Nutzung der dortigen Toilette durch Kunden
Oberlandesgericht Saarbrücken – Az.: 4 U 51/19 – Urteil vom 30.07.2020
1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 29.05.2019 (Aktenzeichen 8 O 107/18) wird zurückgewiesen.
2. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Klägerin.
3. Das Urteil und das angefochtene Urteil sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Die am … 1944 geborene Klägerin ist regelmäßige Kundin der vom Beklagten betriebenen Bäckerei und suchte auch am Samstag, den 11.11.2017 gegen 9.30 Uhr deren Geschäftsräume auf. Wie schon gelegentlich bei früheren Malen bat die Klägerin darum, die Toilette benutzen zu dürfen, woraufhin ihr die Ehefrau des Beklagten den Schlüssel aushändigte. Die Toilette befindet sich im Untergeschoss neben der Backstube und ist über einen abgeschlossenen Seitengang außerhalb der Bäckerei und eine Treppe zu erreichen. Auf dem Weg zur Toilette stürzte die Klägerin und erlitt eine Bimalleolarfraktur links, weshalb sie sich vom Unfalltag bis zum 24.11.2017 in stationärer Behandlung und vom 30.11.2017 bis zum 22.05.2018 in ambulanter ärztlicher Behandlung und daneben in physiotherapeutischer Behandlung befand. Die Klägerin forderte den Beklagten mit Anwaltsschreiben vom 22.01.2018 auf, die Haftung dem Grunde nach anzuerkennen. Mit Schreiben vom 22.03.2018 lehnte der Haftpflichtversicherer des Beklagten eine Regulierung ab.
Die Klägerin macht ein Schmerzensgeld in Höhe von 13.000 €, einen Haushaltsführungsschaden in Höhe von 2.933,36 € sowie weiteren materiellen Schaden in Höhe von 357,36 € (Fahrtkosten zum Orthopäden in Höhe von 9,60 €, Zuzahlungen zur Physiotherapie in Höhe von 195,76 € und Fahrtkosten zur Physiotherapie in Höhe von 252 €) geltend. Sie hat behauptet, sie sei deswegen zu Fall gekommen, weil sie auf Mehl weggerutscht sei, welches sich auf den Fliesen des Flurraumes unmittelbar vor der Treppe befunden habe. Da es am Unfalltag – unstreitig – stark geregnet habe, habe in Zusammenhang mit dem Mehl eine erhöhte Rutschgefahr bestanden. Sie habe sich in den vier auf den Krankenhausaufenthalt folgenden Wochen nur im Rollstuhl fortbewegen können und habe noch heute Beschwerden im Fußgelenk. Haushalt und Garten habe sie vor dem Unfall allein versorgt. Angelehnt an das Werk von Schulz-Borck/Hofmann (jetzt: Schulz-Borck/Pardey) werde ein Ausfall von insgesamt 296 Stunden zu je 9,91 €/Stunde geltend gemacht. Wegen der weiteren Einzelheiten des Vortrags der Klägerin hierzu wird auf die Klageschrift verwiesen (Bl. 7 f. d. A.).
Die Klägerin hat beantragt,
1. den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz auf den zuerkannten Betrag seit Rechtshängigkeit (29.01.2019) zu zahlen;
2. den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin 2.933,36 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz auf den zuerkannten Betrag seit Rechtshängigkeit (29.01.2019) zu zahlen;
3. den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin 357,36 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz auf den zuerkannten Betrag seit Rechtshängigkeit (29.01.2019) zu zahlen und
4. den Beklagten zu verurteilen, die außergerichtlichen Anwaltskosten in Höhe von 1.100,51 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz auf den zuerkannten Betrag seit Rechtshängigkeit (29.01.2019) zu zahlen.
Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Er hat behauptet, die Klägerin sei ausweislich des Berichts des Name Klinikum, Ort vom 22.11.2017 umgeknickt und habe nach dem Unfallgeschehen angegeben, sie sei so schnell gegangen. Der geflieste Raum neben der Backstube sei nach Beendigung der Backarbeiten gegen 5.00 Uhr gereinigt worden. Überdies hätte die Klägerin in der Nähe einer Backstube mit Mehl rechnen müssen, zumal die Toilette maßgeblich für das Personal gedacht sei. Der Beklagte hat mit Nichtwissen bestritten, dass sich die Klägerin nach Entlassung aus dem Krankenhaus für vier Wochen nur im Rollstuhl habe fortbewegen können. Weiter hat er bestritten, dass die Klägerin immer noch Schmerzen im Fußgelenk habe und in der Fortbewegung beeinträchtigt sei. Die Darlegung des Haushaltsführungsschadens hat der Beklagte für unschlüssig gehalten, weil die Klägerin sich auf das Tabellenwerk von Schulz-Borck/Hofmann beziehe; weiter hat er bestritten, dass ausschließlich die Klägerin den Haushalt versorge und diese täglich acht Stunden Haushaltsarbeiten verrichte.
Das Landgericht hat nach informatorischer Befragung der Klägerin (Bl. 84 ff. d. A.) und des Beklagten (Bl. 87 ff. d. A.) mit dem am 29.05.2019 verkündeten Urteil (Bl. 92 ff. d. A.) die Klage abgewiesen. Der Senat nimmt gemäß § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO auf die tatsächlichen Feststellungen in dem erstinstanzlichen Urteil Bezug.
Mit der gegen dieses Urteil eingelegten Berufung rügt die Klägerin Verletzung materiellen Rechts, weil das Landgericht irrig davon ausgegangen sei, dem Beklagten sei keine schadenersatzrechtliche Sorgfalts- und Obhutspflichtverletzung zuzuschreiben. Die Klägerin habe vorgetragen, dass sie anlässlich eines Besuchs in der Bäckerei des Beklagten auf der Treppe zu den sanitären Anlagen, die mit starken Mehlresten verunreinigt gewesen sei, im Flur zu Fall gekommen sei. Die Nutzung der Toilette sei ihr aktiv gestattet worden, so wie viele Samstage zuvor auch. Das Landgericht stütze die Klageabweisung zu Unrecht allein auf die Äußerung der Klägerin bei der informatorischen Anhörung, wonach sie weder im Vorraum noch im Fliesenbereich Mehl im Zeitpunkt des Sturzes gesehen habe. Die Klägerin habe damit zum Ausdruck bringen wollen, dass sie nach dem Sturz definitiv nichts mehr wahrgenommen habe und nur noch in der Lage gewesen sei, auf ihren Ehemann und die Verbringung in das Krankenhaus zu warten. Das Landgericht habe verkannt, dass bezüglich der Frage des Zustands des Flures und der Treppe eine Beweiserhebung durch die Zeugen R. M. und J. J. angeboten gewesen sei.
Die Klägerin beantragt (Bl. 129 f. d. A.), unter Abänderung des am 29.05.2019 verkündeten Urteils des Landgerichts Saarbrücken (Aktenzeichen 8 O 107/18)
1. den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz auf den zuerkannten Betrag seit Rechtshängigkeit (29.01.2019) zu zahlen;
2. den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin 2.933,36 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz auf den zuerkannten Betrag seit Rechtshängigkeit (29.01.2019) zu zahlen;
3. den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin 357,36 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz auf den zuerkannten Betrag seit Rechtshängigkeit (29.01.2019) zu zahlen und
4. den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin die außergerichtlichen Anwaltskosten in Höhe von 1.100,51 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz auf den zuerkannten Betrag seit Rechtshängigkeit (29.01.2019) zu zahlen.
Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt die angefochtene Entscheidung.
Der Senat hat die Parteien angehört und Beweis erhoben gemäß dem vorterminlichen Beweisbeschluss vom 16.01.2020 (Bl. 164 f. d. A.).
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen und die Sitzungsniederschriften des Landgerichts vom 08.05.2019 (Bl. 83 ff. d. A.) und des Senats vom 09.07.2020 (Bl. 198 ff. d. A.) Bezug genommen.
II.
Die Berufung der Klägerin ist nach den §§ 511, 513, 517, 519 und 520 ZPO statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden; sie ist mithin zulässig. Das Rechtsmittel hat nach dem Ergebnis der zweitinstanzlich gemäß §§ 513, 529, 546, 538 Abs. 1 ZPO durchgeführten Beweisaufnahme in der Sache jedoch keinen Erfolg.
