2012, Objekt: …, 01277 Dresden – bei der Beklagten registriert unter Schaden-Nr. 2012, … – gefertigten vollständigen Gutachten zu gewähren.
Die Beklagte beantragt (vgl. Schriftsatz vom 29.05.2013; Bl. 100 d. A.), die Berufung zurückzuweisen.
Sie trägt im Wesentlichen vor, dem Kläger stehe das geltend gemachte Einsichtsrecht nicht zu.
Der Kläger könne einen Anspruch auf Einsichtnahme nicht auf eine entsprechende Anwendung von § 202 VVG stützen. Diese Vorschrift gewährt dem Versicherungsnehmer oder der versicherten Person gegenüber dem Krankenversicherer ein Recht auf Einsicht in Gutachten. Der gesetzgeberische Grund für die Regelung dieses Einsichtsrechts sei das – in der Sachversicherung nicht berührte – Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Gutachten in der Krankenversicherung beträfen den Privat- und Intimbereich des Versicherungsnehmers. § 810 Alt. 1 BGB scheide als Anspruchsgrundlage aus. Denn das Gutachten sei nicht im Interesse des Klägers errichtet worden. Auch begründe das Versicherungsverhältnis selbst – auch in Verbindung mit § 242 BGB – keinen Anspruch auf Vorlage des Schadensgutachtens. Es sei nicht einzusehen, weshalb ein Versicherer gehalten sein sollte, dem Versicherer Material für die Substantiierung seiner Klage auszuhändigen. Ferner gebe es keinen allgemeinen Grundsatz, dass Sachverständigengutachtenskosten zulasten des Versicherungsnehmers gehen und dem Versicherungsnehmer – auch außerhalb eines bedingungsgemäßen Sachverständigenverfahrens – unbeschränkt offenzulegen seien.
Zudem bestreitet die Beklagte den Eintritt ihrer Deckungspflicht.
II.
Das zulässige Rechtsmittel hat in der Sache Erfolg.
1.
Dem Kläger steht gegenüber der Beklagten ein Anspruch auf Vorlage des vom Sachverständigen R. C., … Berlin, bzgl. des Wasserschadens vom 08./09.07.2012, Objekt: …, 01277 Dresden – bei der Beklagten registriert unter der Schaden-Nr. 2012 … – gefertigten, vollständigen Gutachten zu.
1.1. Auf dem Gebiet der Sachversicherung steht dem Versicherungsnehmer gegenüber dem Versicherer ein Anspruch auf Einsicht in ein von diesem veranlasstes Schadensgutachten zu, soweit der Versicherer nicht bereit ist, die vom Versicherungsnehmer geltend gemachten Leistungsansprüche vollständig zu erfüllen, § 242 BGB.
1.2. Das Versicherungsvertragsgesetz (VVG) enthält keine allgemeine Regelung über die Einsicht des Versicherungsnehmers in Gutachten des Versicherers. Das Recht des Versicherungsnehmers, vom Versicherer Abschriften der Erklärungen zu verlangen, die er mit Bezug auf den Vertrag abgegeben hat (§ 3 Abs. 4 VVG), umfasst nach allgemeiner Ansicht nicht die Erteilung von Abschriften eines Schadensgutachtens (vgl. Prölls/Martin, VVG, 28. Aufl. (2010), VVG, § 3 Rn. 9; Ebers, in: Schwintkowski/Brömmelmeyer, Praxiskommentar zum Versicherungsvertragsrecht, 2. Aufl. (2010), § 3 Rn. 23 mit Hinweis auf die Motive zum VVG,1908, S. 76) Eine Spezialregelung enthält § 202 VVG für die Private Krankenversicherung.
Das Einsichtsrecht in fremde Urkunden ist allgemein geregelt in § 810 S. 1 Alt. 1 BGB. Danach kann derjenige, der ein rechtliches Interesse daran hat, eine in fremdem Besitz befindliche Urkunde einsehen, wenn die Urkunde in seinem Interesse errichtet worden ist.
Die Kammer kann dahinstehen lassen, ob vorliegend ein Einsichtsrecht des Klägers aus der entsprechende Anwendung des § 202 VVG oder aus § 810 S. 1 BGB folgt.
1.3. Denn dem Kläger steht gegenüber der Beklagten nach Treu und Glauben aus dem bestehenden Versicherungsverhältnis der gemachte Einsichtsanspruch zu (§ 242 BGB).
In den Kommentierungen zum Versicherungsvertragsgesetz wird das Einsichtsrecht des Versicherungsnehmers in Schadensgutachten des Sachversicherers – soweit ersichtlich – nur vereinzelt erläutert (vgl. Rixecker in: Römer/Langheid, VVG, 3. Aufl. (2012), § 3 Rn. 9). Im neueren Schrifttum wird es – soweit ersichtlich – von Armbrüster (vgl. VersR 2013, 944 ff., 951) und von van Bühren, Handbuch des Versicherungsrechts, 4. Aufl. (2009), § 1 Rn. 901, Seite 285) thematisiert und anerkannt.
