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Tagebuchauswertung durch medizinischen Sachverständigen

Tagebucheinsichtsrecht der Parteien?

OLG Dresden – Az.: 4 U 2751/19 – Beschluss vom 27.07.2020

1. Die Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen.

2. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Beklagte.

3. Dieser Beschluss und das angefochtene Urteil sind vorläufig vollstreckbar.

4. Der Gegenstandswert des Berufungsverfahrens wird auf 33.150,00 € festgesetzt.

Gründe

I.

Die Klägerin nimmt die Beklagte auf Zahlung von Krankentagegeld in Anspruch. Auf der Grundlage einer zwischen den Parteien mit Wirkung ab dem 01.01.2013 geschlossenen Kranken- und Krankentagegeldversicherung verlangt die Klägerin die Zahlung kalendertäglichen Krankengeldes von 50,00 € vom 12.07.2015 bis zuletzt zum 05.05.2017 aufgrund einer behaupteten depressiven Erkrankung und damit einhergehenden durchgehenden Arbeitsunfähigkeit für die Ausübung ihrer Tätigkeit als selbstständige Physiotherapeutin für Pferde. Die Beklagte bestreitet die durchgehende Arbeitsunfähigkeit und behauptet hilfsweise eine nicht nur vorübergehende, sondern dauerhafte Berufsunfähigkeit der Klägerin. Nach Einholung eines Sachverständigengutachtens durch das Landgericht zur Frage vollständiger Arbeitsunfähigkeit im streitigen Zeitraum hat die Beklagte gerügt, der Sachverständige habe unzulässigerweise bislang nicht Akteninhalt gewordene Tagebuchaufzeichnungen der Klägerin herangezogen, das Landgericht habe sodann der Beklagten unter Verletzung rechtlichen Gehörs Einblick in die Tagebuchaufzeichnungen verwehrt.

Das vollumfänglich stattgebende Urteil des Landgerichts nebst dazugehörigem Ergänzungsurteil greift die Beklagte mit ihrer Berufung wie folgt an: Die Vorenthaltung des Tagebuches stelle einen schwerwiegenden Verstoß gegen den Anspruch auf faires Verfahren dar, das Landgericht habe diesbezüglich auch seine Hinweispflichten verletzt und im Übrigen sei das Recht auf rechtliches Gehör ebenfalls missachtet worden. Der Beklagten müsse es möglich sein, die Tatsachen, die der Sachverständige seiner Einschätzung zugrunde gelegt habe, zu überprüfen. Inhaltlich sei der methodische Ansatz des Sachverständigen verfehlt, eine Therapieänderung durch Reduzierung der Medikation habe im Gutachten keine Erwähnung gefunden. Schon gar nicht sei die lückenlose Arbeitsunfähigkeit für jeden geltend gemachten Tag anhand objektiver medizinischer Befunde belegt.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Landgerichts abzuändern, und die Klage abzuweisen, hilfsweise die Revision zuzulassen.

Hilfsweise beantragt sie, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das erstinstanzliche Urteil.

II.

Die zulässige Berufung der Beklagten ist nach § 522 Abs. 2 ZPO ohne mündliche Verhandlung durch – einstimmig gefassten – Beschluss zurückzuweisen. Sie bietet in der Sache offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg. Die Rechtssache hat auch weder grundsätzliche Bedeutung noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts durch Urteil. Auch andere Gründe gebieten eine mündliche Verhandlung nicht.

Zur Begründung nimmt der Senat zunächst auf den Hinweisbeschluss vom 06.05.2020 Bezug. Die Ausführungen der Beklagten in ihrer Stellungnahme vom 10.06.2020 geben keinen Anlass zu einer abweichenden Entscheidung.