1. Das Landgericht ist bei der Verneinung der von allfälligen Schadensersatzansprüchen gemäß §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB, § 823 Abs. 1 BGB in Verbindung mit §§ 249, 253 Abs. 2 BGB vorausgesetzten Verkehrssicherungspflichtverletzung allerdings von unzutreffenden rechtlichen Grundlagen ausgegangen (nachfolgend unter b) cc)) und hat den maßgeblichen Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt (b) dd)).
a) Das Landgericht hat im Wesentlichen ausgeführt, es vermöge eine Verkehrssicherungspflichtverletzung durch den Beklagten selbst bei Unterstellung des von der Klägerin geschilderten Hergangs nicht zu erkennen. Da nicht die Geschäftsräume selbst, sondern nur ein erst nach Aushändigung des Schlüssels für Kunden zugänglicher Flurbereich im Untergeschoss betroffen gewesen sei, dürften die Anforderungen an eine Verkehrssicherungspflicht durch den Beklagten nicht überspannt werden. Des Weiteren befinde sich der fragliche Bereich unmittelbar vor der Backstube des Beklagten, wovon die Klägerin nach eigenem Vorbringen Kenntnis gehabt habe. Dass in diesem Bereich Mehlrückstände auftreten könnten, die selbst bei Anwendung größtmöglicher Sorgfalt nicht vermieden werden könnten, erscheine offenkundig. Hinzu komme, dass die Mehlmenge allenfalls gering gewesen sein könne. Die Klägerin, die nach eigenen Angaben etwa 15 Minuten nach dem Sturz an der Unfallstelle gewartet habe, bis Hilfe gekommen sei, habe auf dem Fliesenbelag keine Mehlrückstände zu erkennen vermocht. Eine Verpflichtung des Beklagten, eine nicht erkennbare Verschmutzung zu beseitigen, könne jedoch nicht angenommen werden.
b) Diesen Erwägungen kann nicht gefolgt werden.
aa) Nach ständiger Rechtsprechung des BGH ist derjenige, der eine Gefahrenlage – gleich welcher Art – schafft, grundsätzlich verpflichtet, die notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen zu treffen, um eine Schädigung anderer möglichst zu verhindern (BGH NJW 2013, 48 Rn. 6 m. w. Nachw.). Eine solche Verkehrssicherungspflicht stellt innerhalb eines Vertragsverhältnisses – wie hier – zugleich eine Vertragspflicht dar (BGH NJW 2018, 2956 Rn. 12). Der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt ist genügt, wenn im Ergebnis derjenige Sicherheitsgrad erreicht ist, den die in dem entsprechenden Bereich herrschende Verkehrsauffassung für erforderlich hält. Daher reicht es anerkanntermaßen aus, diejenigen Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, die ein verständiger, umsichtiger, vorsichtiger und gewissenhafter Angehöriger der betroffenen Verkehrskreise für ausreichend halten darf, um andere Personen vor Schäden zu bewahren, und die den Umständen nach zuzumuten sind (BGH NJW 2013, 48, 49 Rn. 7 m. w. Nachw.). Sobald der Verstoß objektiv feststeht und sofern sich gerade diejenige Gefahr verwirklicht hat, der die betreffende Verkehrssicherungspflicht entgegenwirken soll, kommt dem Geschädigten der Beweis des ersten Anscheins zugute (Förster in Bamberger/Roth/Hau/Poseck, BeckOK BGB 53. Edition Stand: 01.02.2020 § 823 Rn. 394 m. w. Nachw.).