Die instanzgerichtliche und obergerichtliche Rechtsprechung nimmt ein Einsichtsrecht überwiegend an (so: OLG Karlsruhe, Beschluss vom 26.04.2005 – 12 W 32/05 – r+s 05, 385 = zfs 05, 350, juris; LG Dortmund, Urteil vom 21.05.2008, 2 O 400/07, NJW-RR 2008, 1483, juris; OLG Oldenburg, Urteil vom 09.12.2011, Az.: 13 O 1604/11, r+s 2012, 343, juris, Rdnr. 15; ablehnend: LG Berlin, Urteil vom 13.03.2001, Az.: 7 O 76/00, VersR 2003, 94).
Das Oberlandesgericht Karlsruhe hat in seinem Beschluss vom 26.04.2005 – 12 W 32/05 – (r+s 05, 385 = zfs 05, 350; juris Rn. 6) ausgeführt:
„Der Versicherungsnehmer selbst kann zwar auch Ermittlungen über Ursache und Höhe des Schadens anstellen, er wird aber in der Regel von der Zuziehung eines Sachverständigen, welcher die Höhe des Schadens bewertet, absehen müssen, denn solche Kosten werden ihm nach § 66 VVG nicht erstattet. Diese Vorschrift geht erkennbar davon aus, dass dem Versicherungsnehmer Kosten der Ermittlung und Feststellung des ihm entstandenen Schadens nur bei Vorliegen besonderer Umstände entstehen; nur wenn ihre Aufwendung nach diesen Umständen geboten war, hat der Versicherer sie zu erstatten. Das beruht auf der Erwägung, dass der Versicherer die Höhe der vom Versicherungsnehmer geltend gemachten Schäden ohnehin nicht nur im eigenen Interesse, sondern auch im pflichtgemäßen Interesse aller Versicherungsnehmer prüfen und zu diesem Zwecke den Schaden bewerten muss. Er ist dazu auch besser in der Lage als der Versicherungsnehmer; denn er muss zahlreiche gleichartige Schadensfälle regulieren und hat deshalb Vergleichsmöglichkeiten und Erfahrungen, verfügt über fachkundige Mitarbeiter und regelmäßig über Geschäftsverbindungen zu Sachverständigen. Seine Schadensermittlung stellt in der Regel eine ausreichende Verhandlungsgrundlage für die Schadensregulierung dar und macht meistens eigene Aufwendungen des Versicherungsnehmers überflüssig. Ist der Versicherungsnehmer in dieser Weise auf die Schadensermittlung des Versicherers angewiesen, dann muss er, damit seinerseits Waffengleichheit herrscht, auch Einsicht in das Ergebnis des Sachverständigen erhalten (OLG Saarbrücken VersR 1999, 750).“
Die Kammer tritt den Ausführungen des OLG Karlsruhe bei.
2.
Die Kostenentscheidungen folgt aus § 91 Abs. 1.ZPO.
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit – der Kostenentscheidung – beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 709 S. 2 ZPO. Die Klage auf Einsichtnahme ist eine vermögensrechtliche Streitigkeit im Sinne von § 708 Nr. 10 ZPO. Denn der Einsichtsanspruch dient der Vorbereitung der Durchsetzung eines Zahlungsanspruchs, § 88 VVG.
3.
Die Voraussetzung für die – unbeschränkte – Zulassung der Revision liegen vor. Die Frage des Einsichtsrechts des Versicherungsnehmers in Schadensgutachten des Sachversicherers hat grundsätzliche Bedeutung, § 543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO. Die Rechtspraxis bedarf einer Orientierungshilfe des Revisionsgerichtes. Die Frage wird in der Kommentarliteratur – soweit ersichtlich – nicht behandelt. Die Regulierungspraxis der Sachversicherer ist – soweit der Kammer bekannt – gegenüber dem Einsichtsrecht des Versicherungsnehmers sehr restriktiv.
4.
Die Festsetzung des Gegenstandswerts hat ihre Rechtsgrundlage in §§ 3 ZPO, 47 GKG in Verbindung mit dem Klageantrag. Für den vorliegenden Auskunftsantrag ist das Angriffsinteresse des Klägers in der Hauptsache entscheidend, das mit einem Teilwert von 1/4 bis 1/5 nach § 3 ZPO zu schätzen ist (Zöller, ZPO, 29. Aufl., § 3 RN 16 „Auskunft“, m.w.N.). Vorliegend geht die Kammer aufgrund der Darlegungen des Klägers von einem Schadensbetrag von ca. € 20.000,00 aus, 1/4 davon beträgt € 5.000,00.