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Verdachtskündigung – Sachverhaltsaufklärung vor Ausspruch

Hessisches Landesarbeitsgericht

Az.: 4/12 Sa 523/07

Urteil vom 17.06.2008

Vorinstanz: Arbeitsgericht Offenbach, Az.: 6 Ca 562/06


Leitsätze:

Verbleiben nach der Anhörung des Arbeitnehmers Zweifel am Tathergang, obliegt es dem Arbeitgeber im Rahmen seiner Pflichten zur Sachverhaltsaufklärung, vor dem Ausspruch einer Verdachtskündigung die Personen zu befragen, die an dem Vorfall beteiligt waren oder Kenntnisse über ihn haben.


Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgericht Offenbach am Main vom 20. Februar 2007 – 6 Ca 562/06 – wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer Kündigung.

Die Beklagte betreibt ein Krankenhaus, in dem sie regelmäßig mehr als zehn Arbeitnehmer beschäftigt. Die Klägerin (geboren am XX.XX.19XX, verheiratet) ist für die Beklagte seit 1989 als Hebamme zu einer Bruttomonatsvergütung von zuletzt 3.400 € tätig. Gemäß § 2 des Arbeitsvertrages vom 10. Mai 1989 unterliegt das Arbeitsverhältnis dem BAT und den diesen ergänzenden, ändernden oder ersetzenden Tarifverträgen.

Bei der Beklagten wird Müttern bei der Geburt üblicherweise Dolantin verabreicht. Dabei handelt es sich um ein starkes Schmerzmittel mit etwa einem Zehntel der Wirksamkeit von Morphium. Dieses Mittel unterfällt dem BTMG, da es bei unsachgemäßer Verabreichung zu Abhängigkeit führen kann. Bei normalen Geburten werden meist 50 mg und bei Kaiserschnitten 100 mg Dolantin verordnet. Bei der Beklagten gilt seit 01. Juni 2005 die „Dienstanweisung über den Umgang mit Betäubungsmitteln“ vom 31. Mai 2005, die unter anderem folgende Regelungen enthält:

„3. Form der Betäubungsmittelverschreibung

3.1. Betäubungsmittel für den Stationsbedarf dürfen nur auf einem Betäubungsmittelanforderungsschein … im Durchschreibeverfahren verschrieben werden. Die Formblätter sind durchlaufend nummeriert. … Die Verpflichtung ist an die verschreibende Person gebunden und bleibt auch bei einem Wechsel des Tätigkeitsfeldes bestehen. …

3.2. Die Verschreibung eines Betäubungsmittels muss von einem Arzt getätigt werden, der einer Klinik bzw. einer Teileinheit einer Klinik unmittelbar vorsteht.

6. Betäubungsmittelnachweis auf der Station/Pflegegruppe

6.1. Betäubungsmittel sind auf den Pflegegruppen/Stationen diebstahlsicher in einem besondern Schrank der vorgeschriebenen Sicherheitsstufe aufzubewahren.

6.3. Auf jeder Station/Pflegegruppe muss ein Betäubungsmittelringbuch mit Karteikarten nach amtlichem Muster mit folgenden Eintragungen angelegt werden:

6.4. Die Eintragungen in das Betäubungsmittelbuch und die Übereinstimmung der Bestände mit den geführten Nachweisen sind vom verantwortlichen Arzt am Ende eines jeden Kalendermonats zu prüfen und in Spalte 8 der BtM-Karteikarte mit Datum und Namenszeichen zu bestätigen.

6.5. Die Karteikarten sind separat für jedes Betäubungsmittel fortlaufend auf Vorder- und Rückseite … zu nummerieren.

6.6. Bei Korrekturen von Zu- und Abgängen sowie bei Verwerfen von BtM, z.B. wegen Ampullenbruchs, sind zwei Unterschriften erforderlich.

6.7. Bei einem Wechsel in der Leitung einer Klinik oder einer Teileinheit haben die betreffenden Personen das Datum der Übergabe sowie den übergebenden Bestand zu vermerken und durch ihre Unterschrift zu bestätigen.“

Nachdem der Eindruck entstanden war, dass die Klägerin überdurchschnittlich viel Dolantin verbrauche, und aus Sicht der Beklagten Unregelmäßigkeiten bei der Betäubungsmittelentnahme und -verabreichung festgestellt wurden, wurden auf Anweisung und zum Teil in Gegenwart des Chefarztes der Gynäkologie und Geburtshilfe zwischen April und Juni 2006 mit der Klägerin drei Gespräche geführt, in denen die Beklagte deutlich machte, dass Unregelmäßigkeiten bei der Medikamentenabgabe und der Führung des BTM-Buches zu arbeitsvertraglichen Konsequenzen führen könnten.