bb) Die Sicherungspflicht des Grundstückseigentümers oder Sachbeherrschers umfasst in erster Linie den Bereich des Gebäudes, der dem Zugang durch Dritte eröffnet ist (BGB-RGRK/Steffen, 12. Aufl. § 823 Rn. 216). Noch mehr als der bloße Grundstückseigentümer muss derjenige, der eine Gefahrenquelle im Rahmen seiner gewerblichen Tätigkeit schafft, dafür sorgen, dass niemand in den gewerblich genutzten Räumlichkeiten oder auf dem Gewerbegrundstück zu Schaden kommt, da zum einen infolge der größeren Zahl der Betroffenen häufiger Schäden drohen und zum anderen der Geschäftsinhaber aus dem Verkehr seinen kommerziellen Nutzen zieht (Förster in Bamberger/Roth/Hau/Poseck, BeckOK BGB 53. Edition Stand: 01.02.2020 § 823 Rn. 461; Soergel/Krause, BGB 13. Aufl. Anh. II § 823 Rn. 99). Er muss daher insbesondere die Fußböden der dem Publikumsverkehr gewidmeten Räume während der Geschäftszeiten frei von Gefahren halten (BGH NJW 1994, 2617).
cc) Entgegen der Rechtsansicht des Landgerichts greifen bei Anwendung der gefestigten höchstrichterlichen Rechtsprechung auf den vorliegenden Einzelfall diese hohen Sorgfaltsanforderungen an den Beklagten Platz, auch und gerade wenn ein erst nach Aushändigung des Schlüssels für Kunden zugänglicher Flurbereich im Untergeschoss betroffen ist. Insoweit ist bereits seit langem rechtlich geklärt, dass es bereits ausreicht, wenn der Pflichtige den Verkehr geduldet und tatsächlich nicht gehindert hat (BGH VersR 1960, 715, 716; 1965, 515, 516; 1967, 801, 802; BGB-RGRK/Steffen, aaO Rn. 217). Im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass die Klägerin laut unstreitigem Teil des Tatbestands der angefochtenen Entscheidung (§ 314 ZPO) „wie auch gelegentlich bei früheren Besuchen“ darum bat, die Toiletten benutzen zu dürfen, woraufhin ihr die Ehefrau des Beklagten, die Zeugin S. L. den Schlüssel aushändigte. Auf Grund dieser unstreitigen Verfahrensweise greift vorliegend die uneingeschränkte Verkehrssicherungspflicht des Beklagten für seine Geschäftsräume gegenüber Kunden ein. Ergänzend bemerkt der Senat, dass das auf den Lichtbildern zu erkennende, auf einem (Kühl-?) Schrank am Fuß der Treppe angebrachte Schild „WC“ mit Richtungspfeil (Bl. 53 ff. d. A.) kaum erforderlich sein dürfte, wenn es sich um eine nur dem Personal vorbehaltene Toilette handelte.
dd) Die Berufung rügt mit Recht die Feststellungen des Landgerichts zu einer allenfalls geringen Mehlmenge und deren (Un-) Sichtbarkeit als fehlsam.
(1) Die Klägerin hat auf Frage des Landgerichts, ob ihr nach dem Sturz, als sie auf der Treppe auf Hilfe wartete, Mehl im Bereich der Fliesen aufgefallen sei, erklärt, nein, das habe sie nicht gesehen, das habe man ja auch nicht sehen können (Bl. 85 d. A. unten). Daraus folgt entgegen der Auffassung des Landgerichts nicht, jedenfalls nicht ohne Weiteres, dass es sich um eine allenfalls geringe Mehlmenge handelte und dass diese bei der Reinigung des gefliesten Raums – anders als beim Herabsteigen der Klägerin von der Treppe – nicht erkennbar gewesen wäre.
