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Urlaubsabgeltung für nicht genommenen Erholungsurlaub

Landesarbeitsgericht Düsseldorf

Az: 12 Sa 1512/09

Urteil vom 31.03.2010


1. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Oberhausen vom 11.11.2009 wird kostenfällig zurückgewiesen.

2. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

I. Die Parteien streiten um Urlaubsabgeltung. Der Kläger hatte während des Anstellungsverhältnisses, das von September 2002 bis Ende August 2008 dauerte, keinen Erholungsurlaub in Anspruch genommen und verlangt von dem Beklagten nunmehr den Betrag von € 129.686,00 brutto als Abgeltung der offenen Urlaubstage. Der Beklagte wendet im Wesentlichen ein, dass weder eine gesetzliche noch vertragliche Übertragung des jeweiligen Jahresurlaubs stattgefunden habe.

Der am 31.08.1938 geborene Kläger hatte seit 1995 für die G. AG, einer Tochtergesellschaft der Schuldnerin, Führungsaufgaben in indischen Tochtergesellschaften der Schuldnerin wahrgenommen. Anfang 2002 bot ihm die Schuldnerin, um sich seiner Dienste über das Erreichen des Renteneintrittsalters hinaus zu vergewissern, einen bis zum 31.08.2007 befristeten Anstellungsvertrag an. Dabei ging sie davon aus, dass der Kläger entweder unter Verlängerung des Arbeitsverhältnisses den aufgelaufenen Urlaub bis zur Vollendung des 70. Lebensjahres nehmen oder für die aufgelaufenen Urlaubstage mit der hälftigen Vergütung abgefunden werde. Am 25.04.2002 kam daraufhin zwischen dem Kläger und der C. Verwaltungsdienste GmbH ein Anstellungsvertrag zustande, aufgrund dessen der Kläger für zwei indische Tochtergesellschaften der Schuldnerin zur weiteren Wahrnehmung der dortigen Funktion des Geschäftsführers sowie für leitende Aufgaben in anderen ausländischen Konzernunternehmen abgestellt wurde. In § 8 des Anstellungsvertrages vom 25.04.2002 ist wörtlich bestimmt:

„Herr L. hat Anspruch auf einen jährlichen Erholungsurlaub von dreißig Arbeitstagen, der in Abstimmung mit den übrigen Geschäftsführern der indischen Gesellschaften und dem für die Gesellschaften zuständigen Vorstandsmitglied [der Schuldnerin] zeitlich so festzulegen ist, dass die Belange der Gesellschaft nicht beeinträchtigt werden.

Eine Übertragung von Resturlaub auf Folgejahre ist möglich. Falls am Tage der Beendigung des Vertrages noch Resturlaub vorhanden ist, wird dieser mit 50 % vergütet.“

Bevor die insolvente C. Verwaltungsdienste GmbH zum 30.06.2003 ihre Geschäftstätigkeit einstellte, kamen der Kläger und die Schuldnerin, über deren Vermögen am 01.09.2002 das Insolvenzverfahren eröffnet worden war, am 20./24.03.2003 überein, miteinander das (bis zum 31.08.2007 befristete) Arbeitsverhältnis „zu den bisherigen vertraglichen Bedingungen“ fortzusetzen. Unter dem 20.07/17.08.2007 vereinbarten der Kläger und der Beklagte als Insolvenzverwalter der Schuldnerin „aufgrund der notwendigen Abwicklungs- arbeiten die Verlängerung des Anstellungsverhältnisses bis zum 31.08.2008“. Wörtlich heißt es in der Vereinbarung noch:

„Daneben verpflichten Sie sich, bis zum 31.08.2008 mindestens 30 Tage Urlaub zu nehmen“.

Dem Kläger wurde bis zum 31.08.2008 kein Urlaub erteilt. In den Gehaltsabrechnungen war – bis auf zehn unberücksichtigt gebliebene Urlaubstage – jeweils der (offene) Resturlaub einschließlich bereits bei der G. AG erworbener Urlaubstage ausgewiesen worden.

Mit der Ende November 2008 vor dem Arbeitsgericht Oberhausen erhobenen Klage hat der Kläger den Beklagten auf Urlaubsabgeltung in Anspruch genommen und unter Zugrundelegung seiner durchschnittlichen Monatsbezüge von € 23.031,65 brutto den Abgeltungsbetrag auf insgesamt € 129.686,00 brutto beziffert.