1. Es trifft bereits nicht zu, dass das von der Klägerin mit ihrer Eingabe vom 10.10.2019 vorgelegte Tagebuch Bestandteil der Gerichtsakte geworden ist. Bestandteil der Gerichtsakte ist lediglich der Vermerk des Erstrichters geworden, in dem er dienstlich versichert, das Tagebuch erhalten aber ungeöffnet zurückgesandt zu haben. Diese Bekundung ist blattiert, damit Bestandteil der Gerichtsakte geworden und den Parteien zur Kenntnis gegeben worden. Ein Verstoß gegen das Einsichtsrecht der Parteien auf die gesamte Akte liegt damit nicht vor. Eine Verpflichtung des Landgerichts, die von der Klägerin persönlich eingesandten Tagebuchaufzeichnung selbst zu lesen, diese zu den Akten zu nehmen und bei der Entscheidung eigenständig zu verwerten, besteht schon deshalb nicht, weil dies eine psychiatrische Fachkunde voraussetzen würde, die allein dem Sachverständigen vorbehalten ist. Auch unabhängig hiervon bestand keine Verpflichtung, die Tagebuchaufzeichnungen an die Beklagte weiterzuleiten. Der Senat hält an seiner bereits im Hinweisbeschluss vom 06.05.2020 geäußerten Auffassung fest. Ebenso wenig, wie den Parteien und Anwälten uneingeschränkt das Recht eingeräumt werden muss, an der körperlichen oder sonstigen Untersuchung einer Partei durch einen Sachverständigen teilzunehmen, müssen die von einem Patienten dem Gutachter mündlich oder schriftlich offenbarten Tatsachen stets uneingeschränkt allen Parteien zugeleitet werden. Selbst wenn man dies aber annähme, hätte sich ein – zugunsten der Beklagten unterstellter – Verfahrensfehler hier nicht ausgewirkt. Nur dann, wenn die Entscheidung hierauf beruhen würde, käme eine Abänderung, gegebenenfalls erneute Beweisaufnahme in Betracht, vgl. §§ 529 Abs. 2, 513 Abs. 1 ZPO. Vorliegend hat die Beklagte in der Berufungsinstanz von den gesamten Tagebuchaufzeichnungen Kenntnis erlangt. Sie hat aber nicht dargelegt, dass der Sachverständige dies unvollständig, unzutreffend oder in sonstiger Weise methodisch mangelhaft verwertet hätte. Anhaltspunkte hierfür kann auch der Senat den Tagebuchaufzeichnungen nicht entnehmen.

2. Unabhängig hiervon sind auch die Schlussfolgerungen, die die Beklagte auf S. 2 Mitte ihrer Stellungnahme vom 10.06.2020 zieht, unzutreffend. Weder hat der Sachverständige den Tagebuchaufzeichnungen eine „entscheidende“ Bedeutung beigemessen, noch ist das Landgericht dem „ohne jede Prüfung“ gefolgt. Der Sachverständige hat in seiner mündlichen ergänzenden Anhörung auf Nachfrage klar bekundet und auch begründet, dass und weshalb er auch ohne das Tagebuch zu dem Ergebnis einer durchgehenden Arbeitsunfähigkeit gekommen wäre. Damit ist die Mutmaßung der Beklagten, der Sachverständige habe den Aufzeichnungen „entscheidende“ Bedeutung beigemessen, widerlegt. Durch die ergänzende mündliche Anhörung hat das Landgericht weiter gezeigt, dass sie den Ausführungen in den schriftlichen Gutachten des Sachverständigen nicht unreflektiert Glauben schenkt, sondern diese auch hinterfragt.

3. Soweit die Beklagte in ihrer Stellungnahme das Sachverständigengutachten auch methodisch für unzureichend hält, bleibt der Senat bei seiner Einschätzung, dass die vom Sachverständigen vorgenommene Wertung sowohl der subjektiven Beschwerdenschilderung der Patientin als auch aller verfügbaren Krankenunterlagen sowie die eigene Untersuchung der Klägerin zur Befunderhebung und zur Validierung ihrer Beschwerdeschilderung sowie der Verwertung der von der Klägerin dem Sachverständigen zur Verfügung gestellten Tagebuchunterlagen als zusätzlicher Beleg für die Richtigkeit der gefundenen Einschätzung nicht zu beanstanden ist. Die Stellungnahme der Beklagten vom 10.06.2020 beschränkt sich ebenso wie der Berufungsbegründung vom 03.02.2020 insoweit darauf, pauschal zu negieren, dass sich in den vom Sachverständigen ausgewerteten Behandlungsunterlagen, Befundberichten und konsiliaren Stellungnahmen objektive Anknüpfungspunkte befänden, die den Rückschluss auf die Arbeitsfähigkeit der Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum zuließen. Sowohl der als Anlage K 28 beigefügte „Krankheitsverlauf“ als auch die als Anlage K 29 vorgelegte „Dokumentation der Behandlungen“ der behandelnden Therapeutin Dr. G… enthalten jedoch ins Einzelne gehende Beschwerdeschilderungen sowie deren Bewertung durch die Therapeutin, sie sind gerade nicht auf eine „bloße Karteikarte“ beschränkt. Der Sachverständige hat aus diesen Aufzeichnungen eine zunehmende „Exazerbation der psychischen Symptomatik“ (S. 30) mit einer erheblichen Antriebsbeeinträchtigung seit 2016 (S. 31) abgeleitet, diese als konsistent mit den Eigenschilderungen der Klägerin bewertet und in einer ausführlich begründeten Gesamteinschätzung hieraus eine mittelgradig bis teilweise schwere depressive Symptomatik abgeleitet. (GA S. 31ff.). Die Berufung zeigt keine Fehler in der sich hieran anschließenden Beweiswürdigung des Landgerichts auf, die nach § 529 ZPO eine erneute Beweisaufnahme geböten.