(2) Die Klägerin hat zudem in der Klageschrift behauptet, der Zeuge J. J., der zusammen mit dem Ehemann der Klägerin das Auto abgeholt habe, habe erkennen können, dass sowohl in dem kleinen Flur Mehl gelegen habe als auch an dem Schuh der Klägerin Mehlanhaftungen vorhanden gewesen seien (Bl. 4 d. A.). Weiterhin hat die Klägerin als Anlage K 1 eine Kopie eines Lichtbilds vorgelegt, das unmittelbar nach dem Unfall aufgenommene Mehlanhaftungen zeigen soll (Bl. 12 d. A.). Außer dem bereits in der Klageschrift benannten Zeugen J. hat die Klägerin in der Replik ihren Ehemann R. M. als Zeugen sowohl für die „Verunreinigungen mit Mehl“ (Bl. 72 d. A. Mitte) als auch die Mehlanhaftungen an ihren Schuhen benannt (Bl. 72 d. A. unten). Für das Vorhandensein von Mehlresten im gefliesten Raum hat sie überdies den Zeugen M. F. (nicht V.) benannt (Bl. 74 d. A. Mitte). Das Landgericht hat nicht festgestellt und es ist auch nicht festzustellen, dass die Klägerin auf Grund ihrer Angaben bei der Parteianhörung von diesem Sachvortrag abgerückt wäre. Dementsprechend hätten die Zeugen erstinstanzlich ebenso vernommen werden müssen wie die in der Klageerwiderung von dem Beklagten zu der Behauptung, es habe sich kein Mehl auf den Fliesen befunden, benannten Zeugen S. L., Y. L. und der zu der weiteren Behauptung, der geflieste Raum neben der Backstube sei am Schadenstag gegen 5.00 Uhr gereinigt worden, benannte Zeuge M. F. (Bl. 43 d. A.).
2. Nach dem Ergebnis der auf der Grundlage des vorterminlichen Beweisbeschlusses vom 16.01.2020 (Bl. 166 f. d. A.) erfolgten Parteianhörung und Beweisaufnahme hat sich der Senat indes weder vom Vorliegen eines gefährlichen Zustands des gefliesten Bereichs am Treppenabgang überzeugen können (nachfolgend unter a)) noch davon, dass die Klägerin überhaupt infolge von Mehl auf dem Boden gestürzt ist (b)).
a) Unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses der Beweisaufnahme vermag der Senat nach freier Überzeugung bereits die Behauptung der Klägerin, es habe sich Mehl auf den Fliesen des Flurraumes unmittelbar vor der Treppe befunden, nicht für wahr zu erachten. Nach § 286 ZPO hat das Gericht ohne Bindung an die Beweisregeln und nur seinem Gewissen unterworfen die Entscheidung zu treffen, ob es an sich mögliche Zweifel überwinden und sich von einem bestimmten Sachverhalt als wahr überzeugen kann. Jedoch sieht das Gesetz keine von allen Zweifeln freie Überzeugung vor. Das Gericht darf keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit bei der Prüfung verlangen, ob eine Behauptung wahr und erwiesen ist. Vielmehr darf und muss sich der Richter in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen (BGH NJW 2013, 790 Rn. 16 f.; 2015, 2111, 2112 Rn. 11). Nach diesem Maßstab hat die Klägerin den ihr obliegenden Beweis nicht geführt.
aa) Die Klägerin hat bei der Anhörung durch den Senat erklärt, an dem Morgen habe sie selbst kein Mehl auf der Treppe oder am Boden gesehen, es müsse dort aber Mehl gelegen haben, sonst wäre sie ja nicht ausgerutscht (Bl. 200 d. A. unten). Somit hat die Klägerin selbst trotz des vergleichsweise langen Verweilens am Unfallort bis zum Eintreffen der Zeugin L. als erster Hilfsperson und zum Abtransport im Krankenwagen gerade keine Wahrnehmungen zum Vorhandensein von Mehl am Boden gemacht. Bei dieser Sachlage stellt sich die Erklärung der Klägerin, es müsse Mehl am Boden gewesen sein, weil sie andernfalls nicht ausgerutscht wäre, als in Ermangelung objektiv gesicherter Befunde nicht überprüfbare Vermutung dar, zumal als Ursache für den Sturz bei objektiver Betrachtung auch ein Umknicken, eine Unaufmerksamkeit (Fehltritt) oder Schwindel in Betracht kommen. Auf Nachfrage ihrer Prozessbevollmächtigten hat die Klägerin, die bereits erstinstanzlich angehört worden war (Bl. 84 ff. d. A.), in der zweiten Instanz erstmals bekundet, auf den Fensterbänken habe sie Mehl gesehen (Bl. 201 d. A. oben). Auf Vorhalt der Lichtbildaufnahmen der Örtlichkeit und Nachfragen des Senats war die Klägerin jedoch nicht in der Lage, dies näher einzuordnen und zu beschreiben (Bl. 201 d. A. Mitte: „Ich weiß nicht welches Fenster.“).
bb) Der Zeuge R. M. hat bekundet, seine Ehefrau habe bei ihrem Anruf nicht gesagt, warum sie gefallen sei. Der mit ihm zur Bäckerei gefahrene Zeuge J. habe auch den Schuh mitgenommen. Er wisse noch, dass er den Schuh in den Kofferraum des Pkw gelegt habe, weil dieser so verdreckt gewesen sei. Der Zeuge J. habe das Fahrzeug der Klägerin dann mit dem Schuh im Kofferraum bei ihnen abgestellt. Der Zeuge M. habe den Schuh abends herausgenommen und samstags abends oder sonntags morgens ein Bild von der Schuhsohle und dem Schuh gefertigt. Er habe unter dem Schuh eine klebrige Mehlmasse festgestellt. Drei Tage später habe er mit Erlaubnis der Zeugin L. Bilder vom Flur und dem Gang zur Toilette gemacht. Da sehe man auch Mehl am Boden (Bl. 203 d. A.). Diese Darstellung genügt dem Senat nicht, um sich eine Überzeugung von einem gefährlichen Zustand des Bodens zu bilden.
(1) Der Zeuge M. hat auf Nachfrage der Prozessbevollmächtigten des Beklagten erklärt, in der Sturzsituation sei über die Ursache nicht gesprochen worden, und es seien auch keine Vorwürfe gemacht worden, über Mehl sei da noch nicht gesprochen worden (Bl. 203 d. A. Mitte). Da die Klägerin in einer Bäckerei beim Gang zur Toilette gestürzt ist, keine andere Person diesen Sturz beobachtet hat, die Klägerin nach eigener Darstellung etwa 15 Minuten bis zum Eintreffen der von ihr herbeitelefonierten Zeugin L. und des anschließend verständigten Zeugen L. warten musste, von beiden zunächst zur Toilette begleitet wurde (Bl. 73 d. A. unten) und sodann noch bis zum Eintreffen des Notarztes und des Zeugen M. gewartet wurde (Bl. 74 d. A. oben), hätte es nicht ferngelegen, eine Rutschgefahr auslösende Mehlansammlung auf dem Fliesenbelag bzw. überhaupt ein etwaiges Fremdverschulden für den Sturz zumindest anzusprechen. Die Auffindesituation, die vergleichsweise lange Zeitspanne bis zur medizinischen Versorgung der Klägerin und das Eintreffen einer relativ großen Personenzahl nach dem Sturz ließen erwarten, dass eine sichtbare Mehlschicht oder –menge, welche ein Ausrutschen hätte verursachen können, von den zahlreichen nacheinander eintreffenden Beteiligten auch bemerkt worden wäre.
(2) Selbst wenn davon ausgegangen wird, dass sich alle Beteiligten ausschließlich auf die Sturzfolgen, d. h. allfällige Verletzung der Klägerin, konzentriert hätten, stünde die vom Zeugen M. beschriebene Sorgfalt, mit welcher ein mit behaupteten Mehlanhaftungen versehener Schuh der Klägerin im Kofferraum ihres Fahrzeugs verstaut, nach Hause transportiert und schließlich fotografiert worden sei, in auffälligem Gegensatz zum Nichtansprechen der Unfallursache als solcher. Es leuchtet dem Senat auch nicht ein, warum der Zeuge M. – ebenso wie der Zeuge J. – das Verstauen des Schuhs im Kofferraum betont hat. Insassen eines Pkw kommen witterungs- oder geländebedingt nicht umhin, im Fahrzeug zuweilen mit verschmutztem oder durchnässtem Schuhwerk Platz zu nehmen. Dementsprechend dürfte sich ein „dreckiger“ Schuh ohne Weiteres im Fußraum auf der – nicht besetzten und ggf. sogar mit einer Fußmatte ausgestatteten – Beifahrerseite abstellen lassen.
(3) Ferner haben die Nachfragen der Prozessbevollmächtigten des Beklagten an die Klägerin (Bl. 201 d. A. Mitte) und die Zeugen aufgezeigt, dass sich niemand daran zu erinnern vermochte, Mehlstaub an der Kleidung der Gestürzten wahrgenommen zu haben. