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Verkehrsschild übersehen – Augenblicksversagen

OLG Hamm

Az: 3 Ss OWi 315/07

Beschluss vom 21.12.2007


Das angefochtene Urteil wird im Rechtsfolgenausspruch nebst den diesem zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht Bielefeld zurückverwiesen.

Im Übrigen wird die Rechtsbeschwerde als unbegründet verworfen.

Gründe

I.

Der Betroffene ist durch Urteil des Amtsgerichts Bielefeld vom 21.02.2007 wegen eines fahrlässigen Verstoßes gegen § 41 Abs. 2 StVO zu einer Geldbuße von 200,- € verurteilt worden. Außerdem wurde gegen ihn ein Fahrverbot von einem Monat verhängt und angeordnet, dass hierfür die 4-Monats-Frist gewährt wird.

Nach den Urteilsfeststellungen befuhr der Betroffene mit dem von ihm geführten PKW am 01.03.2006 die T-Straße in C. Im Bereich des Hauses Nr. 619 ist wegen einer dort befindlichen Grundschule eine 30-km/h-Zone eingerichtet und durch die Verkehrszeichen 136 und 274 kenntlich gemacht. Bei einer Radarkontrolle wurde die Geschwindigkeit des Betroffenen mit 69 km/h gemessen. Hiervon wurden 3 km/h als Messtoleranz in Abzug gebracht.

Das Amtsgericht hat die Einlassung des Betroffenen, er habe die Verkehrszeichen 136 und 274 nicht sehen können, weil auf einem rechts von der Fahrbahn befindlichen Parkplatz ein LKW gestanden und diese Verkehrszeichen verdeckt habe, als widerlegt angesehen und festgestellt, dass der Betroffene bei genügender Sorgfalt das die zulässige Höchstgeschwindigkeit begrenzende Verkehrszeichen trotz eines auf dem Parkplatz befindlichen Lastkraftwagens rechtzeitig hätte sehen und seine Geschwindigkeit entsprechend herabsetzen können.

Auf der Grundlage dieser Feststellungen ist das Amtsgericht zu der Überzeugung gelangt, dass sich der Betroffene innerhalb geschlossener Ortschaft der Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um 36 km/h schuldig gemacht hat, wobei ihm ein fahrlässiges Handeln zur Last zu legen ist.

Den Rechtsfolgenausspruch hat das Amtsgericht wie folgt begründet:

„Bei der Bemessung des Bußgeldes war einmal die deutliche Geschwindigkeitsüberschreitung, aber auch die Tatsache zu berücksichtigen, dass der Betroffene bereits im Jahr 2005 wegen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit in Erscheinung getreten ist. Das Gericht hielt deshalb die von der Verwaltungsbehörde festgesetzte Bußgeld von 200,- € für angemessen und erforderlich.

§ 4 Abs. 2 Satz 2 BKatV sieht für einen solchen Fall außerdem ein Fahrverbot von einem Monat vor. Bei dem Bußgeldbescheid des Kreises H vom 6. Juli 2005 ging es um eine Geschwindigkeitsüberschreitung um 31 km/h. Nur etwa drei Monate nach Rechtskraft dieses Bußgeldbescheides beging der Betroffene die Geschwindigkeitsüberschreitung, die Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist. Es ist kein Grund erkennbar, der es rechtfertigen würde, von dem Fahrverbot abzusehen. Es handelt sich auch nicht um ein sogenanntes Augenblicksversagen. Bei der Höhe der gemessenen Geschwindigkeit ist davon auszugehen, dass diese bereits vor der 30-km/h-Zone zu hoch war.“

Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, mit der eine Verletzung formellen und materiellen Rechts gerügt wird.

II.

Die Rechtsbeschwerde ist zulässig und hat in der Sache zumindest vorläufig teilweise Erfolg. Sie führt zu einer Aufhebung des Rechtsfolgenausspruchs und im Umfang der Aufhebung zu einer Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht Bielefeld.