Der Beklagte hält dem – der Höhe nach unstreitigen – Verlangen auf Urlaubsabgeltung entgegen, dass § 8 des Anstellungsvertrages den Zeitraum für die Urlaubsübertragung lediglich auf den 31.12. des jeweiligen Folgejahres ausdehne und es zudem bei den nach § 7 Abs. 3 BUrlG für die Übertragung vorausgesetzten dringenden betrieblichen oder in der Person des Arbeitnehmers liegenden Gründen belasse. Der Kläger habe das Vorliegen eines Übertragungstatbestandes nicht dargelegt, im Übrigen auch zu keiner Zeit Urlaubsanträge eingereicht.

Das Arbeitsgericht hat durch Urteil vom 11.11.2009 der Klage stattgegeben. Mit der form- und fristgerecht eingelegten und begründeten Berufung greift der Beklagte das Urteil, auf das hiermit zur näheren Darstellung des Sach- und Streitstandes verwiesen wird, mit Rechtsausführungen an.

Der Kläger verteidigt das Urteil und beantragt die Zurückweisung der Berufung.

Wegen der Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze mit den hierzu überreichten Anlagen sowie auf die in der Verhandlung am 31.03.2010 protokollierten Erklärungen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

II. Die Berufung hat keinen Erfolg. Das Arbeitsgericht hat zu Recht der Klage stattgegeben. Die Kammer macht sich gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG die zutreffenden Entscheidungsgründe des erstinstanzlichen Urteils zu Eigen. Ihnen ist das Folgende hinzuzufügen.

1. Zwischen den Parteien besteht kein Streit über die Höhe des arbeitstäglichen Urlaubsentgelts von € 1.063.00 brutto und den unter Anwendung der vertraglichen Vereinbarungen errechneten Abgeltungsbetrag von insgesamt € 129.686,00 brutto. Die Berechnung ist mit der Berufung nicht angegriffen worden (§ 520 Abs. § 3 Nr. 2 und 3 ZPO).

Den Betrag von € 129.686,00 brutto kann der Kläger gemäß § 7 Abs. 4, § 11 BUrlG i. V. m. § 4, § 5 Abs. 1 lit. a, Abs. 2 BUrlG ebenso unter dem Gesichts-punkt der Abgeltung des in dem Zeitraum vom 01.09.2002 bis 31.08.2008 gesetzlichen Mindesturlaubs von 127 Arbeitstagen verlangen. Nach den Klarstellungen in der Verhandlung braucht der Kläger sich dann wegen § 13 Abs. 1 Satz 3 BUrlG weder die in § 8 Abs. 2 Satz 2 des Anstellungsvertrages vereinbarte Halbierung der Urlaubsabgeltung noch die Anrechnung tatsächlich nicht genommener Urlaubstage gemäß der Verlängerungsvereinbarung vom 20.07./17.08.2007 entgegenhalten zu lassen.

Der Beklagte gesteht zu, dass der erstinstanzlich ausgeurteilte Betrag von € 129.686,00 brutto Masseverbindlichkeit ist.

2. Die Vorinstanz hat § 8 Abs. 2 Satz 1 des Anstellungsvertrages vom 24.03.2003 unter Würdigung der unstreitigen Begleitumstände, die dem Vertragsschluss vom 24.03.2003 vorausgingen, ausgelegt (§ 133, § 157 BGB) und danach zutreffend auf die Regelungsintention der Parteien geschlossen, nicht genommenen Urlaub unbefristet und ohne Vorliegen der gesetzlichen Tatbestände des § 7 Abs. 3 BUrlG automatisch auf die Folgejahre zu übertragen. Die aufgrund der Besonderheiten der Anstellungsverhältnisses naheliegende Konsequenz der Urlaubsübertragung, nämlich das Vorhandensein von Resturlaub bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses, hat die Parteien erkennbar zu der originellen Regelung in § 8 Abs. 2 Satz 2 des Anstellungsvertrages veranlasst, die Abgeltung des noch offenen Resturlaubs zu bestimmen und dabei den „Wertersatz“ auf 50 % der Vergütung festzusetzen.

