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Verkehrssicherungspflicht an einer Bushaltestelle

OLG Brandenburg –  Az.: 2 U 7/14 –  Urteil vom 30.09.2014

1. Auf die Berufung der Beklagten wird, unter Zurückweisung ihres weitergehenden Rechtsmittels, das Urteil des Landgerichts Potsdam vom 22. November 2013, Az. 4 O 191/11, aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht Potsdam zurückverwiesen.

2. Dem erstinstanzlichen Gericht bleibt auch die Entscheidung über die Kosten der Berufung vorbehalten.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

4. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

I.

Verkehrssicherungspflicht an einer Bushaltestelle
Symbolfoto: Von Elena Rostunova /Shutterstock.com

Die Klägerin begehrt materiellen und immateriellen Schadensersatz aus einem von ihr behaupteten Glatteisunfall am 11.02.2010 im Bereich der Bus- und Straßenbahnhaltestelle …platz /Park … in ….

Die Klägerin hat behauptet, sie sei am 11.02.2010 gegen 13:45 Uhr an der Haltestelle …platz /Park … in P… aus dem Bus der Linie … ausgestiegen und in Richtung Einstieg des Busses gegangen. Dabei habe sie zwischen den Leuten, die an der Haltestelle gestanden hätten, längs gehen und sich ein „bisschen durchdrängeln“ müssen. Im Bereich der Anzeigentafel sei sie aufgrund des dort vorhandenen Glatteises ausgerutscht und habe einen Spiralbruch des rechten Unterschenkels erlitten, der einer im Einzelnen dargestellten Behandlung bedurft hätte. Hierdurch seien ihr – ebenfalls im Einzelnen bezifferte – Schäden entstanden.

Die Beklagte sei – insoweit unstreitig – als Eigentümerin der Verkehrsfläche im Haltestellenbereich gemäß § 1 der Straßenreinigungssatzung der Beklagten für den Winterdienst verantwortlich. Diese Pflicht habe sie nicht, jedenfalls nicht wirksam auf die V… GmbH … (im Weiteren „V…“) bzw. die S… GmbH (im Weiteren „S…“) übertragen. Denn die Übertragung der Aufgaben müsse klar und eindeutig vereinbart sein, um die Ausschaltung von Gefahren zuverlässig sicherzustellen. Selbst wenn eine Übertragung des Winterdienstes – letztlich – auf die S… erfolgt sei, handele Letztere als Verwaltungshelferin, mithin als Beamtin im haftungsrechtlichen Sinn. Für Pflichtverletzungen müsse dann die Körperschaft einstehen. Jedenfalls träfen die Beklagte Kontroll- und Überwachungspflichten, die sie verletzt habe. Schließlich sei die Übertragung auf die V… schon deshalb nicht haftungsbefreiend, weil die V… als Mobilitätsdienstleister keine geeignete Winterdienstfachfirma darstelle.

Der Winterdienst sei nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden. Der Bereich, an dem sich der Unfall ereignet habe, sei entgegen § 4 Nr. 5 der Straßenreinigungssatzung winterdienstlich nicht behandelt worden bzw. abstumpfende Mittel hätten ihre Wirkung verloren. Der gesamte Haltestellenbereich wie auch der Gehwegbereich bis zur Gaststätte „…“ sei mit einer Schnee- und Eisdecke überzogen gewesen. Am 10.02.2010, dem Tag vor dem Unfall, sei der Schnee aufgrund der Sonneneinstrahlung angetaut. Der Schneematsch sei in der Nacht und am Unfalltag erneut gefroren. Dies habe zum Sturz geführt. Für den daraus entstandenen Schaden hafte die Beklagte.

Die Klägerin hat beantragt:

1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 11.538,46 € zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der EZB aus 11.460,56 € seit dem 08.02.2011 und aus 77,90 € seit Rechtshängigkeit der Klage zu zahlen.

2. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin jeweils zum 01.01., 01.04., 01.07. und 01.10. eines jeden Jahres, beginnend ab dem 01.04.2011, eine Rente auf den erlittenen Haushaltsführungsschaden in Höhe von 2.273,24 € zu zahlen.

3. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin ein in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld, mindestens jedoch 25.000,00 € zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der EZB seit dem 08.02.2011 zu bezahlen.

4. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche materiellen und immateriellen Schäden, letztere, soweit sie nach der letzten mündlichen Verhandlung entstehen, aus dem Unfall am 11.02.2010 gegen 13:45 Uhr an der Haltestelle …platz in … zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen.

5. Die Beklagte wird ferner verurteilt, die Klägerin von Gebührenansprüchen der Kanzlei Rechtsanwälte … in Höhe von 1.307,81 € freizuhalten.

Die Beklagte und die Streithelferin haben beantragt, die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat vorgetragen, im Bereich der Sturzstelle nicht für den Winterdienst verantwortlich gewesen zu sein. Der Sturzbereich sei eindeutig der Haltestelle zuzuordnen und vom dahinter liegenden Gehweg klar abgegrenzt. Für den Haltestellenbereich, der allein dem öffentlichen Nahverkehr gewidmet sei, übe die V… Anliegerfunktion aus. Die Zuständigkeit für den Winterdienst sei zudem, wie der Übernahmebeleg vom 03.08.2010 rückwirkend zum 01.01.2009 zeige, auf die V… übertragen worden. Hierüber habe bereits seit 2009 Klarheit geherrscht. Die V… habe wiederum die S… mit dem Winterdienst beauftragt.

Die S… habe den Winterdienst am 10.02.2010 gegen 12:50 Uhr ordnungsgemäß durchgeführt, indem die Haltestelle manuell von Schnee beräumt und der Bereich mit Splitt abgestumpft worden sei. Am Unfalltag seien weitere Maßnahmen wegen der herrschenden Witterung nicht notwendig gewesen.

Jedenfalls müsse sich die Klägerin ein überwiegendes Mitverschulden anrechnen lassen, weil sie sich nicht auf dem winterdienstlich behandelten Bereich bewegt habe.

Die dem Rechtsstreit beigetretene Streithelferin tritt den Ausführungen der Beklagten bei.

Das Landgericht hat nach Durchführung der Beweisaufnahme durch Inaugenscheinnahme der Unfallstelle und Vernehmung von Zeugen – wegen des Ergebnisses wird auf die Protokolle der mündlichen Verhandlungen vom 09.09.2013 und 04.11.2013 Bezug genommen – mit dem am 22.11.2013 verkündeten Urteil festgestellt, dass der von der Klägerin mit der Klage geltend gemachte Anspruch dem Grunde nach berechtigt sei. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Klägerin stehe gegen die Beklagte dem Grunde nach ein Anspruch auf Schadensersatz aus § 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG zu. Denn nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme stehe zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Klägerin aufgrund der im Haltestellenbereich herrschenden Eisglätte gestürzt sei und sich erheblich verletzt habe. Den Streu- und Räumpflichten nach der Straßenreinigungssatzung der Beklagten sei nicht ausreichend nachgekommen worden. Zwar seien abstumpfende Maßnahmen am Vortag des Unfalls erfolgt. Diese hätten aufgrund des Schneefalls in den frühen Nachtstunden und des großen Verkehrs durch kreuzende Passanten und Nutzer am Folgetag keine abstumpfende Wirkung mehr gehabt. Es reiche deshalb nicht aus, nur einmal an zwei Tagen zu streuen. Für den Schaden sei die Beklagte verantwortlich. Eine originäre Haftung der V… bestehe nicht, denn Anlieger im Sinne der Straßenreinigungssatzung sei die Beklagte. Es fehle auch an einer wirksamen Übertragung des Winterdienstes von der Beklagten auf die V…. Denn die Bestätigung vom 03.08.2010 erfülle die Anforderungen der Rechtsprechung an die Bestimmtheit der Übertragung nicht.

Wegen der tatsächlichen und rechtlichen Ausführungen im Einzelnen wird auf das Urteil Bezug genommen.

Gegen das am 20.12.2013 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 13.01.2014 Berufung eingelegt und diese innerhalb der mit Verfügung vom 13.02.2014 verlängerten Begründungsfrist am 11.03.2014 begründet. Sie trägt vor, das Landgericht habe ohne nähere Prüfung der witterungsbedingten Voraussetzungen das Vorliegen einer Streupflicht angenommen. Erforderlich für eine Räum- und Streupflicht sei eine allgemeine Straßenglätte. Hier habe jedoch lediglich eine vereinzelte Glatteisstelle vorgelegen. Denn der Winterdienst im Haltestellenbereich sei am Vortag ordnungsgemäß durchgeführt worden und hätte mangels neuer Niederschläge am Folgetag nicht wiederholt werden müssen. Auch der Zeuge B… habe lediglich Aussagen zur eigentlichen Sturzstelle machen können. Die Beklagte habe keine völlige Gefahrlosigkeit, sondern nur eine Hilfestellung bieten müssen.