1. Der Schuldspruch hält einer rechtlichen Überprüfung Stand.

a) Die erhobene Rüge, das Gericht habe seine Aufklärungspflicht dadurch verletzt, dass es von Beweiserhebungen abgesehen habe, die sich nach Lage der Sache aufdrängten und die überdies in der Hauptverhandlung förmlich beantragt worden seien, erweist sich als unzulässig. Nach Auffassung der Rechtsbeschwerde hätte durch das Amtsgericht zur Klärung der Fragen, ob der Betroffene die Möglichkeit gehabt habe, von dem Verkehrszeichen 274 Kenntnis zu nehmen sowie, innerhalb welcher Zeit und Fahrstrecke der Betroffene nach der einer möglichen Kenntnisnahme des Verkehrsschildes seine Geschwindigkeit auf die sodann geltende Höchstgeschwindigkeit hätte reduziert haben können, die Örtlichkeit insbesondere unter Einbeziehung des Standortes der Geschwindigkeitsmesseinrichtung in Augenschein genommen werden und aufgeklärt werden müssen, ab wann der Betroffene unter der Prämisse, dass das Verkehrsschild von einem LKW verdeckt gewesen sei, dieses hätte erkennen können. Außerdem hätte die Dauer der dem Betroffenen verbleibenden Reaktionszeit durch Einholung eines Sachverständigengutachtens geklärt werden müssen.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer Stellungnahme hierzu Folgendes ausgeführt:

„Die Aufklärungsrüge ist nicht in zulässiger Form erhoben worden, § 344 Abs. 2 S. 2 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 OWiG.

Mit der Rüge wird beanstandet, dass das Amtsgericht unter Ablehnung entsprechender Beweisanträge weder die Örtlichkeit in Augenschein genommen noch ein Sachverständigengutachten eingeholt habe. In der Rechtsbeschwerdebegründung werden indes weder die Beweisanträge noch die entsprechenden darauf ergangenen ablehnenden Gerichtsbeschlüsse mitgeteilt.

Die auf diese Weise begründete Aufklärungsrüge ist unzulässig, denn an diese könne keine geringeren Anforderungen gestellt werden als an die Rüge fehlerhafter Ablehnung von Beweisanträgen (zu vgl. BGH, NStZ 84, 329; NJW 98, 2229). Andernfalls könnte der Betroffene, der die Ablehnung eines Beweisantrages rügen will, dem Erfordernis der Mitteilung des Ablehnungsbeschlusses dadurch entgehen, dass er statt dessen die Aufklärungsrüge erhebt (zu vgl. BGH, NStZ aaO.).“

Diesen zutreffenden Ausführungen schließt sich der Senat an und macht sie zur Grundlage seiner Entscheidung.

b) Die auf die erhobene Sachrüge erfolgte Überprüfung des angefochtenen Urteils in materiell-rechtlicher Hinsicht lässt Rechtsfehler zu Lasten des Betroffenen in Bezug auf den Schuldspruch nicht erkennen.

Das Amtsgericht hat zunächst bei der Feststellung des Geschwindigkeitsverstoßes die Anforderungen beachtet, die insoweit von der höchst- und obergerichtlichen Rechtsprechung aufgestellt worden sind, insbesondere hat es das zur Anwendung gebrachte Messverfahren sowie den Toleranzabzug mitgeteilt (vgl. BGH NJW 1993, 3081). Bedenken gegen die Zuverlässigkeit des Messverfahrens hat der Betroffene nach den Urteilsgründen nicht vorgebracht. Das Amtsgericht hat auch hinreichende Feststellungen zur Sichtbarkeit des die zulässige Höchstgeschwindigkeit herabsetzende Verkehrszeichens getroffen und nachvollziehbar dargelegt, dass das Verkehrszeichen auch für den Betroffenen erkennbar war, da seine Sicht auf dieses durch den weit rechts von ihm befindlichen LKW nicht eingeschränkt war. Die Beweiswürdigung des Amtsgerichts ist insoweit widerspruchsfrei und lässt weder Verstöße gegen die Denkgesetze noch gegen Erfahrungssätze erkennen.

Die weitergehenden Ausführungen der Rechtsbeschwerde, die sich mit der Erkennbarkeit des Verkehrszeichens 274 des Betroffenen befassen und auf der Prämisse beruhen, dass dieser das Verkehrszeichen nicht habe erkennen können, beinhalten keine sachlich-rechtlichen Rügen der amtsgerichtlichen Beweiswürdigung. Vielmehr handelt es sich, wie auch die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme zutreffend ausgeführt hat, um unzulässige Angriffe auf die tatrichterlichen Feststellungen.

2. Der Rechtsfolgenausspruch des angefochtenen Urteils unterlag dagegen der Aufhebung.

Das angeordnete Fahrverbot hält einer rechtlichen Überprüfung nicht Stand. Aufgrund der Wechselwirkung zwischen Geldbuße und Fahrverbot hat dies zur Folge, dass der gesamte Rechtsfolgenausspruch aufzuheben war.

Das Amtsgericht ist bei der Anordnung des Fahrverbotes von einem beharrlichen Verstoß des Betroffenen gegen die Pflichten eines Kraftfahrzeugführers gemäß § 4 Abs. 2 S. 2 BKatV i.V.m. § 25 Abs. 1 S. 1 StVG ausgegangen. Der Verstoß des Betroffenen, eine Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um 36 km/h innerhalb geschlossener Ortschaften, erfüllt aber zudem den Tatbestand des § 4 Abs. 1 Nr. 1 BKatV i.V.m. Ziffer 11.3.6 des Anhangs zu Nr. 11 der Anlage zu § 1 Abs. 1 BKatV. Die Erfüllung des Tatbestandes des § 4 Abs. 1 Nr. 1 BKatV indiziert grundsätzlich das Vorliegen eines groben Verstoßes gegen die Pflichten eines Kraftfahrzeugführers i.S.d. § 25 Abs. 1 S. 1 StVG, so dass es regelmäßig der Denkzettel- und Besinnungsmaßnahme des Fahrverbotes bedarf. Dies gilt entsprechend für die Annahme des Vorliegens eines beharrlichen Verstoßes, wenn die Voraussetzungen des § 4 Abs. 2 S. 2 BKatV – wie das Amtsgericht zutreffend angenommen hat – gegeben sind.

Im vorliegenden Verfahren hat der Betroffene aber geltend gemacht, das die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h beschränkende Verkehrszeichen nicht wahrgenommen zu haben. Das Amtsgericht hat es zwar als widerlegt angesehen, dass der Betroffene dieses Verkehrszeichen nicht hatte erkennen können. Der Umstand, dass das hier in Rede stehende Verkehrszeichen nach den Feststellungen des Amtsgerichts für diesen uneingeschränkt sichtbar war, schließt aber ein Übersehen des Verkehrszeichens durch den Betroffenen nicht aus. Das Amtsgericht hätte sich daher näher damit befassen müssen, ob die Geschwindigkeitsüberschreitung durch den Betroffenen möglicherweise auf einem sogenannten „Augenblicksversagen“ im Sinne der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (vgl. NJW 1997, 3252 = NStZ 1997, 527) beruhen könnte. Nach den Ausführungen des Bundesgerichtshofs in der vorgenannten Entscheidung stellt eine Geschwindigkeitsüberschreitung, die aufgrund eines bloßen Übersehens eines Verkehrsschildes begangen wird, keine grobe Pflichtverletzung i.S.d. § 25 Abs. 1 S. 1 StVG dar, sondern begründet nur den Vorwurf leichter Fahrlässigkeit, es sei denn, gerade das Übersehen des Verkehrsschildes beruhe auf grober Nachlässigkeit oder Gleichgültigkeit. Bei der Prüfung, ob eine beharrliche Pflichtverletzung vorliegt, sind die Grundsätze, die der Bundesgerichtshof zum sogenannten „Augenblicksversagen“ aufgestellt hat, entsprechend anzuwenden (vgl. Senatsbeschluss vom 04.11.2004 – 3 Ss OWi 518/04 – m.w.N.).