Am 12. Oktober 2006 behandelte die Klägerin die Patientin A nach einer Kaiserschnittgeburt. Es handelte sich um ihre letzte Behandlung vor einem bis 09. November 2006 andauernden Urlaub, in dem sie nicht verreiste und der am 29. Oktober 2006 unterbrochen wurde, als sie von der Beklagten zu einer Geburt hinzugezogen wurde. Am 12. Oktober 2006 zeichnete die diensthabende Ärztin 100 mg Dolantin zur Verabreichung an Frau A ab. In der Patientendokumentation vermerkte die Klägerin die weisungsgemäße Verabreichung dieses Medikaments an Frau A. Am Folgetag wurde im Kreißsaal festgestellt, dass zwei Ampullen Atosil – ein schwächeres Beruhigungsmittel – fehlten. Da der Verdacht aufkam, dass die Klägerin Frau A Atosil statt Dolantin gegeben haben könnte, sandte die Beklagte eine Probe des Urins der Patientin zur Analyse an ein Labor, ohne die Patientin darüber zu unterrichten. Die Analyse ergab, dass sich der Wirkstoff von Atosil, nicht aber der von Dolantin im Urin befand. Der Endbefund ging bei der Beklagten per Fax am 02. November 2006 ein. Ein Befund mit einer Prüfung der Halbwertszeiten der Substanzen ging bei der Beklagten am 17. November 2006 ein.

Nach der Rückkehr der Klägerin aus dem Urlaub führten am 10. November 2006 der Chefarzt der Gynäkologie und Geburtshilfe, die stellvertretende Pflegedienstdirektorin, die leitende Hebamme des Kreißsaals, die leitende Pflegekraft der Gynäkologie und eine leitende Mitarbeiterin der Rechtsabteilung ein Gespräch mit der Klägerin über den Vorfall vom 12. Oktober 2006. Auf diesen angesprochen erklärte die Klägerin, sie könne sich an die Patientin nicht erinnern. Im Rahmen dieses Gesprächs wurde die Klägerin freigestellt. Im Übrigen ist der Verlauf des Gesprächs zwischen den Parteien streitig. Nach dem Gespräch befragte die Beklagte die leitende Pflegekraft, ob es Auffälligkeiten gegeben habe. Weitere Mitarbeiter befragte sie zu dem Vorfall nicht. Stattdessen untersuchte sie stichprobenartig ältere Akten von Patienten, die die Klägerin behandelt hatte. Sie stellte in elf Fällen aus der Zeit von Januar bis März 2006 die Dolantinvergabe betreffende Differenzen zwischen den Eintragungen im BTM-Buch und den Patientenakten fest. Wegen der Einzelheiten wird auf die Anlage zum Schriftsatz vom 30. November 2006 (Bl. 52 – 54 d.A.) Bezug genommen.

Am 14. November führten die stellvertretende Personalleiterin, die stellvertretende Pflegedirektorin, die leitende Pflegekraft der Gynäkologie und Geburtshilfe sowie die Leiterin der Rechtsabteilung und eine weitere Mitarbeiterin aus der Rechtsabteilung erneut ein Gespräch mit der Klägerin. In diesem erklärte die Klägerin, sie gebe relativ viel Dolantin. Die Ärzte verabreichten zu wenig. Die Beklagte bot der Klägerin zur Vermeidung einer außerordentlichen Kündigung den Abschluss eines Aufhebungsvertrages an, was die Klägerin am Folgetag ablehnte.

Mit Schreiben vom 15. November 2006, wegen dessen Inhalts auf die Anlage zum Schriftsatz vom 30. November 2006 (Bl. 26 – 28 d.A.) Bezug genommen wird, unterrichtete die Beklagte den Betriebsrat über eine „beabsichtigte außerordentliche Kündigung“. Mit Schreiben vom selben Tag teilte sie dem Betriebsrat unter Bezugnahme auf das erste Anhörungsschreiben mit, dass sie höchst vorsorglich das Arbeitsverhältnis aus den angegebenen Gründen auch ordentlich kündigen wolle. Der Betriebsrat erklärte mit Schreiben vom 16. November 2006, er stimme dem „Antrag auf außerordentliche Kündigung“ zu. Mit Schreiben vom 17. November 2006 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin fristlos und hilfsweise zum 30. Juni 2007. Die Klägerin erhob gegen die ihr am 17. November 2006 zugegangene Kündigung die vorliegende, der Beklagten am 27. November 2006 zugestellte Kündigungsschutzklage. Ein von der Klägerin am 17. November 2006 in Auftrag gegebenes Drogenscreening ergab gemäß einem Bericht vom 21. November 2006 einen negativen Befund. Das auf eine Strafanzeige der Beklagten eingeleitete Ermittlungsverfahren gegen die Klägerin wegen des Verdachts von Verstößen gegen das BTMG stellte die Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Darmstadt am 08. November 2007 gemäß § 170 Abs. 2 StPO ein. Über die von der Beklagten dagegen eingelegte Beschwerde ist bisher noch nicht entschieden worden. Ein Teil der betroffenen Patientinnen, unter anderem Frau A, hat am 16. Februar 2007 die in der Anlage zum Schriftsatz vom 19. Februar 2007 (Bl. 132 – 134 d.A.) ersichtlichen Schweigepflichtentbindungserklärungen abgegeben.

Die Klägerin hat den Vorwurf bestritten, Dolantin entwendet zu haben. Sie habe möglicherweise lediglich versäumt, die Patientenakten ausreichend und vollständig zu dokumentieren. Unkorrektheiten in der Dokumentation seien aufgrund der Stresssituationen in für Mutter und Kind lebensgefährlichen Geburtsphasen nichts Ungewöhnliches. Bis Frühjahr 2006 sei es gängige Praxis gewesen, dass Hebammen Betäubungsmittel ohne ärztliche Verordnung verabreichten, wenn Patientinnen unter starken Schmerzen litten. Die Vorfälle aus dem ersten Quartal 2006 seien bereits Gegenstand der Unterredungen im zweiten Quartal 2006 gewesen. Bei der Behandlung von Frau A seien der Klägerin zwei Ampullen mit jeweils 50 mg Dolantin auf den Boden gefallen und zerbrochen. Die Glasreste habe die Klägerin entsorgt. Frau A habe sie das schwächere Schmerzmittel Voltaren verabreicht. Da die Patientin zwischenzeitlich eingeschlafen sei, sei eine Dolantinverabreichung nicht mehr indiziert gewesen. Atosil habe sie Frau A nicht verabreicht. Aus dem Nachweis des Atosilwirkstoffs im Urin von Frau A sei zu folgern, dass die Verabreichung dieses Medikaments bereits vor der Behandlung der Klägerin im Aufwachraum geschehen sein müsse, zu dem die Klägerin keinen Zutritt habe. Die Gespräche vom 10. und 14. November 2006 erfüllten nicht die Anforderungen an eine Anhörung zu einer Verdachtskündigung. Es habe sich nur um lockere Unterredungen gehandelt. Ihrem Wunsch, Einsicht in die Unterlagen der betroffenen Patientinnen zu nehmen, habe die Beklagte nicht entsprochen. Sie habe nicht darum gebeten, die Akten mit nach Hause nehmen zu dürfen. Die Klägerin hat die Ansicht vertreten, sie sei nicht ordnungsgemäß zu dem gegen sie erhobenen Verdacht angehört worden. Dies hätte vorausgesetzt, dass ihr Gelegenheit zur Einsicht in die Patientenakten gegeben worden wäre. Die Verwertung der Patientenakten sei unzulässig. Da die Beklagte mit dem Kündigungsausspruch nicht das Ergebnis des Drogenscreenings der Klägerin abwartete, handele sie willkürlich. Der Betriebsrat habe über das Drogenscreening informiert werden müssen.

Die Klägerin hat beantragt,

festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung der Beklagten vom 17. November 2006 nicht aufgelöst worden ist.

Die Beklagte hat zur Begründung ihres Klageabweisungsantrags behauptet, die Kündigung sei als Verdachtskündigung ausgesprochen worden. Bewiesen seien die Unregelmäßigkeiten bei der BTM-Entnahme und der Dokumentation. Aufgrund der festgestellten Umstände bestehe darüber hinaus der schwerwiegende Verdacht gegen die Klägerin, Dolantin entwendet zu haben. Die Klägerin sei ordnungsgemäß zu dem Verdacht angehört worden. Ihr sei Gelegenheit gegeben worden, ein Mitglied des Betriebsrats hinzuziehen. In dem Gespräch vom 14. November 2006 hätten die vollständigen Patientenakten und Kopien der Eintragungen im BTM-Buch vorgelegen. Die Klägerin habe in diese geschaut und verlangt, sie mit nach Hause nehmen zu dürfen.

Wegen des weiteren erstinstanzlichen Sach- und Streitstands wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils (Bl. 143 – 146 d.A.) und auf die mit diesem in Bezug genommenen Aktenteile verwiesen (§ 69 Abs. 2 ArbGG). Das Arbeitsgericht hat nach dem Klageantrag erkannt. Die Kündigung sei unwirksam, weil die Klägerin zu dem gegen sie erhobenen Verdacht nicht ordnungsgemäß angehört worden sei. Für das Gespräch vom 10. November 2006 habe die Beklagte nicht dargelegt, dass für die Klägerin erkennbar war, dass es sich um eine Anhörung in Zusammenhang mit der Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses handeln sollte und da ihr keine Patientenunterlagen vorgelegt worden seien. Auch am 14. November 2006 habe sie nicht ausreichend Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten, da die Beklagte ihren Wunsch nach Akteneinsicht zu Unrecht abgelehnt habe. Damit habe sich die Beklagte nicht ausreichend um die Aufklärung des Sachverhalts bemüht. Wegen der vollständigen Begründung wird auf die Entscheidungsgründe (Bl. 146 – 152 d.A.) Bezug genommen.

Die Beklagte hat gegen das am 23. März 2007 zugestellte Urteil am 26. März 2007 Berufung eingelegt und diese am 22. Mai 2007 begründet. Sie behauptet, die Klägerin sei im Juni 2006 letztmalig wegen nicht ordnungsgemäßer Medikamentenentnahme und -dokumentation abgemahnt worden. Zu dem Gespräch vom 10. November 2006 sei die Klägerin unter Angabe von dessen Gegenstand, nämlich von Unklarheiten bei der Vergabe von Dolantin, eigenmächtiger Verabreichung von Atosil, Führung von Patientenunterlagen und BTM-Buch geladen worden. Ihr habe dabei klar sein müssen, dass es ein ernstes Gespräch war. Zu Beginn des Gesprächs sei sie darauf hingewiesen worden, dass das Gespräch Auswirkungen auf ihr Arbeitsverhältnis haben könne. Nach dem Vorhalt des Verdachts der Entwendung von Dolantin sei die Klägerin abwechselnd rot und blass im Gesicht geworden. Sie habe in der auf dem Tisch liegenden Patientenakte geblättert. Nachdem ihr Wunsch, diese mit nach Hause nehmen zu dürfen, abgelehnt worden war, habe sie wieder einzelne Einträge der Akte gelesen. Vor dem Gespräch vom 14. November 2006 sei ihr erklärt worden, aufgrund weiterer Verdachtsmomente müsse über den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses gesprochen werden. In dem Gespräch seien ihr die Ermittlungsergebnisse referiert und der sich daraus ergebende Verdacht vorgehalten worden. Sämtliche Dienstpläne, Geburtenlisten, Patientenakten und Auszüge aus dem BTM-Buch hätten auf dem Besprechungstisch gelegen. Die Klägerin habe die Akten teilweise durchgeblättert. Ihr sei angeboten worden, diese vor Ort einzusehen. Damit habe sie unfassend Gelegenheit zur Akteneinsicht gehabt. Sie habe jedoch darauf bestanden, die Akten mit nach Hause zu nehmen.

Wegen des weiteren zweitinstanzlichen Vortrags der Beklagten wird auf die Schriftsätze vom 23. Mai 2007 und vom 12. Juni 2008 sowie auf die Sitzungsniederschrift vom 17. Juni 2008 Bezug genommen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Offenbach am Main vom 20. Februar 2007 – 6 Ca 562/06 – abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin behauptet zur Begründung ihres Zurückweisungsantrages, sie habe die Akten nicht mit nach Hause nehmen wollen. Sie habe keine Möglichkeit zur Akteneinsicht erhalten. Ihr sei sogar untersagt worden, die Aktenstücke auch nur anzufassen. Eine Abmahnung sei ihr gegenüber nicht ausgesprochen worden. Den Bruch der beiden Dolantinampullen am 12. Oktober 2006 habe sie aus der Angst, erwischt zu werden, nicht dokumentiert.

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Wegen des weiteren zweitinstanzlichen Vortrags der Klägerin wird auf die Schriftsätze vom 03. Juli 2007 und auf die Sitzungsniederschrift vom 17. Juni 2008 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist nicht begründet.

Das Arbeitsverhältnis der Parteien wurde durch die Kündigung vom 17. November 2006 nicht aufgelöst, da diese nicht wirksam ist. Es fehlt ein sie rechtfertigender wichtiger Grund im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB. Die hilfsweise ordentliche Kündigung ist auch nicht sozial gerechtfertigt gemäß § 1 KSchG.

1.

Eine verhaltensbedingte Kündigung ist gerechtfertigt, wenn der Arbeitnehmer mit dem ihm vorgeworfenen Verhalten eine Vertragspflicht verletzt, das Arbeitsverhältnis dadurch konkret beeinträchtigt wird, eine zumutbare Möglichkeit einer anderweitigen Beschäftigung nicht besteht und die Lösung des Arbeitsverhältnisses in Abwägung der Interessen beider Vertragsteile billigenswert und angemessen erscheint. Da eine verhaltensbedingte Kündigung nicht eine Sanktion für eine begangene Vertragspflichtverletzung ist, sondern zukünftige Störungen des Arbeitsverhältnisses verhindern soll, muss sich die begangene Vertragspflichtverletzung auch zukünftig noch belastend auswirken. Eine danach erforderliche negative Prognose liegt vor, wenn aus der konkreten Pflichtverletzung und der daraus resultierenden Vertragsstörung geschlossen werden kann, dass sich der Arbeitnehmer auch nach Androhung einer Kündigung erneut in gleicher oder ähnlicher Weise verhalten wird. Deshalb setzt eine verhaltensbedingte Kündigung regelmäßig eine Abmahnung voraus (BAG 12. Januar 2006 – 2 AZR 21/05 – AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündung Nr. 53, zu B II 1, 2 a; 31. Mai 2007 – 2 AZR 200/06 – AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 57, zu B II 1). Pflichtverletzungen, die der Arbeitgeber zum Gegenstand einer Er- oder Abmahnung gemacht hat, können alleine nicht zur Begründung einer späteren Kündigung herangezogen werden (BAG 31. Juli 1986 – 2 AZR 559/85 – RzK I 8 c Nr. 10, zu II 2 a; 13. Dezember 2007 – 6 AZR 145/07 – AP KSchG § 1 Nr. 83, zu II 2 b bb). Die Darlegungslast für das Vorliegen eines verhaltensbedingten Kündigungsgrundes trägt der Arbeitgeber. Will sich der Arbeitnehmer allerdings gegenüber dem Kündigungsvorwurf auf entlastende Umstände berufen, hat er diese substantiiert darzulegen. Ist dies geschehen, obliegt es dem Arbeitgeber, gleichermaßen substantiiert darzulegen, aus welchen Gründen die Darstellung des Arbeitnehmers unzutreffend ist, und dafür Beweis anzutreten (BAG 24. November 1983 – 2 AZR 327/83 – AP BGB § 626 Nr. 76, zu B III 1; 26. August 1993 – 2 AZR 154/93 – AP BGB § 626 Nr. 112, zu B I 1 c).

Eine außerordentliche oder eine ordentliche Kündigung kann auch auf den schwerwiegenden Verdacht einer Straftat oder einer sonstigen schweren Verfehlung des Arbeitnehmers gestützt werden. Erforderlich ist dazu, dass starke Verdachtsmomente auf objektiven Tatsachen beruhen, dass die Verdachtsmomente geeignet sind, das für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses notwendige Vertrauen in die Redlichkeit des Arbeitnehmers zu zerstören, und dass der Arbeitgeber alle zumutbaren Anstrengungen zur Aufklärung des Sachverhalts unternommen und insbesondere dem Arbeitnehmer Gelegenheit zur Stellungnahme zu dem Vorwurf gegeben hat (BAG 06. Dezember 2001 – 2 AZR 496/00 – AP BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 36, zu B I 1; 10. Februar 2005 – 2 AZR 189/04 – AP KSchG § 1 Nr. 79, zu B I 4 a). Bleiben nach der Anhörung des Arbeitnehmers Zweifel, gehört zu den gebotenen Aufklärungsmaßnahmen auch die Befragung der Personen, die an dem zum Anlass der Kündigung genommenen Vorgang beteiligt waren oder Kenntnisse über diesen haben (vgl. LAG Nürnberg 10. Januar 2006 – 6 Sa 258/05 – FA 2006/282 L, zu II 4, 5). Geprüft werden muss insbesondere, ob nicht andere Personen als Täter in Betracht kommen (LAG Schleswig-Holstein 25. Februar 2004 – 3 Sa 491/03 – NZA-RR 2005/132, zu II 2; APS-Dörner § 626 BGB Rn. 357). Nicht in Betracht kommt eine Verdachtskündigung, wenn eine Tatkündigung aus den den Inhalt des Verdachts bildenden Umständen am Abmahnungserfordernis scheitern würde (vgl. BAG 21. Februar 2002 – 2 AZN 909/01 – AP ArbGG 1979 § 72 a Nr. 43).

2.

Nach diesem Maßstab ist die Kündigung weder als Tat- noch als Verdachtskündigung gerechtfertigt.

a) Die von der Beklagten behaupteten Unregelmäßigkeiten bei der BTM-Entnahme und –verabreichung aus der Zeit bis März 2006 kommen für sich als Kündigungsgrund nicht in Betracht, da sie Gegenstand der drei Kritikgespräche in der Zeit von April bis Juni 2006 waren. In diesem Zusammenhang ist unerheblich, ob die Klägerin in diesen Gesprächen tatsächlich abgemahnt oder nur ermahnt wurde. Die Verzichtswirkung einer Ermahnung unterscheidet sich nicht von der einer Abmahnung (BAG 31. Juli 1986 a. a. O., zu II 2 a).

b) Dass die Klägerin in den von der Beklagten dargelegten Fällen aus der Zeit von Januar bis März 2006 nicht nur die Patientenunterlagen korrekt geführt hat, sondern die dort angegebenen Mengen Dolantin entwendet oder selbst konsumiert hat, lässt sich nicht feststellen. Insoweit besteht mangels konkreter Indizien auch kein hinreichend sicherer Tatverdacht. Feststellbar sind nur Differenzen zwischen den Eintragungen im BTM-Buch und in den Patientenakten, nicht aber deren Ursachen. Ursachen der Differenzen kann es jedoch viele gegeben haben. Insbesondere ist nicht ausgeschlossen, dass die Klägerin in den fraglichen Fällen nur die Eintragung der Verabreichung der Medikamente versäumte. Dies wäre als Kündigungsgrund jedenfalls wegen der nachfolgenden einschlägigen Er- oder Abmahnungen verbraucht. Mit den vorliegenden Indizien kann kein schwerwiegender Unterschlagungsverdacht gegen die Klägerin begründet werden, sondern allenfalls eine entsprechende spekulative Vermutung. Eine solche begründet keine starken Verdachtsmomente gegen die Klägerin.

c) Dass es nicht erwiesen ist, dass die Klägerin am 12. Oktober 2006 der Patientin A Atosil anstelle der verordneten 100 mg Dolantin verabreicht hat und das Dolantin entwendet hat, räumt auch die Beklagte ein. In diesem Zusammenhang braucht nicht entschieden zu werden, ob die ohne Einwilligung der Patientin durchgeführte Urinanalyse und die sich aus dieser ergebende Erkenntnis, dass die Patientin Atosil und nicht Dolantin erhalten hat, überhaupt verwertet werden kann. Auch wenn dies unterstellt wird, ist nicht bewiesen, dass die Klägerin der Patientin das Atosil gab und dass sie das Dolantin unterschlagen hat. Es bleibt lediglich ein allerdings nicht ganz fern liegender Verdacht, dass dies so gewesen sein könnte. Widerlegt wird der Entlastungsvortrag der Klägerin, dass das Atosil bereits vor ihrer Behandlung gegeben worden sein musste und dass die Dolantinampullen versehentlich zu Bruch gegangen sind, dadurch jedoch nicht.

Auch eine Verdachtskündigung kann auf diesen Vorfall nicht gestützt werden. Einzuräumen ist der Beklagten allerdings, dass dessen Umstände auffällig und geeignet sind, den von der Beklagten geltend gemachten Verdacht gegen die Klägerin auszulösen. Bemerkenswert ist insbesondere, dass die Klägerin sich nach ihrer Darstellung zunächst an den Vorfall überhaupt nicht erinnern konnte und ihre entlastende Schilderung erst mit Schriftsatz vom 02. Februar 2007 kurz vor dem erstinstanzlichen Kammertermin vortragen ließ.

Eine Verdachtskündigung scheitert jedoch jedenfalls daran, dass die Beklagte nicht alle ihr zumutbaren Aufklärungsmaßnahmen ergriffen und damit den Verdacht nicht hinreichend validiert hat. Sie hat im Berufungstermin eingeräumt, dass sie wegen dieses Vorfalls allein die Leitende Pflegekraft befragt hat. Dies genügte zur Erfüllung der besonderen Aufklärungsobliegenheiten des Arbeitgebers vor dem Ausspruch einer Verdachtskündigung nicht. Bei Verdachtskündigungen besteht in besonderem Maß die Gefahr, dass der Arbeitnehmer zu Unrecht beschuldigt wird. Daher obliegt es dem Arbeitgeber, vor der Kündigung die ihm auf zumutbare Weise zur Verfügung stehenden Erkenntnismöglichkeiten über den wahren Tathergang auszuschöpfen (BAG 28. November 2007 – 5 AZR 952/06 – NZA-RR 2008/344, zu II 1 b bb). Zu dem Vorfall vom 12. Oktober 2006 hätte die Beklagte die weiteren Frau A behandelnden Pflegekräfte und die Patientin selbst befragen müssen. Dies hätte die Möglichkeit eröffnet, umfassende Informationen über den Ablauf der Behandlung zu erlangen. Durch die Befragung der Kolleginnen und der Patientin hätte geprüft werden können, ob das Atosil tatsächlich von der Klägerin und nicht von einer anderen Kollegin verabreicht wurde. Gegebenenfalls hätte ein negatives Ergebnis den Verdacht gegen die Klägerin erhärtet. Zudem hätte die Chance bestanden, Informationen über den Verbleib der Dolantinampullen zu erlangen.

Der Umstand, dass die Klägerin nach der Darstellung der Beklagten vorgerichtlich nicht bereit war, an der Sachverhaltsaufklärung mitzuwirken, ändert an der Notwendigkeit der Befragung der weiteren an der Behandlung von Frau A beteiligten und der Patientin selber nichts. Eine solche Haltung eines Arbeitnehmers entbindet den Arbeitgeber zwar von der Obliegenheit, den Arbeitnehmer weiter anzuhören (BAG 13. September 1995 – 2 AZR 587/94 – AP BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 25, zu II 4 a; 28. November 2007 a. a. O., zu II 1 b cc), nicht aber von der, andere zur Verfügung stehende Erkenntnisquellen auszuschöpfen.

d) Es verbleiben damit als Pflichtverletzungen der Klägerin die Nichtdurchführung einer ärztlichen Weisung zur Dolantinverabreichung an die Patientin A, die unzutreffende Eintragung der Verabreichung von 100 mg Dolantin in der Patientenakte und die Nichtangabe des von der Klägerin behaupteten Bruchs der beiden Dolantinampullen. Auch hier ist der Entlastungsvortag der Klägerin, die Verabreichung des Dolantin sei nicht mehr notwendig gewesen, weil die Patientin bereits eingeschlafen gewesen sei, nicht widerlegt. Eine Gefährdung oder gar eine Schädigung der Gesundheit der Patientin durch das Verhalten der Klägerin ist daher nicht feststellbar. Die verbleibenden Unkorrektheiten sind nicht gewichtig genug, um die Beendigung des mehr als 17 Jahre bestehenden Arbeitsverhältnisses zu rechtfertigen. Dies gilt selbst wenn unterstellt wird, dass die Klägerin im Rahmen der drei Gespräche im zweiten Quartal 2006 einschlägig abgemahnt worden sein sollte. Weitere Unkorrektheiten vergleichbarer Art hat die Beklagte für die Zeit nach diesen Gesprächen nicht behauptet. Wiederholte sich eine unkorrekte Aktenführung daher lediglich in einem einzigen nicht besonders gewichtigen Fall, spricht dies eher für einen Erfolg der Kritikgespräche. Eine die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar machende Belastung des Arbeitsverhältnisses ergibt sich aus einem derartigen Einzelfall jedenfalls nicht.

3.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

Ein Grund zu Zulassung der Revision im Sinne von § 72 Abs. 2 ArbGG besteht nicht.

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