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Verfassungsmäßigkeit CoronaVO Baden-Württemberg – gemeinsamer Aufenthalt – Mindestabstand

OLG Karlsruhe – Az.: 2 Rb 34 Ss 2/21 – Beschluss vom 30.03.2021

1. Die Staatsanwaltschaft wird ersucht, der Einstellung des Verfahrens gemäß § 47 Abs. 2 Satz 1 OWiG zuzustimmen.

2. Der Betroffene und die Verwaltungsbehörde erhalten Gelegenheit zur Stellungnahme innerhalb von zehn Tagen.

Gründe

I.

Das Amtsgericht Heidelberg verurteilte den Betroffenen mit Urteil vom 14.09.2020 wegen eines fahrlässigen Verstoßes gegen das Verbot des Aufenthalts im öffentlichen Raum zu der Geldbuße von 100 € und wegen vorsätzlichen Verstoßes gegen das Verbot des Aufenthalts im öffentlichen Raum zu der Geldbuße von 500 €.

Nach den im Urteil getroffenen Feststellungen stand der Betroffene am 05.04.2020 zunächst um 16:20 Uhr mit zwei und dann um 18:00 Uhr mit drei anderen jeweils nicht zu seinem Hausstand gehörenden Personen an zwei verschiedenen Örtlichkeiten im öffentlichen Raum zusammen, mit denen er sich unterhielt, wobei die Kommunikation über das Mindestmaß der gebotenen Höflichkeit im Sinn eines „Hallo, wie geht’s“ hinausging. Der Abstand zwischen den Personen betrug bei dem ersten Vorkommnis etwa einen Meter, bei dem späteren Vorkommnis etwa anderthalb Meter.

Die Verurteilung ist auf §§ 3 Abs. 1 Satz 1, 9 Nr. 1 der Verordnung der Landesregierung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-Cov-2 (Corona-Verordnung – CoronaVO) vom 17.03.2020 in der vom 29.03.2020 bis 09.04.2020 geltenden Fassung gestützt.

§ 3 Abs. 1 der Verordnung lautete in der zum Zeitpunkt der Tat maßgeblichen Fassung wie folgt:

Der Aufenthalt im öffentlichen Raum ist nur alleine, mit einer weiteren nicht im Haushalt lebenden Person oder im Kreis der Angehörigen des eigenen Haushalts gestattet.

Zu anderen Personen ist im öffentlichen Raum, wo immer möglich, ein Mindestabstand von 1,5 Metern einzuhalten.

§ 9 Nr. 1 der Verordnung in der zum Zeitpunkt der Tat maßgeblichen Fassung lautete wie folgt:

Ordnungswidrig im Sinne des § 73 Absatz 1a Nummer 24 des Infektionsschutzgesetzes handelt, wer vorsätzlich oder fahrlässig entgegen § 3 Abs. 1 sich im öffentlichen Raum aufhält.

Zur Auslegung dieser Bestimmungen ist im angefochtenen Urteil ausgeführt: „Der Begriff „Aufenthalt“ im öffentlichen Raum ist zu definieren im Hinblick auf den Zweck des Infektionsschutzgesetzes, nämlich die weitere Ausbreitung ansteckender Krankheiten zu verhindern oder zumindest einzudämmen. Hierauf beruhend schränkt die Corona-Verordnung die Anzahl, Dauer und Intensität des Kontakts von nicht aus dem eigenen Haushalt, also dem unmittelbaren Lebensumfeld einer jeden Person stammender Kontakte ein. Vor diesem Hintergrund ist für einen gemeinsamen „Aufenthalt“ mehrerer Personen im öffentlichen Raum i.S.d. § 3 Abs. 1 Satz 1 erforderlich aber auch ausreichend, dass Personen zusammentreffen und dabei bewusst und mehr als nur flüchtig, d.h. in einem dem Mindestmaß an Höflichkeit geschuldeten Umfang, in Kommunikation treten. Maßgeblich für die Beurteilung ist die Wahrnehmung eines objektivierten Dritten. In diesem Fall kommt es auf die Einhaltung oder Überschreitung des Mindestabstands von 1,5 Metern, der gemäß § 3 Abs. 1 Satz 2 Corona-Verordnung für andere als die in Absatz 1 Satz 1 genannten Personen gilt, nicht mehr an.“

Mit der Rechtsbeschwerde bzw. dem Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde macht der Betroffene die Verletzung formellen und materiellen Rechts geltend. Insbesondere beanstandet er, dass das Amtsgericht seiner rechtlichen Beurteilung nicht gemäß § 4 Abs. 3 OWiG die im Urteilszeitpunkt geltende (für den Betroffenen günstigere) Fassung der Corona-Verordnung zugrunde gelegt hat, sowie die Auslegung von § 3 Abs. 1 Satz 1 Corona-VO in der zum Tatzeitpunkt geltenden Fassung.

Die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe hat am 04.02.2021 beantragt, hinsichtlich der Verurteilung zu der Geldbuße von 100 € die Rechtsbeschwerde zuzulassen, diese aber insgesamt als unbegründet zu verwerfen. Der Betroffene hat hierauf mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 25.03.2021 erwidert.

Der originär zuständige Einzelrichter hat mit Beschluss vom 30.03.2021 die Rechtsbeschwerde zur Fortbildung des materiellen Rechts zugelassen und die Sache auf den Senat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen (§§ 80 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1, 80a Abs. 3 Satz 1 OWiG).

II.

Verfassungsmäßigkeit CoronaVO Baden-Württemberg - gemeinsamer Aufenthalt - Mindestabstand
(Symbolfoto: Von franconiaphoto/Shutterstock.com)

Auf die form – und fristgerecht eingelegte und begründete Rechtsbeschwerde wird das angefochtene Urteil nach vorläufiger Beurteilung durch den Senat aufzuheben sein.

1. Dafür ist von wesentlicher Bedeutung, dass der Senat die vom Amtsgericht vorgenommene Auslegung von § 3 Abs. 1 Satz 1 Corona-VO nicht teilt. Vielmehr liegt nach dem Verständnis des Senats ein Aufenthalt mit einer anderen (nicht zum eigenen Hausstand gehörenden) Person im Sinn dieser Bestimmung nur vor, wenn der in § 3 Abs. 1 Satz 2 Corona-VO genannte Mindestabstand von 1,5 Metern nicht eingehalten wird.

a) Entgegen der vom Beschwerdeführer vertretenen Auffassung ist der rechtlichen Beurteilung die zur Tatzeit geltende Fassung der Corona-Verordnung zugrunde zu legen.

Soweit § 4 Abs. 3 OWiG vorschreibt, dass bei Änderungen des Gesetzes nach der Tatbegehung das mildeste Gesetz anzuwenden ist, erfährt dies durch § 4 Abs. 4 Satz 1 OWiG eine Einschränkung für sog. Zeitgesetze. Gesetzliche Regelungen, die nur für eine bestimmte Zeit gelten sollen – nach § 11 Abs. 1 Satz 1 der Corona-VO vom 17.03.2020 sollte die Verordnung am 15.06.2020 außer Kraft treten -, bleiben danach auf während ihrer Geltungsdauer begangene Handlungen anwendbar. Allerdings verbleibt es auch bei Zeitgesetzen bei der Anwendung von § 4 Abs. 3 OWiG, wenn die Aufhebung oder Milderung einer Sanktionierung nur auf einer Bewertungsänderung im Sinn einer verbesserten Rechtserkenntnis beruht (KK-Rogall, OWiG, 5. Aufl., § 4 Rn. 36; Gürtler in Göhler, OWiG, 18. Aufl., § 4 Rn. 10a).

Soweit §§ 2 und 9 der – ebenfalls zeitlich befristet geltenden – Corona-VO vom 23.06.2020 in der vom 06.08.2020 bis 20.09.2020 geltenden Fassung gegenüber der zur Tatzeit geltenden Fassung die Zusammenkunft mit einer größeren Anzahl von Menschen auch unter Unterschreitung eines Abstandes von 1,5 Metern erlaubte, ist dies zweifelsfrei auf veränderte tatsächliche Verhältnisse, nämlich die günstige Entwicklung des Infektionsgeschehens im Sommer 2020 zurückzuführen, die eine Lockerung der Beschränkungen erlaubte. Im Übrigen stellte § 3 Abs. 1 Satz 1 der Corona-VO vom 17.03.2020 in der zur Tatzeit geltenden Fassung in der vom Senat vorgenommenen Auslegung keine höheren Anforderungen an Zusammenkünfte mit anderen Menschen als die späteren Fassungen der Verordnung (näher dazu unten d).

b) Nach Auffassung des Senats enthält das Infektionsschutzgesetz mit den in §§ 28, 32, 73 Abs. 1a Nr. 24 getroffenen Regelungen eine ausreichende Ermächtigung für die in § 3 Abs. 1 CoronaVO angeordnete Beschränkung und deren Bußgeldbewehrung in § 9 Nr. 1 CoronaVO.

Die Normen des Infektionsschutzgesetzes, mit denen die Regelungskompetenz auf die Landesregierungen delegiert wird, genügen im Hinblick auf die in Frage stehende Regelung in der Corona-Verordnung sowohl hinsichtlich der Vorgaben für die Ausgestaltung der Maßnahmen zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten (insoweit a.A. AG Ludwigsburg, Urteil vom 29.01.2021 – 7 OWi 170 Js 112950/20, juris) als auch für die Bußgeldbewehrung (insoweit a.A. ThürVerfGH, Urteil vom 01.03.2021 – 18/20, juris) den verfassungsrechtlichen Anforderungen.

aa) Der aus dem Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Parlamentsvorbehalt verlangt, dass der Gesetzgeber in grundlegenden normativen Bereichen alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen hat und sie nicht dem Handeln und der Entscheidungsmacht der Exekutive überlassen darf. Dabei betrifft die Normierungspflicht nicht nur die Frage, ob ein bestimmter Gegenstand überhaupt gesetzlich geregelt sein muss, sondern auch, wie weit diese Regelungen im Einzelnen zu gehen haben (sog. Wesentlichkeitsdoktrin). Inwieweit es einer Regelung durch den parlamentarischen Gesetzgeber bedarf, hängt dabei vom jeweiligen Sachbereich und der Eigenart des betroffenen Regelungsgegenstands ab (BVerfGE 83, 130, bei juris Rn. 39; 108, 282, bei juris Rn. 67 f., jew. m.w.N.; OLG Hamm, Beschlüsse vom 28.01.2021 – 4 RBs 446/20 und 4 RBs 3/21, juris).

Art. 103 Abs. 2 GG, der auch für Bußgeldtatbestände gilt (BVerfGE 81, 132 m.w.N.), bestimmt zudem, dass eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Nach der Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht enthält diese Regelung nicht nur ein Rückwirkungsverbot für Strafvorschriften. Sie verpflichtet den Gesetzgeber vielmehr auch, die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, dass Anwendungsbereich und Tragweite der Straftatbestände sich aus dem Wortlaut ergeben oder jedenfalls durch Auslegung ermitteln lassen. Diese Verpflichtung dient einem doppelten Zweck. Sie soll einerseits sicherstellen, dass die Normadressaten vorhersehen können, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist. Sie soll andererseits gewährleisten, dass die Entscheidung über strafwürdiges Verhalten im Voraus vom Gesetzgeber und nicht erst nachträglich von der vollziehenden oder der rechtsprechenden Gewalt gefällt wird. Insoweit enthält Art. 103 Abs. 2 GG einen strengen Gesetzesvorbehalt, der die Strafgerichte auf die Rechtsanwendung beschränkt. Auch das Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht kann allerdings nicht völlig darauf verzichten, allgemeine Begriffe zu verwenden, die nicht eindeutig allgemein umschrieben werden können und die in besonderem Maße der Auslegung durch den Richter bedürfen. Sonst würden die Gesetze zu starr und kasuistisch und könnten dem Wandel der Verhältnisse oder der Besonderheit des Einzelfalls nicht mehr gerecht werden. Ohne die Verwendung auslegungsfähiger „flüssiger Begriffe“ wäre der Gesetzgeber nicht in der Lage, der Vielgestaltigkeit des Lebens Herr zu werden. Ferner ist es wegen der Allgemeinheit und Abstraktheit von Strafnormen unvermeidlich, dass es in Einzelfällen zweifelhaft sein kann, ob ein Verhalten noch unter den gesetzlichen Tatbestand fällt oder nicht. Gegen die Verwendung von Generalklauseln oder unbestimmten, wertausfüllenden Begriffen im Strafrecht und im Ordnungswidrigkeitenrecht bestehen danach jedenfalls dann keine Bedenken, wenn sich mit Hilfe der üblichen Auslegungsmethoden, begrenzt durch den möglichen Wortsinn des Gesetzes, unter Heranziehung anderer Vorschriften desselben Gesetzes, durch Berücksichtigung des Normzusammenhangs und des Normzwecks oder aufgrund einer gefestigten Rechtsprechung eine zuverlässige Grundlage für die Auslegung und Anwendung der Norm gewinnen lässt. Der Normadressat muss aber anhand der gesetzlichen Vorschrift voraussehen können, ob ein Verhalten strafbar ist oder in Grenzfällen wenigstens das Risiko einer Bestrafung erkennbar ist (zum Ganzen BVerfGE 41, 314, bei juris Rn. 20 f.; 45, 363, bei juris Rn. 36 f.; 92, 1, bei juris Rn. 44 f.; 96, 68, bei juris Rn. 84; 143, 38, bei juris Rn. 34 – 37; jew. m.w.N).

Die Anforderungen an die vom Gesetzgeber selbst zu treffende Regelung sind dabei von der Schwere der Strafdrohung abhängig (BVerfGE 41, 314, bei juris Rn. 21 m.w.N.). Es ist deshalb im Blick zu behalten, dass mit einer Ordnungswidrigkeit anders als bei einer Kriminalstrafe kein ethischer Schuldvorwurf verbunden ist, sondern mit der an eine Ordnungswidrigkeit geknüpften Sanktion lediglich eine nachdrückliche Pflichtenmahnung bezweckt ist, der der Ernst der staatlichen Strafe fehlt (BVerfGE 45, 272, bei juris Rn. 35).

Auch muss der Gesetzgeber den Tatbestand nicht stets vollständig im förmlichen Gesetz umschreiben, sondern er darf auf andere Vorschriften verweisen. Verfassungsrechtlich unbedenklich ist ein solches Blankettstrafgesetz, soweit es hinreichend klar erkennen lässt, worauf sich die Verweisung bezieht; hierzu gehört, dass die Blankettstrafnorm die Regelungen, die zu ihrer Ausfüllung in Betracht kommen und die dann durch sie bewehrt werden, sowie deren möglichen Inhalt und Gegenstand genügend deutlich bezeichnet und abgrenzt (BVerfGE 143, 38, bei juris Rn. 44; 153, 310, bei juris Rn. 80).

bb) Diesen Anforderungen werden die in Rede stehenden Regelungen im Infektionsschutzgesetz gerecht.

(1) Die Reichweite möglicher Maßnahmen zur Verhinderung der Ausbreitung von Infektionskrankheiten ist vom Gesetzgeber in §§ 28 bis 31 IfSG festgelegt, die mit der Bezugnahme hierauf in § 32 Satz 1 IfSG zugleich den Rahmen für das Handeln des Verordnungsgebers absteckt.

Die Weite der Regelung in § 28 IfSG ist dabei der Vielgestaltigkeit möglicher Infektionsgeschehen und der dazu erforderlichen Bekämpfungsmaßnahmen geschuldet, die nicht im Voraus bestimmt werden können. Dass der Gesetzgeber bei der – auch § 28 IfSG betreffenden – Überarbeitung des Infektionsschutzgesetzes durch das Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite (CoVIfSGAnpG) vom 27.03.2020 davon abgesehen hat, selbst eine nähere Bestimmung der erforderlichen Bekämpfungsmaßnahmen zu treffen, sondern auf eine Konkretisierung verzichtet hat, um der Exekutive eine schnelle und flexible Reaktion auf das Infektionsgeschehen zu ermöglichen, ist angesichts der damals noch neuen epidemiologischen Lage und der eingeschränkten wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht zu beanstanden (ebenso ThürVerfGH a.a.O; OLG Hamm a.a.O.; OLG Koblenz, Beschluss vom 08.03.2021 – 3 OWi 6 SsRs 395/20, juris).

Gerade die durch die Corona-Pandemie veranlasste (BT-Drs. 19/1811 S. 1) Überarbeitung des Infektionsschutzgesetzes durch das Gesetz vom 27.03.2020, die auch § 28 IfSG betraf (Art. 1 Nr. 6 CoVIfSGAnpG) und mit der auch die Regelung in § 5 IfSG zur Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite und den sich daraus ergebenden Folgerungen eingeführt wurde, belegt dabei entgegen der im Urteil des Amtsgerichts Ludwigsburg vom 29.01.2021 (a.a.O.) vertretenen Auffassung, dass nach dem Willen des Gesetzgebers §§ 28, 32 IfSG eine Ermächtigung nicht nur zu „kleinräumigen und kleingliedrigen““ Regelungen, sondern auch für umfassende Regelungen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie erteilte (ebenso ThürVerfGH a.a.O.).

Nicht nur mit der Regelung in § 30 IfSG, die die Absonderung Krankheitsverdächtiger gestattet, hat der Gesetzgeber selbst klar zum Ausdruck gebracht, dass er die Schaffung räumlicher Distanz als eine zentrale Maßnahme der Bekämpfung zur weiteren Ausbreitung infektiöser Krankheiten angesehen hat. Vielmehr ist bereits im Infektionsschutzgesetz selbst, nämlich in § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 und Satz 2 IfSG geregelt, dass die zuständige Behörde unter den Voraussetzungen von Satz 1 insbesondere Personen verpflichten kann, von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten (Satz 1 Halbsatz 2), sowie dass die zuständige Behörde Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen von Menschen beschränken oder verbieten kann (Satz 2). Hieran knüpft der Verordnungsgeber mit der Regelung in § 3 Abs. 1 Satz 1 und 2 CoronaVO an (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 13. Mai 2020 – 1 S 1314/20, juris; vgl. auch OLG Koblenz a.a.O. – zur inhaltlich gleichlautenden Bestimmung des § 4 der 3. CoBeVo RhPf).

(2) Mit der Regelung in § 73 Abs. 1a Nr. 24 IfSG hat der Gesetzgeber zudem klargestellt, dass es dem Verordnungsgeber zugleich ermöglicht werden soll, in dem durch §§ 28 bis 31 IfSG abgesteckten Rahmen auch die Ahndung von Verstößen als Ordnungswidrigkeit anzuordnen. Dies umfasst im Hinblick auf die in § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 und Satz 2 IfSG getroffenen Regelungen jedenfalls die Sanktionierung von durch den Verordnungsgeber zur Infektionsbekämpfung angeordneten Aufenthaltsbeschränkungen. Schon im Hinblick darauf, dass das Maß der erforderlichen Beschränkung von den nicht im Vorhinein bestimmbaren Besonderheiten auch zukünftig erst auftretender Infektionserkrankungen abhängt, und insoweit eine vorherige abstrakt-generelle Festlegung durch den Gesetzgeber nicht sinnvoll getroffen werden konnte, begründet das Fehlen entsprechender konkretisierender Vorgaben in der gesetzlichen Regelung keine Bedenken an der Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Regelung (a.A. ThürVerfGH a.a.O. – im Hinblick auf die behauptete Verfassungswidrigkeit der bundesgesetzlichen Regelung unter bedenklicher Überdehnung seiner sachlichen Zuständigkeit).

c) An der formellen Rechtmäßigkeit der auf §§ 28, 32 IfSG gestützten Verordnung vom 17.03.2020 in der zum Tatzeitpunkt geltenden Fassung einschließlich der von § 73 Abs. 1a Nr. 24 IfSG gedeckten Bußgeldvorschrift hat der Senat keine Bedenken (vgl. VGH Baden-Württemberg VBlBW 2020, 422).

d) Der Verordnungsgeber war durch § 28 IfSG auch ermächtigt, zur Verhinderung der Ausbreitung des SARS-Cov-2-Virus geeignete präventive Maßnahmen gegenüber nicht infizierten Personen (Nichtstörer im polizeirechtlichen Sinn) anzuordnen (VGH Baden-Württemberg a.a.O. und VBlBW 2020, 322). Insoweit sind die bereits im Frühjahr 2020 vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse von Bedeutung, wonach der Erreger vor allem im Weg der Tröpfcheninfektion, d.h. durch das Einatmen von Aerosolen, die von infizierten Personen ausgeatmet bzw. abgehustet werden, übertragen wird und Infizierte zudem entweder gar keine Krankheitssymptome entwickeln können bzw. diese erst mit zeitlichem Versatz nach der Infektion auftreten. Auch vor dem Hintergrund, dass zum damaligen Zeitpunkt noch keine gesicherten Erkenntnisse vorlagen, ob eine Tröpfcheninfektion auf andere Weise verhindert werden kann, war die Anordnung von Kontaktbeschränkungen zur Verhinderung der weiteren, nach dem wissenschaftlichen Kenntnisstand exponentiell verlaufenden Ausbreitung des Virus geeignet. In der vom Senat vorgenommenen Auslegung begegnen die in § 3 Abs. 1 Satz 1 und 2 CoronaVO i.V.m. § 9 Nr. 1 Corona-VO auch unter den Gesichtspunkten der Bestimmtheit, der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit keinen (verfassungsrechtlichen) Bedenken.

aa) Über die Verfassungsmäßigkeit der Verordnung hat der Senat selbst zu entscheiden. Eine Rechtsverordnung ist für den erkennenden Richter in einem Bußgeld- oder Strafverfahren auf ihre Rechtmäßigkeit überprüfbar. Eine Vorlage an das Verfassungsgericht gemäß Art. 100 Abs. 1 GG ist nicht möglich, da es sich nicht um ein formelles Gesetz handelt (vgl. BVerfGE 1, 184, 189; OLG Oldenburg, Beschlüsse vom 11. Dezember 2020 – 2 Ss (OWi) 286/20 -, juris und vom 09.07.2010 – 2 SsRs 220/09 – VRS 2010, Bd. 119, 152; Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze Werkstand 233. EL Oktober 2020, § 28 IfSG, Rn. 9).

bb) Der § 3 Abs. 1 Satz 1 Corona-VO vom 17.03.2020 in der zur Tatzeit geltenden Fassung zukommende Regelungsgehalt ist dabei durch Auslegung zu ermitteln.

(1) Bei der Auslegung einer Norm bildet der Wortlaut zugleich Ausgangspunkt und Grenze (BVerfGE 71, 108; 92, 1). Mit dem Begriff „Aufenthalt“ wird dabei nicht mehr als die zeitlich begrenzte Anwesenheit an einem Ort umschrieben (vgl. nur https://www.duden.de/rechtschreibung/Aufenthalt). Soweit § 3 Abs. 1 Satz 1 Corona-VO vom 17.03.2020 an den Aufenthalt mit anderen Personen anknüpft, ergibt sich daraus nicht ohne Weiteres, wie die Verbindung zwischen den beteiligten Personen sein muss, um diese Voraussetzung zu erfüllen. Denn dies erlaubt sowohl ein Verständnis, bei dem es auf eine räumliche Nähe und/oder aber eine innere Verbindung der Personen (vgl. VG Karlsruhe, Beschluss vom 14.04.2020 – 19 K 1816/20 = BeckRS 2020, 5775) ankommt. Insoweit gibt auch die Zusammenschau mit § 3 Abs. 1 Satz 2 Corona-VO, der zu anderen Personen einen Mindestabstand von 1,5 Metern vorschrieb, keinen Aufschluss, weil sich dem Text – anders als etwa bei der Regelung der Abstands- und Kontaktregelungen in §§ 2, 9 der Corona-VO vom 23.06.2020 – kein eindeutiger Bestimmungsgehalt im Sinn eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses entnehmen lässt.

(2) Dem Amtsgericht ist danach beizupflichten, dass dem Gesetzeszweck entscheidende Bedeutung für die Bestimmung des Regelungsgehalts zukommt. Allerdings führt dies zu einem von der Bewertung des Amtsgerichts abweichenden Auslegungsergebnis.

Nach den bei Erlass der Verordnung bestehenden noch eingeschränkten wissenschaftlichen Erkenntnissen kam dem Einhalten eines räumlichen Abstandes zwischen den Menschen entscheidende Bedeutung zu, um eine Übertragung des Virus im Weg der Tröpfcheninfektion zu verhindern, wobei ein Abstand von 1,5 Metern als ausreichend erachtet wurde (und wird). Diesem Zweck diente nicht nur die Abstandsregel des § 3 Abs. 1 Satz 2 Corona-VO, sondern letztlich auch die mit der Regelung des § 3 Abs. 1 Satz 1 Corona-VO angestrebte Kontaktbeschränkung. Dem wird ein Verständnis, wonach es für den Aufenthalt mit einer anderen nicht dem eigenen Haushalt zugehörigen Person allein auf eine innere Verbindung zwischen den Personen (im Sinn eines nicht nur zufälligen Zusammentreffens, VG Karlsruhe a.a.O.; OLG Hamm a.a.O.) ohne Berücksichtigung des räumlichen Abstands ankommt, nicht gerecht.

Zwar wäre nach dem Wortlaut und dem systematischen Verhältnis zu § 3 Abs. 1 Satz 2 Corona-VO auch ein Verständnis möglich, wonach der Verordnungsgeber das Zusammenkommen mehrerer Personen allein deshalb verhindern wollte, weil dabei die Gefahr besteht, dass hinreichende Mindestabstände – wenngleich auch häufig unbeabsichtigt – gerade nicht verlässlich eingehalten werden. Als Hinweis auf einen entsprechenden Willen des Verordnungsgebers kann gesehen werden, dass in der ab dem 04.05.2020 geltenden Fassung der Corona-Verordnung durch § 9 Nr. 1 CoronaVO nicht mehr wie zuvor der Verstoß sowohl gegen die Aufenthaltsbeschränkung nach § 3 Abs. 1 Satz 1 CoronaVO als auch gegen das Abstandsgebot nach § 3 Abs. 1 Satz 2 CoronaVO, sondern nurmehr der Verstoß gegen die Aufenthaltsbeschränkung nach § 3 Abs. 1 Satz 1 CoronaVO bußgeldbewehrt war.

Unabhängig davon, ob dies im Text der zum Tatzeitpunkt geltenden Verordnungsfassung hinreichend zum Ausdruck kommt, kann jedoch auch dann nicht auf eine räumliche Komponente verzichtet werden, da sonst auch Fallgestaltungen erfasst würden, bei denen keine Infektionsgefahr bestand, zum Beispiel, wenn sich zwei für sich genommen erlaubte Personengruppen auf der Straße begegneten und mit mehreren Metern Abstand zueinander (z.B. von einer Straßenseite zur anderen) unterhielten. Denn im Falle der verlässlichen Wahrung eines eine Übertragung der Krankheit ausschließenden Mindestabstands ist das Verbot einer Ansammlung nicht mehr zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich und damit nicht mehr von der gesetzlichen Ermächtigung gedeckt (OLG Hamm a.a.O.). Auch unter dem Gesichtspunkt der an eine Norm zu stellenden Bestimmtheitsanforderungen (dazu OLG Oldenburg NdsRpfl 2021, 66) ist es nach Auffassung des Senats geboten, zur Bestimmung des Maßes der räumlichen Komponente auf die in § 3 Abs. 1 Satz 2 Corona-VO getroffene Bestimmung zurückzugreifen, der die wissenschaftliche Erkenntnis zugrunde liegt, dass das Übertragungsrisiko bei Einhaltung eines Mindestabstandes von 1,5 Metern minimiert ist (ebenso AG Reutlingen COVuR 2020, 611; vgl. auch OLG Koblenz a.a.O.).

(3) Bestätigt wird dieses Auslegungsergebnis nicht zuletzt dadurch, dass der Verordnungsgeber in späteren Fassungen der Corona-Verordnung – so auch in der zum Urteilszeitpunkt geltenden Fassung – den gesetzestechnisch missglückten Regelungstext in diesem Sinn umgestaltet hat, ohne dass damit ersichtlich eine inhaltliche Änderung einhergehen sollte.

Diese Rechtsauffassung wird auch vom 1. Bußgeldsenat des Oberlandesgerichts Karlsruhe in einem nicht veröffentlichten Beschluss vom 04.02.2021 (1 Rb 21 Ss 833/20) – allerdings nicht tragend – geteilt.

2. Auf Grundlage dieser vom amtsgerichtlichen Urteil abweichenden Beurteilung der rechtlichen Grundlage kann das Urteil schon auf die Sachrüge keinen Bestand haben, so dass es auf die daneben erhobenen verfahrensrechtlichen Beanstandungen nicht mehr ankommt.

a) Bezüglich der Tat II. 2. des Urteils (angenommener vorsätzlicher Verstoß um 18:00 Uhr) ergibt sich schon aus den getroffenen Feststellungen nicht zweifelsfrei, dass es zu einer Unterschreitung des Mindestabstands von 1,5 Metern gekommen ist.

b) Hinsichtlich der weiteren Tat II. 1. (angenommener fahrlässiger Verstoß um 16:20 Uhr) soll der Abstand nach den getroffenen Feststellungen zwar bei nur etwa einem Meter gelegen haben. Doch bestehen erhebliche Bedenken, ob diese Feststellung von der dazu vorgenommenen Beweiswürdigung getragen wird. Mit der Feststellung hat das Amtsgericht die Entfernungsangabe des Zeugen Bender übernommen, der diese jedoch ausdrücklich als Schätzung bezeichnet hat. Dies lässt sich jedoch nicht ohne Weiteres mit den von ihm auf einem Lichtbild (AS. II 97) eingetragenen Standorten der beteiligten Personen in Einklang bringen, die dem Senat wegen der hierauf erfolgten Verweisung gemäß §§ 46 Abs. 1 OWiG, 267 Abs. 1 Satz 3 StPO zugänglich sind. Nach Auffassung des Senats hätte es deshalb näherer Feststellungen zu den räumlichen Verhältnissen am Tatort bedurft. Jedenfalls bei einer im Grenzbereich liegenden Unterschreitung des nach der Rechtsauffassung des Senats maßgeblichen Mindestabstandes kann dies zudem Einfluss auf die Beurteilung des Schuldgehalts haben und sich damit auf die Bemessung des Bußgeldes auswirken.

Da es zweifelhaft erscheint, dass in einer neuen Hauptverhandlung überhaupt noch Feststellungen getroffen werden können, die eine Unterschreitung des Mindestabstandes von 1,5 Metern als Voraussetzung für eine Verurteilung belegen, und auf der Grundlage des Akteninhalts jedenfalls eine klare Unterschreitung des Mindestabstandes jeweils nicht vorgelegen haben dürfte, erscheint eine Fortsetzung des Verfahrens nicht sachdienlich. Bei dieser Sachlage könnte das Verfahren mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft gemäß § 47 Abs. 2 Satz 1 OWiG (mit der Kostenfolge gemäß §§ 46 Abs. 1 OWiG, 467 Abs. 1 StPO) beendet werden.

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