3. Die Ausführungen des erstinstanzlichen Urteils halten den Angriffen der Berufung stand.

Der Wortlaut des § 8 Abs. 2 Satz 1 des Anstellungsvertrages spricht, indem die Übertragung von Resturlaub „auf Folgejahre“ zugelassen wird, bereits dafür, dass eine Befristung von übertragenem Urlaub nicht erfolgen sollte. Denn wenn die Parteien hätten bestimmen wollen, dass im Urlaubsjahr nicht erteilter Urlaub bis spätestens zum 31.12. des Folgejahres genommen werden müsse, dann wäre es ein Leichtes gewesen, dies etwa mit der Formulierung, dass offener Urlaub lediglich auf das „jeweilige Folgejahr“ übertragen werde, zum Ausdruck zu bringen.

Des Weiteren ging, wie die Vorinstanz zutreffend ausgeführt hat, die Interessenlage der Parteien erkennbar dahin, dass im Fall einer „Beeinträchtigung der Belange der Gesellschaft“ die Urlaubsübertragung auch über das jeweilige Folgejahr hinaus stattfinden sollte. So legt § 8 Abs. 1 des Anstellungsvertrages einerseits nahe, dass der Kläger nach Abstimmung mit anderen Geschäftsführern und dem Vorstand der Schuldnerin die Lage des Urlaubs weitgehend selbstbestimmt festlegen durfte (vgl. BAG 27.01.1987 – 8 AZR 579/84 – Juris Rn. 27, zur Statthaftigkeit einer derartigen Regelung). Andererseits löst deswegen der Umstand, dass er tatsächlich keinen Urlaub nahm, nicht die Rechtsfolge aus, dass der Urlaubsanspruch zum 31.03. oder 31.12. des Folgejahres untergegangen wäre. Vielmehr hat der Beklagte die selbstbestimmte Entscheidung des Klägers, dem es tatsächlich überlassen blieb, selbst einzuschätzen, ob die Inanspruchnahme von Urlaub „die Belange der Gesellschaft (nicht) beeinträchtigt“, hinzunehmen. Anzumerken ist, dass der Beklagte den Darlegungen des Klägers zu den betrieblichen Gründen, die ihn an der Inanspruchnahme von Urlaub hinderten, weder erstinstanzlich durch konkreten Vortrag noch in der Berufungsbegründung entgegengetreten ist. Unerheblich ist damit auch, dass – vom Beklagten mit der Berufung moniert – der Kläger „keine Urlaubsanträge einreichte“. Nach dem Bundesurlaubsgesetz, das in § 7 Abs. 1 lediglich die arbeitgeberseitige Berücksichtigung etwaiger Wünsche des Arbeitnehmers vorschreibt, ist der Arbeitnehmer allemal nicht verpflichtet, Urlaub zu „beantragen“.

Schließlich konzedierte der Beklagte selbst durch die fortlaufende Erfassung der offenen Urlaubstage in den Gehaltsabrechnungen die rechtliche Existenz des übertragenen Urlaubsanspruchs. Allerdings ist in der „Fortschreibung“ offenen Resturlaubs nicht ohne Weiteres ein Schuldanerkenntnis zu sehen (BAG 09.02.2989 – 8 AZR 505/87 – Juris Rn. 24 ff., BAG 10.03.1987 – 8 AZR 610/84 – Juris Rn. 17 ff., LAG Schleswig-Holstein 09.05.2007 – 6 Sa 436/06 – Juris Rn. 47 f.). Dies gilt auch im Streitfall insbesondere im Hinblick darauf, dass Resturlaub aus dem Arbeitsverhältnis des Klägers mit der G. AG in die Verdienstabrechnungen mit eingegangen ist. Immerhin lassen die fortlaufend in den Verdienstabrechnungen aufaddierten Urlaubstage auf den Vertragswillen rückschließen, dass kein Verfall von im laufenden Arbeitsverhältnis erworbenem Urlaub eintreten sollte (vgl. BGH 16.03.2009 – II ZR 68/08 – Juris Rn. 16, zur Maßgeblichkeit von nach Vertragsschluss liegenden Umständen). Auch wenn der Arbeitgeber wie hier der Beklagte die Personalverwaltung und Lohnbuchhaltung extern vornehmen lässt, muss er aufgrund seiner Organisations- und Kontrollpflichten die Handhabung, offene Urlaubsansprüche aufzuaddieren und in Abrechnungen sowie Verdienstbescheinigungen auszuweisen, sich zurechnen lassen.

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4. Die Übertragungsabrede ist rechtswirksam. Sie verstößt nicht gegen § 13 Abs. 1 Satz 3 BUrlG.

Nach Auffassung der Kammer (Kammer 02.02.2009 – 12 Sa 486/06 – Juris Rn. 32 ff.) kann eine einzelvertragliche Vereinbarung, die von einer zeitlich unbegrenzten Urlaubsübertragung ausgeht, schon deshalb nicht gegen § 7 Abs. 3 BUrlG verstoßen, weil das Bundesurlaubsgesetz selbst keine Befristung des Urlaubsanspruchs auf den 31.12. des Kalenderjahres oder den 31.03. des Folgejahres enthält (Kammer 02.02.2009 – 12 Sa 48/06 – Juris Rn. 32 ff., dies nur für den Fall der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit annehmend: BAG 24.03.2009 – 9 AZR 983/07 – Rn. 61). Für die Auffassung der Kammer streitet weiterhin die nach Art. 9 der ILO-Convention 132 gebotene völkerrechtsfreundliche Interpretation (vgl. Schlussanträge der Generalanwältin Trstenjak 24.01.2008 – C-350/06 Schultz-Hoff – Fn. 43; vgl. Fn. 53: „Dies habe zur Folge, dass nicht derjenige sanktioniert werde, der die Rechtsverletzung zu vertreten habe [der Arbeitgeber], sondern derjenige, der nicht imstande sei, sein Recht durchzusetzen [der Arbeitnehmer]“). Schließlich ist die Konstruktion eines Anspruchs auf „Ersatzurlaub“ nach § 275, § 286, § 280 BGB leistungsstörungsrechtlich unstimmig (Kammer 25.07.2007 – 12 Sa 944/07 – Juris Rn. 49 ff.). Die Kammer ist demzufolge in ihrer Spruchpraxis der mit einer Schadensersatzpflicht abgestützten Befristungsthese, wohl erstmals in einer Entscheidung des LAG Bremen angedacht (so Ernst BB 2008, 113, unter Hinweis auf LAG Bremen 19.08.1953 – Sa 116/53 – AP Nr. 1 zu § 6 BremUrlaubsG), nicht gefolgt.

Ebenso ist es Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, dass gegen eine einzelvertragliche Vereinbarung, nach der der Urlaubsanspruch nicht erlöschen soll, keine rechtlichen Bedenken bestehen, weil im Vergleich zum Gesetz diese Regelung für den Arbeitnehmer günstiger ist (BAG 09.02.1989 – 8 AZR 505/87 – Juris Rn. 22, BAG 21.06.2005 – 9 AZR 200/04 – Juris Rn. 23/26 [zur Zulässigkeit der einzelvertraglichen Übertragung bis zum Ende des Folgejahres], vgl. Düwell, JbArbR 37[2000], S. 91; a. A. BAG 23.03.1984 – 7 AZR 323/82 – Juris Rn. 41).

5.Dem Auslegungsergebnis des Arbeitsgerichts, dass § 8 des Anstellungsvertrages den Urlaubsanspruch entfriste, hält der Beklagte entgegen, dass, weil eine abweichende Regelungsabsicht im Vertrag nicht zum Ausdruck gebracht worden sei, nach dem Regelungswillen der Parteien die urlaubsgesetzlichen Regelungen und somit die grundsätzliche Befristung des Urlaubsanspruchs anwendbar bleiben sollten. Der Beklagte will damit eine von der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelte Auslegungsmaxime (vgl. BAG 19.04.1994 – 9 AZR 671/92 – Juris Rn. 23, BAG 28.04.1998 – 9 AZR 314/97 – Juris Rn. 33 f.) berücksichtigt wissen. Indessen verfängt dieser Einwand schon deswegen nicht, weil nach den EuGH-Urteilen vom 20.01.2009 – C-350/06 Schultz-Hoff – und vom 10.09.2009 – C-277/08 Vicente Pereda – der Ausgangspunkt der BAG-Rechtsprechung, dass der gesetzliche Urlaubsanspruch gemäß § 7 Abs. 3 BUrlG befristet sei, nicht mehr zu verteidigen ist (vgl. Schlachter RdA 2009, Sonderbeilage zu Heft 5, 33 f.).