Der Amtsrichter hat die vorstehend erörterte Problematik auch nicht verkannt. Denn er hat ausgeführt, dass es sich bei dem Verstoß des Betroffenen auch nicht um ein sogenanntes „Augenblicksversagen“ gehandelt habe, was wiederum den Rückschluss zulässt, dass der Amtsrichter die Einlassung des Betroffenen, er habe das Verkehrszeichen, durch das die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h herabgesetzt worden sei, nicht wahrgenommen, als nicht widerlegbar angesehen hat. Die Begründung in dem angefochtenen Urteil, bei der Höhe der gemessenen Geschwindigkeit des Betroffenen sei davon auszugehen, dass diese bereits vor der 30-km/h-Zone zu hoch gewesen sei, genügt aber nicht, um ein Augenblicksversagen des Betroffenen hier auszuschließen. Vielmehr hätte das Amtsgericht nähere Feststellungen etwa dazu treffen müssen, aus welcher Entfernung das hier in Rede stehende Verkehrsschild bei Annäherung durch einen Kraftfahrer für diesen erkennbar ist, welche Art der Beschilderung vor und in dem Bereich, in dem die Messung vorgenommen wurde (vgl. BGH NJW 1997, 3225), vorhanden ist, ob also z.B. das Verkehrszeichen auf der Strecke vor der Messstelle mehrfach wiederholt wurde oder der Messstelle ein sogenannter Geschwindigkeitstrichter vorausging. Darüber hinaus hätte sich der Tatrichter auch damit befassen müssen, ob sich aufgrund etwaiger sonstiger Umstände, wie etwa die umliegende Bebauung oder die Erkennbarkeit der in der Nähe der Messstelle gelegenen Grundschule die Möglichkeit einer Geschwindigkeitsbeschränkung auf 30 km/h aufdrängte (vgl. OLG Hamm, Senatsbeschluss vom 04.11.2004 – 3 Ss OWi 518/04 -; NZV 2000, 341; OLG Braunschweig DAR 1999, 273; OLG Köln NStZ-RR 2003, 154). Von Bedeutung ist außerdem, ob der Betroffene die Strecke, auf der die Geschwindigkeitsüberschreitung begangen wurde, erstmals befahren hat, oder ob ihm diese bereits vorher bekannt war. Im letzteren Fall wird ein lediglich auf leichter Fahrlässigkeit beruhendes Augenblicksversagen in der Regel auszuschließen sein (vgl. OLG Köln NZV 1998, 164).

Soweit das Amtsgericht darauf abstellt, dass davon auszugehen sei, dass der Betroffene bereits vor der Beschränkung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten habe, ist anzumerken, dass eine grobe pflichtwidrige Missachtung der gebotenen Aufmerksamkeit und damit ein bloßes Augenblicksversagen dann in der Regel nicht vorliegt, wenn der Betroffene nicht nur die durch Zeichen 274 angeordnete Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h, sondern auch die zuvor innerörtlich zulässige Geschwindigkeit in erheblicher Weise überschritten hat (vgl. OLG Karlsruhe, NZV 2004, 211; OLG Hamm, Beschluss vom 13.12.2005 – 3 ss OWi 720/05 – ). Denn in einem solchen Fall beruht der Verkehrsverstoß nicht auf einer augenblicklichen Unaufmerksamkeit, sondern auf der Nichtbeachtung weiterer Sorgfaltspflichten. Ob eine solche Fallgestaltung hier vorgelegen hat, vermag der Senat nicht zu beurteilen. Denn das angefochtene Urteil enthält keine Feststellungen dazu, welche zulässige Höchstgeschwindigkeit vor der hier in Rede stehenden Beschränkung auf 30 km/h von dem Betroffenen auf der T-Staße einzuhalten gewesen war.

Für die erneute Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass ein Fahrverbot seinen Sinn verlieren kann, wenn der Verkehrsverstoß bereits erhebliche Zeit zurückliegt ist, wobei als erheblich ein Zeitraum von mehr als 2 Jahren zwischen der Tat und der Ahndung anzusehen ist, ohne dass es sich hierbei um eine starre Grenze handelt.

Für die Beurteilung ist dabei von Bedeutung, in wessen Einflussbereich die lange Verfahrensdauer fällt sowie ob es nach dem verfahrensgegenständlichen Verstoß zu einem weiteren Fehlverhalten des Betroffenen gekommen ist (vgl. Bayrisches Oberlandesgericht, NZV 2002, 280, NStZ-RR 2004, 210; OLG Naumburg, ZfS 2003, 96; OLG Düsseldorf, MDR 2000, 829; OLG Köln, NZV 2000, 217; OLG Dresden, Beschluss vom 06.05.2003 – Ss (OWi) 565/02; OLG Hamm, Beschluss vom 26.07.2005 – 3 Ss OWi 104/05).

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