In dieser Gesamteinschätzung hat der Sachverständige überdies angenommen, die depressive Symptomatik habe durchgehend im Gesamtzeitraum bestanden und sei zentral durch die gerichtlichen Auseinandersetzungen mit dem Kindsvater mitbedingt (S. 31). Dabei hat er sich maßgeblich darauf gestützt, dass ein „ausgeprägter Interessens- und Freudverlust auch von der behandelnden Therapeutin immer wieder erwähnt“ werde (GA S. 33). Ergänzend hat er sich insofern auf die Einschätzung von Frau Dr. G… vom 20.2.2017 bezogen und auch aus seiner eigenen Untersuchung der Klägerin eine „deutliche Chronifizierungstendenz“ aufgrund der „anhaltenden psychosozialen Belastungsfaktoren“ festgestellt (GA S. 39). Dies deckt sich mit den Erfahrungen des seit vielen Jahren im Arzthaftungs- und Versicherungsrecht tätigen Senats, wonach eine zumindest mittelschwere depressive Symptomatik zwar in ihrer Ausprägung schwanken, unbehandelt jedoch auch chronifizieren kann und wonach ein über mehrere Jahre dokumentiertes Beschwerdebild auch für eine durchgehende Erkrankung spricht. In einer solchen Situation zu verlangen, dass sich für jeden einzelnen Tag, für den Krankentagegeld verlangt wird, Anknüpfungstatsachen aus den Behandlungsunterlagen entnehmen lassen, würde die Beweisanforderungen des § 286 ZPO erheblich überspannen und erscheint nach Auffassung des Senats nicht geboten. Nichts anderes lässt sich dem Urteil des Senats vom 5.11.2019 in einem Rechtsstreit über die Gewährung von Leistungen aus einer Berufsunfähigkeitsversicherung entnehmen. Dort hat der Senat ausgeführt, es genüge nicht, auf ärztliche Zeugnisse Bezug zu nehmen, die nur Angaben des Versicherungsnehmers referieren und daraus einen diagnostischen, klassifikatorischen Schluss zu ziehen. Vielmehr müssten alle Erkenntnismöglichkeiten ausgeschöpft werden, wobei vorab zwischen (subjektiven) Beschwerdeschilderungen und (objektiven) Befunden zu unterscheiden sei (Urteil vom 05. November 2019 – 4 U 390/18 –, Rn. 25, juris). Genauso ist der Sachverständige Dr. Dr. A… hier jedoch auch vorgegangen, der sich gerade nicht auf die Beschwerdeschilderungen der Klägerin beschränkt, sondern die vorliegenden Krankenunterlagen eingehend ausgewertet und auch eine Testung der Klägerin durchgeführt hat. Maßgeblich ist auch hier nicht, ob Depressionen möglicherweise im Rahmen anderer Berufe es dem Erkrankten erlauben, tageweise bestimmten Tätigkeiten nachzugehen. Entscheidend ist vielmehr der konkret zu betrachtende Beruf für den der Sachverständige ein hohes Maß an sozialer und emotionaler Kompetenz als Erfordernis herausgestrichen und dies auch begründet hat.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 ZPO. Der Gegenstandswert wurde gemäß § 3 ZPO festgesetzt.

 

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