a) Allerdings wird die EuGH-Entscheidung vom 20.01.2009 in der Instanzrechtsprechung (LAG München 03.12.2009 – 4 Sa 564/09 – Juris Rn. 26, 27 „minimalinvasiver Eingriff“) sowie im Schrifttum (z. B. Genenger, Anm. LAGE § 7 BUrlG Abgeltung Nr. 22, Seite 42) so verstanden, dass es außerhalb der Fälle langandauernder Arbeitsunfähigkeit bei dem „Fristenregime, wie es sich aus § 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG [Ende des Urlaubsjahres] und aus § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG [bei Übertragung aus dringenden betrieblichen oder in der Person liegenden Gründen bis zum 31. März] ergibt“, bleibe (Düwell dbr 2010, 11/13, MüArbR/Düwell, 3. Aufl., § 78 Rn. 26, ErfK/Dörner, 10. Aufl., § 7 BUrlG Rn. 391, 46a, Preis, Arbeitsrecht, 3. Aufl., § 47 III 3 b). In dieselbe Richtung deutet ein obiter dictum des Bundesarbeitsgerichts im Urteil vom 24.03.2009 (- 9 AZR 983/07 – Juris Rn. 49, 68).

b) Nach Auffassung der Kammer sind derartige Überlegungen mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht zu vereinbaren.

(11) Mit der gebotenen richtlinienkonformen Interpretation (i.c. Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG = Art. 7 der Richtlinie 93/104/EG) haben die nationalen Gerichte ihrer Verpflichtung nachzukommen, die volle Wirkung des Unionsrechts sicherzustellen. Die Auslegung innerstaatlichen Rechts muss soweit wie möglich am Wortlaut und Zweck einschlägiger Richtlinien ausgerichtet werden. Wortlaut und Zweck einer Richtlinie sind autonom von der Warte des Unionsrechts aus zu erfassen, das sich an alle Mitgliedsstaaten wendet und an solche, die es noch werden wollen. Mithin sind die Regelungsintentionen unionsrechtlicher Grundsätze und Vorschriften nicht nach den rechtlichen Besonderheiten und Begrifflichkeiten in dem einzelnen Mitgliedsstaat, auch nicht in dem des vorlegenden Gerichtes, zu ermitteln, sondern von nationalem Vorverständnis loszulösen. EuGH-Entscheidungen zu einer Richtlinie können demzufolge nicht vor den Hintergrund nationaler Regelungen und Rechtsauffassungen gestellt und als deren „enge“ oder „weite“ Präzisierung verstanden werden. Der EuGH führt in seinen Entscheidungen keinen Dialog mit einem einzelnen Mitgliedsstaat und dessen Rechtssystem.

(22) Nach dem EuGH-Urteil vom 20.01.2009 Schultz-Hoff darf eine nationale Urlaubsregelung einen Übertragungszeitraum für am Ende des Bezugszeitraums nicht genommenen Jahresurlaub vorsehen, um dem Arbeitnehmer, der daran gehindert war, seinen Jahresurlaub zu nehmen, eine zusätzliche Möglichkeit zu eröffnen, in dessen Genuss zu kommen (Rn. 42). Die Regelung darf „sogar den Verlust dieses Anspruchs [scil. auf bezahlten Jahresurlaub] am Ende eines Bezugszeitraums oder eines Übertragungszeitraums beinhalten“ (Rn. 43). Stünde danach das Unionsrecht einer „Befristung“ des Urlaubsanspruchs nicht im Wege, so ist gleichwohl dem Urteil vom 20.01.2009 Schultz-Hoff (Rn. 30) zu entnehmen, dass dem Europäischen Gerichtshof „ein unbegrenzter Erhalt des Urlaubsanspruchs vorzuschweben scheint“ (insoweit zutr. Kamanabrou SAE 2010, 123). Diese Analyse wird durch das EuGH-Urteil vom 10.09.2009 Vicente Pereda verifiziert. Hier hat der Gerichtshof zu der Konstellation, dass der Arbeitnehmer lediglich während der Betriebsferien zur Jahresmitte arbeitsunfähig erkrankt, danach aber ununterbrochen arbeitsfähig war und der Arbeitgeber die Nachgewährung des Jahresurlaubs verweigerte, explizit entschieden, dass der Arbeitnehmer seinen Jahresurlaub dann auch außerhalb des Bezugszeitraums in Anspruch nehmen könne.

Die Feststellung, dass unionsrechtlich dem arbeitsfähigen (wieder genesenen) Arbeitnehmer weiterhin der „Original“-Urlaubsanspruch zusteht, schließt zwangsläufig die Annahme aus, dass nationale Rechtsvorschriften, zumal angesichts der genuinen Vielfalt in den Mitgliedsstaaten, allein aufgrund der bloßen Möglichkeit, dass der Urlaub bis zum Ablauf des Bezugs- oder Übertragungszeitraums erteilt werden könnte, eine Anspruchsbefristung statuieren oder einen Schadensersatzanspruch als Kompensation für den Untergang des originären unionsrechtlichen Urlaubsanspruchs genügen lassen dürfen. Im Licht der Rechtsprechung des EuGH ist daher davon auszugehen, dass beim Eintritt von Störfaktoren, die die Urlaubsrealisierung im Bezugs- oder Übertragungszeitraum scheitern lassen, der Urlaubsanspruch als gesetzlicher Primäranspruch fortbesteht.

(33) Dass den EuGH-Urteilen Konstellationen zugrunde lagen, in denen der Arbeitnehmer aufgrund krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit gehindert war, Urlaub überhaupt (Schultz-Hoff) oder während der Betriebsferien (Vicente Pereda) zu nehmen, erlaubt keine Verengung des Richtlinienzwecks auf „Erkrankungsfälle“. Vielmehr steht der Erkrankungsfall exemplarisch für die Situation, dass der Arbeitnehmer tatsächlich nicht die Möglichkeit hat, den ihm mit der Richtlinie verliehenen Anspruch auszuüben. Demnach setzt bereits das Urteil vom 20.01.2009 Schultz-Hoff für eine nationale Regelung, die auf eine Befristung des Urlaubsanspruchs abzielt, ausdrücklich voraus, „dass der Arbeitnehmer, dessen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erloschen ist, tatsächlich die Möglichkeit hatte, den ihm mit der Richtlinie verliehenen Anspruch auszuüben“ (Rn. 43). Insoweit gilt der Grundsatz der Effektivität. Art. 31 Abs. 2 der Europäischen Grundrechte-Charta und Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie stellen den Anspruch jedes Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub als einen besonders bedeutsamen Grundsatz des Sozialrechts der Union heraus. Damit darf nach dem Grundsatz der Effektivität die Ausübung dieses Anspruchs dem Arbeitnehmer nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert werden (vgl. EuGH 16.07.2009 – C-69/08 Visciano – Rn. 43 ff., EuGH 24.03.2009 – C-445/06 Danske Slagterier – Rn. 62). Auf eine übermäßige Erschwernis liefe es hingegen hinaus, vom Arbeitnehmer zu verlangen, dass er – zur Vermeidung des Anspruchsuntergangs zu den Fristen nach § 7 Abs. 3 Satz 1 und 3 BUrlG – alle ihm zur Verfügung stehenden Rechtsschutzmöglichkeiten ausschöpft, um den Urlaubsanspruch durchzusetzen (Kammer 02.02.2009 – 12 Sa 486/06 – Juris Rn. 55, 61-70, Schlachter, a. a. O., Abele RdA 2009, 319 [IV 4]). So obliegt es schon nach der Arbeitszeitrichtlinie dem Arbeitgeber zu gewährleisten, dass der Arbeitnehmer die ihm verliehenen Rechte tatsächlich in Anspruch nimmt (vgl. EuGH 07.09.2006 – C-484/04 Kommission/Vereinigtes Königreich – Juris Rn. 42 f., Schlussanträge-Trstenjak 24.01.2008 – C-350/06 Schultz-Hoff – Rn. 62 [2. Satz], 65). Erst recht ist nach deutschem Urlaubsrecht die Urlaubserteilung eine „Bringschuld“ des Arbeitgebers, denn ihm fällt das Recht und die Pflicht zu, den Urlaub festzulegen. Kommt er dem nicht nach, wird es dem Arbeitnehmer durch das prozessuale Verfahrensrecht übermäßig erschwert, rechtssicher seinen Urlaubsanspruch fristgerecht durchzusetzen (vgl. Leinemann BB 95, 1959 f.).