Die Klägerin habe sich auch nicht vorgesehen und auf die Bodenbeschaffenheit geachtet. Die Kausalität zwischen der behaupteten Pflichtverletzung und dem Unfall werde deshalb bestritten, weil sich die Klägerin nach ihren eigenen Angaben durch die Menschenmenge hindurch gedrängelt habe. Dies begründe zugleich ein Mitverschulden.

Die Entscheidung stütze sich fehlerhaft bzgl. des Umfangs der Räum- und Streupflicht allein auf die Straßenreinigungssatzung. Die Räum- und Streupflicht sei jedoch allein nach zivilrechtlichen Maßstäben zu beurteilen. Auch nach der Satzung festgelegte weitergehende Pflichten begründeten keinen entsprechenden Anspruch des einzelnen Bürgers. Danach bestehe im Bereich einer abgegrenzten Haltestelle eine originäre Winterdienstpflicht der Verkehrsunternehmen.

Aus der Bestätigung vom 03.08.2010 ergebe sich zudem eindeutig und umfassend eine wirksame Übertragung der Winterdienstpflicht auf die V…. Auf die Frage von Kontrollen käme es nicht an, weil die Übertragung auf einen originär Verpflichteten erfolgt sei.

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Die Beklagte und die Streithelferin beantragen, das Grundurteil des Landgerichts Potsdam vom 22.11.2013 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie wiederholt im Wesentlichen ihren erstinstanzlichen Vortrag und verteidigt die angefochtene Entscheidung.

Wegen des übrigen Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen Bezug genommen.

II.

Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte und begründete Berufung (§§ 517, 519, 520 ZPO) hat in der Sache nur teilweise Erfolg. Das Urteil des Landgerichts Potsdam ist zwar aufzuheben. Jedoch ist die Klage nicht abzuweisen, sondern die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht Potsdam zurückzuverweisen. Denn das am 22.11.2013 verkündete Grundurteil des Landgerichts Potsdam ist unzulässig.

1. Nach § 304 ZPO kann das Gericht über den Grund vorab entscheiden, wenn ein Anspruch nach Grund und Betrag streitig und lediglich der Streit über den Anspruchsgrund zur Endentscheidung reif ist. Diese Vorschrift soll das Verfahren vereinfachen und verbilligen, indem sie eine Vorklärung des Anspruchs und deren Überprüfung im Instanzenzug ermöglicht und damit gegebenenfalls eine aufwendige Beweisaufnahme erspart. Dieser Funktion entsprechend setzt sie neben einem nach Grund und Höhe streitigen Anspruch vor allem voraus, dass eine solche Trennung in Grund- und Betragsverfahren möglich ist. Diese Voraussetzung erfüllt nur ein auf die Zahlung von Geld oder die Leistung vertretbarer Sachen gerichteter Anspruch, der der Höhe nach summenmäßig bestimmt ist. Über einen Antrag, mit dem – wie hier – eine Pflicht zum Ersatz bestimmter Kosten festgestellt werden soll, kann mithin jedenfalls dann nicht durch Grundurteil entschieden werden, wenn der Umfang der Ersatzpflicht u. a. von einer zukünftigen und im Einzelnen noch ungewissen Entwicklung abhängt. Das ist hier hinsichtlich des Feststellungsantrages zu 4. der Fall. Ein unbeziffertes Feststellungsverlangen kann nicht Gegenstand eines Grundurteils sein. Als Urteil über den Anspruchsgrund im Sinne des § 304 ZPO kann die Entscheidung der Vorinstanz daher keinen Bestand haben. Sie lässt sich auch nicht als (Teil-)Endurteil aufrechterhalten, mit dem dem Feststellungsbegehren der Klägerin als einem abgrenzbaren Teil der geltend gemachten Ansprüche entsprochen wird. Eine Auslegung der Entscheidung in diesem Sinne setzt voraus, dass die Entscheidungsgründe oder der Gesamtinhalt des Urteils Anhaltspunkte für einen solchen Willen des Landgerichtes ergeben. Daran fehlt es hier. Nach dem Gesamtinhalt der Entscheidungsgründe, der Bezeichnung des Urteils und des Tenors hat das Landgericht nur ein Zwischenurteil zum Grund treffen wollen (vgl. BGH, Urteil vom 19.02.1991 – X ZR 90/89 -, juris).

Ist danach das Grundurteil hinsichtlich des Feststellungsantrages unzulässig, hat dies hier die Unzulässigkeit des gesamten Urteils zur Folge (vgl. dazu Senat, Urteil vom 14.12.2010 – 2 U 46/08 -, juris). Im Ergebnis ist daher entsprechend dem Antrag der Beklagten das angefochtene Grundurteil insgesamt aufzuheben. Einer Aufhebung auch des zu Grunde liegenden Verfahrens bedarf es nicht, weil der Mangel nur das Urteilsverfahren betrifft, nicht jedoch die erstinstanzlichen Feststellungen (vgl. Zöller/Heßler, ZPO, 30. Aufl., § 538 ZPO, Rdnr. 57).

2. Etwas anderes ergäbe sich allenfalls dann, wenn die Klage bereits aus jetziger Sicht abweisungsreif wäre. Dies ist indes nicht der Fall.

Die Klage wäre abweisungsreif und damit die Sache nicht an das Landgericht zurückzuverweisen, wenn der Klägerin ein Anspruch auf Ersatz des Schadens, den sie mit der Klage geltend macht, nicht zusteht. Indes liegt eine Abweisungsreife insoweit – zumindest gegenwärtig – nicht vor. Als Anspruchsgrundlage kommt § 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG in Betracht. Denn die Beklagte hat ihre Winterdienstpflicht verletzt mit der Folge, dass die Klägerin in ihrer Gesundheit beschädigt wurde. Der Winterdienst stellt eine hoheitliche Aufgabe der Gemeinden dar; ihre Verletzung führt zu einer Haftung nach Amtshaftungsrecht.

a) Der Winterdienst im Bereich der Unfallstelle oblag der Beklagten. Dies folgt bereits aus § 49 a Abs. 3 BbgStrG. Anderes ergibt sich auch nicht aus § 2 Abs. 1 der Straßenreinigungssatzung der Beklagten. Denn sie ist, wie das Landgericht beanstandungsfrei festgestellt hat, als Bucheigentümerin des Grundstückes zugleich Anliegerin im Sinne der Satzung.

Im Übrigen folgt die Verkehrssicherungspflicht daraus, dass die Beklagte als Grundstückseigentümerin die hier betroffene Verkehrsfläche dem öffentlichen Verkehr, hier insbesondere für die Nutzung durch den ÖPNV freigegeben hat. Insoweit trifft sie die Verantwortung auch aus den allgemeinen Verkehrssicherungspflichten, mithin auch die Pflichten für den Winterdienst.

Die Beklagte kann sich nicht darauf berufen, dass die V… oder die S… selbst originär oder sekundär verkehrssicherungspflichtig sind. Zwar kommt eine solche Haftung durchaus in Betracht (vgl. BGH Urteil vom 13.07.1967 – III ZR 165/66 -, juris). Denn die V… unterliegt aus der allgemeinen Rechtspflicht, dass derjenige, der Gefahrenquellen schafft auch die notwendigen Vorkehrungen zum Schutze anderer zu treffen hat, ggf. einer originären Streupflicht. Allerdings würde eine Haftung Dritter lediglich neben die Verantwortlichkeit der Beklagten treten und diese nicht verdrängen. Denn bei der allgemeinen Verkehrssicherungspflicht, zu der auch die Streupflicht gehört, gilt der Grundsatz, dass der Verkehrssicherungspflichtige nicht dadurch von seiner Pflicht befreit wird, dass ein anderer die Gefahr verursacht und deshalb seinerseits zur Beseitigung der Gefahr verpflichtet ist (BGH Urteil vom 13.07.1967, a. a. O.). Gleiches stellt auch das von der Beklagten zitierte Oberlandesgericht Düsseldorf in NJW-RR 1988, 664 fest, indem es ausführt: „Dass möglicherweise auch andere an dieser Stelle verkehrssicherungspflichtig waren, entlastet die Beklagte nicht.“

Auch auf § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB kann die Klägerin in diesem Zusammenhang nicht verwiesen werden (vgl. BGH Urteil vom 11.06.1992 – IIIZR 134/91-, juris).

Die Beklagte hat nicht nachgewiesen, ihre Räum- und Streupflicht wirksam auf die V… übertragen zu haben. Die von der Beklagten vorgelegte Vereinbarung vom 03.08.2010 wurde erst nach dem Unfallereignis geschlossen. Zwar sieht die Vereinbarung eine Rückwirkung zum 01.01.2009 vor. Wie, wann, durch wen und mit welchem Inhalt die von der Klägerin bestrittene Vereinbarung vor dem 03.08.2010 geschlossen wurde, trägt die Beklagte jedoch nicht vor. Mithin kann schon deshalb zum Zeitpunkt des Unfallereignisses nicht von einer rechtlich wirksamen Übertragung der Winterdienstpflichten auf die V…, die den dargestellten Anforderungen genügt, ausgegangen werden. Anderes ergibt sich auch nicht, wenn dem Dokument der Charakter einer Bescheinigung oder Bestätigung zukommen würde, was sich dem Wortlaut nicht entnehmen lässt. Denn auch dann ergibt sich nicht, wer was für den maßgeblichen Zeitpunkt 11.02.2010 bzgl. des Winterdienstes vereinbart hatte. Dahinstehen kann vor diesem Hintergrund, dass diese Vereinbarung tatsächlich bereits vor dem 03.08.2010 gelebt wurde. Denn die tatsächliche Ausübung des Winterdienstes lässt keinen Schluss darauf zu, ob die Winterdienstpflicht auch haftungsbefreiend auf die V… übertragen wurde. Es kommt mithin schon nicht darauf an, ob die vorgelegte Vereinbarung den Bestimmtheitsanforderungen genügt. Allerdings bestehen daran Zweifel, wie der Senat bereits im Hinweis vom 27.05.20214, auf den insoweit Bezug genommen wird, ausgeführt hat. Die Zweifel bleiben auch mit Blick auf die Senatsentscheidung vom 02.08.2011 (2 U 16/10) bestehen. Denn in der dortigen Entscheidung wurde die Verkehrssicherungspflicht insgesamt übertragen und die zu reinigenden Flächen durch eine genaue Lageskizze ausgewiesen. Jedenfalls Letzteres lässt sich der Vereinbarung vom 03.08.2010 bislang nicht entnehmen.

b) Die Beklagte hat ihre Verkehrssicherungspflicht verletzt. Denn sie hat die Gefahr winterlicher Glätte nicht in ausreichendem Maße beseitigt. Dabei führt § 49 a Abs. 3 BbgStrG – wonach die Gemeinden im Rahmen ihrer Leistungsfähigkeit die öffentlichen Straßen und Wege innerhalb der geschlossenen Ortslage winterdienstlich zu behandeln haben, soweit dies zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erforderlich ist – bzw. die Satzung der Beklagten nicht zu einer Ausweitung der nach allgemeinen Grundsätzen geltenden (Verkehrssicherungs-) Pflichten. Vielmehr besteht die Winterdienstpflicht nach allgemeinen Grundsätzen nur bei einer konkreten Gefahrenlage und nach den örtlichen Besonderheiten; nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs richten sich Inhalt und Umfang der winterlichen Räum- und Streupflicht unter dem Gesichtspunkt der Verkehrssicherung nach den Umständen des Einzelfalles. Art und Wichtigkeit des Verkehrsweges sind dabei ebenso zu berücksichtigen wie seine Gefährlichkeit und die Stärke des zu erwartenden Verkehrs. Die Räum- und Streupflicht besteht daher nicht uneingeschränkt, sondern vielmehr nur unter dem Vorbehalt des Zumutbaren, wobei es auch auf die Leistungsfähigkeit des Sicherungspflichtigen ankommt (BGHZ 112, 74, 75 f.; VersR 1995, 721). Denn grundsätzlich muss sich der Straßen-/Fußgängerverkehr auch im Winter den gegebenen Straßenverhältnissen anpassen. Der Sicherungspflichtige hat aber durch Schneeräumen und Bestreuen mit abstumpfenden Mitteln die Gefahren, die infolge winterlicher Glätte für den Verkehrsteilnehmer bei zweckgerechter Wegebenutzung und trotz Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt bestehen, im Rahmen und nach Maßgabe der vorgenannten Grundsätze zu beseitigen. Für Fußgänger müssen die Gehwege, soweit auf ihnen ein nicht unbedeutender Verkehr stattfindet, sowie die belebten, über die Fahrbahn führenden unentbehrlichen Fußgängerüberwege bestreut werden (BGH VersR 1995, 721, 722; NJW 2003, 3622 ff.). Insbesondere im Bereich von Haltestellen besteht hingegen eine gesteigerte Sicherungspflicht (vgl. BGH, Urteil vom 01.07.1993 – III ZR 88/92 -, Urteil vom 27.04.1987 – III ZR 123/86 -, juris). Der für den öffentlichen Verkehr zugängliche Bereich ist so zu streuen, dass Gefahren beseitigt werden; zugleich sind all diejenigen Teile zu bestreuen, die gefährlich werden können. Deshalb muss eine öffentliche Verkehrsfläche auch über einen schmalen Gehwegbereich hinaus bestreut werden, wenn sich dort die Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsunternehmens befindet und deshalb ein für die Beklagte erkennbares besonderes Sicherungsbedürfnis besteht (vgl. BGH Urteil vom 13.07.1967, a. a. O.).

Ausgehend von diesen Grundsätzen ist mit dem Landgericht eine Pflicht der Beklagten zur winterdienstlichen Behandlung des Haltestellenbereichs …platz /Park … am 11.02.2010 zu bejahen.

aa) Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist die Klägerin – wie das Landgericht zutreffend und ausführlich begründet festgestellt hat – im Haltestellenbereich …, …platz gestürzt. Dem tritt auch die Beklagte mit der Berufung nicht erheblich entgegen.

bb) In diesem Haltestellenbereich bestand zum Unfallzeitpunkt eine Kontroll- und Streupflicht. Am Vortag des Unfalls, dem 10.02.2010 bestand aufgrund der Witterungsverhältnisse und der allgemeinen Glätte die Notwendigkeit, winterdienstliche Maßnahmen einzuleiten. Dem tritt auch die Beklagte nicht entgegen. Vielmehr führt sie aus, dass den Verpflichtungen durch Mitarbeiter der S… nachgekommen worden sei. Der Zeuge K… hat in seiner Aussage vor dem Landgericht insoweit bekundet, am 10.02.2010 den Haltestellenbereich gereinigt und bestreut zu haben. Dem folgt das Landgericht mit seiner Entscheidung in nicht zu beanstandender Weise. Ob hingegen am 11.02.2010 Witterungsverhältnisse vorlagen, die erneut eine allgemeine Glätte und aus diesem Grund eine erneute Streupflicht verursachten, kann dahinstehen. Anhaltspunkte dafür gibt es. Denn aus dem von der Beklagten selbst vorgelegten Messwertprotokoll über die Witterungsverhältnisse für den 11.02.2010 geht – wie auch das Landgericht ausgeführt hat – hervor, dass nach Mitternacht leichte Schneefälle zu verzeichnen waren. Auch die Temperaturkurve lässt das von der Klägerin dargestellte Antauen der Oberfläche mit erneuter allgemeiner Glättebildung nachvollziehbar erscheinen. Dessen ungeachtet bestand aber jedenfalls eine Kontrollpflicht, ob die aufgebrachten Streumittel noch immer ihre Abstumpfungsfunktion erfüllen.

Bei der Unfallstelle handelt es sich um einen zentralen Haltepunkt in …, in dem starker Fußgängerverkehr herrscht. Denn er wird durch den Halt von Straßenbahnen und zahlreichen Buslinien von einer Vielzahl von Fußgängern benutzt, die aus- und einsteigen. Hierbei handelt es sich um einen besonders gefahrenträchtigen Ablauf. Insbesondere der aussteigende Fahrgast muss darauf vertrauen können, dass der Haltestellenbereich vor dem Ausstieg auch gefahrlos benutzt werden kann. Er hat kaum eine Möglichkeit, der Gefahr auszuweichen. Daraus folgt, dass der Bereich im Rahmen des Winterdienstes jedenfalls zur Tageszeit besonderen Anforderungen unterliegt. Insoweit genügt es nicht, lediglich dann, wenn allgemeine Glätte vorherrscht, den Haltestellenbereich zu beräumen und mit Streugut zu sichern. Vielmehr muss die Beklagte in angemessener Zeit prüfen, ob die von ihr aufgrund der Witterungsverhältnisse bereits eingeleiteten Maßnahmen noch immer vorhalten und das Streugut noch seine Wirkung entfaltet (vgl. BGH, Urteil vom 27.04.1987 – III ZR 123/86 -; Urteil vom 01.07.1993 – III ZR 88/92 -, juris). Auch der Zeuge K… hat in seiner Vernehmung geschildert, dass es gerade im Haltestellenbereich häufig zum Platttreten von Schnee kommt. Die Fußgänger achteten nicht auf die zusammen geschobenen Schneehaufen, träten diese fest und breit. Es liegt daher nahe, dass das aufgebrachte Streugut in überschaubarer Zeit seine Abstumpfungswirkung verliert. Jedenfalls dies – soweit keine allgemeine Glätte vorherrschte – war nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme auch hier der Fall. So hat das Landgericht mit der Vernehmung des Zeugen B… und der Anhörung der Klägerin beanstandungsfrei festgestellt, dass es im Haltestellenbereich, insbesondere in dem Bereich, in dem die Klägerin zu Fall kam, eisglatt war.

Deshalb kommt es hier nicht auf die Vermutung an, dass auch vom Gehweg Schnee in den Haltebereich geschoben worden wäre oder nicht. Bereits der Fußgängerverkehr im Haltestellenbereich selbst gibt Anlass, die Wirkung winterdienstlicher Maßnahmen in angemessenen Abständen zu kontrollieren. Nach Auffassung des Senates hätte die Kontrolle jedenfalls vor dem Unfall um 13:45 Uhr erfolgen müssen. Dass eine Nachkontrolle der Beklagten unzumutbar gewesen wäre, ist nicht ersichtlich. Insbesondere, wenn man der Beklagten folgt, dass am Unfalltag keine anderweitige dringliche Streupflicht im gesamten Stadtgebiet vorgelegen habe. Dieser Kontrollpflicht ist die Beklagte nicht nachgekommen. Hätte sie rechtzeitig kontrolliert, hätte die Sturzstelle erneut abgestumpft werden können.

cc) Die Pflichtverletzung ist auch kausal für den Sturz geworden. Dabei kann dahinstehen, ob zu Gunsten der Klägerin auch dann ein Anscheinsbeweis für die Kausalität der Pflichtverletzung und dem Schadensereignis besteht, wenn der Verkehrssicherungspflichtige lediglich seine Kontrollpflichten nach vorangegangener allgemeiner Glätte verletzt hat. Denn das Landgericht hat die Aussagen des Zeugen B… und die Schilderungen der Klägerin überzeugend gewürdigt und ist beanstandungsfrei zu dem Ergebnis gekommen, dass vorliegend die Glätte und nicht etwa „das Drängelverhalten der Klägerin“ ursächlich für den Sturz geworden war.

dd) Der Klägerin ist auch kein – jedenfalls kein die Haftung ausschließendes – Mitverschulden zuzurechnen. Sie ist aus dem Bus ausgestiegen und hat versucht, sich an den wartenden Passanten vorbei in Richtung Gehweg zu bewegen. In dieser Situation hatte sie keine Möglichkeit, sich auf die Bodenverhältnisse zu konzentrieren oder die Gesamtsituation zu überblicken, um auf eventuell sicherere Haltestellenbereiche auszuweichen. Gerade hier hat sich das o. g. Risiko verwirklicht und kann deshalb nicht der Klägerin angelastet werden. Dass sie aufgrund ihrer Kenntnis von der Glättebildung aus den Vortagen nicht hinreichend vorsichtig gelaufen ist, kann bislang nicht festgestellt und auch nicht vermutet werden.

3. Wegen des Grundsatzes der Einheitlichkeit der Kostenentscheidung ist diese der Schlussentscheidung vorzubehalten.

Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergeht gemäß §§ 708 Nr. 10, 711, 713. Aufhebende und zurückverweisende Urteile sind für vorläufig vollstreckbar zu erklären (vgl. Zöller/ Heßler, a. a. O., § 538 Rdnr. 59).

Die Revision wird nicht zugelassen, da die Voraussetzungen des § 543 ZPO nicht vorliegen. Grundsätzliche Bedeutung kommt der Rechtssache nicht zu. Auch ist die Zulassung nicht zur Fortbildung des Rechts oder der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich.

Der Gebührenstreitwert für die Berufungsinstanz wird festgesetzt auf bis zu 95.000,00 €, da durch die Berufung der gesamte Klageanspruch Gegenstand der Berufungsinstanz war.

 

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