(44) Die Annahme, dass § 7 Abs. 3 Satz 1 u. Satz 3 BUrlG den Urlaubsanspruch befriste, zeitigt überdies Rechtsunsicherheiten, die ebenfalls mit dem Effektivitätsgrundsatz unvereinbar sind (vgl. EuGH – 16.07.2009 Visciano – Rn. 46, Schlussanträge-Trstenjak – C-350/06 Schultz-Hoff – Rn. 46 ff.). Das Gebot der Normenbestimmtheit und -klarheit ist zudem als Ausprägung des grund-rechtlichen Effektivitätsprinzips von der Rechtsprechung bei der Auslegung und Anwendung von Rechtsnormen zu berücksichtigen (BK/Robbers, Art. 20 Abs. 1 GG, Rn. 2134).

In diesem Licht lässt es das Bundesurlaubsgesetz unter Anwendung der herkömmlichen juristischen Methoden der Gesetzesauslegung an der Voraussehbarkeit der Rechtsfolgen fehlen und sagt vor allem nicht dem Gläubiger (Arbeitnehmer), was er zur Vermeidung des Anspruchsverfalls unternehmen muss (Kammer 25.07.2007 – 12 Sa 944/07 – Juris Rn. 41, 02.02.2009 – 12 Sa 486/06 – Juris Rn. 77-80, vgl. Genenger, a.a.O., S. 34 f.; ferner EuGH 28.01.2010 – C-406/08 Uniplex – Rn. 39, dazu, dass eine Fristenbestimmung wegen der drohenden Präklusionswirkung hinreichend genau, klar und vorhersehbar sein müsse, um den Erfordernissen der Rechtssicherheit zu genügen). Hinzu tritt, dass die Verwirklichung des Urlaubsanspruchs im Falle der „rechtzeitigen“ Wiedergenesung vor Fristablauf (31.03.) praktisch scheitern kann, wenn etwa der Arbeitnehmer wegen § 7 Abs. 1 Satz 1 BUrlG im Urlaubsjahr keinen Urlaub erhalten hat, er nach einer bis zum 03.03. währenden Arbeitsunfähigkeit am 04.03. um Gewährung von 24 Werktagen Urlaub aus dem Vorjahr nachsucht und der Arbeitgeber die Urlaubserteilung ablehnt: Die Selbstbeurlaubung ist dem Arbeitnehmer versagt, und die Klage käme ohnehin zu spät. Will der Arbeitnehmer nun sich anwaltlicher Hilfe vergewissern und beantragt sein Rechtsanwalt einige Tage später den Erlass einer einstweiligen (Urlaubs)Verfügung, hat ein plausibler Geschehensablauf (das Arbeitsgericht entscheidet über den Antrag erst Mitte/Ende März nach mündlicher Verhandlung, um den Arbeitgeber anzuhören, weil dieser einwendet, den Urlaub bereits teilweise im Vorjahr gewährt zu haben), zur Folge, dass der Urlaubsanspruch des gesunden Arbeitnehmers, wenn auf den 31.3. zeitlich begrenzt, unterginge.

c) Mit dem Befund, dass sich die bisher vorherrschend vertretene Befristungsthese nicht mit der richtlinienkonformen Auslegung des BUrlG verträgt, fällt auch die Maxime, dass eine kollektiv- oder einzelvertragliche Übertragungs- oder Abgeltungsregelung nach den urlaubsrechtlichen Grundsätzen, die die höchstrichterliche Judikatur von 1982 bis Anfang 2009 favorisiert hatte, auszulegen sei. Die Vorinstanz hat daher zu Recht die jüngste Rechtsprechungsänderung (BAG 24.03.2009 – 9 AZR 983/07 -) dahin ausgewertet, dass die Urlaubsübertragung auf Folgejahre durch einzelvertragliche Vereinbarung (hier: in § 8 des Anstellungsvertrages) möglich sein müsse.

6. Die vertraglichen Vereinbarungen und deren Handhabung, namentlich die Fortschreibung offenen Urlaubs in den Verdienstabrechnungen, stehen schließlich der Annahme entgegen, dass eine Verwirkung oder Verjährung der erworbenen Ansprüche auf Jahresurlaub eingetreten sein könnte.

III. Die Kosten der Berufung hat nach § 97 Abs. 1 ZPO der Beklagte zu tragen.

Die Kammer hat der entscheidungserheblichen Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung beigemessen und daher für den Beklagten gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 1 die Revision an das Bundesarbeitsgericht zugelassen.

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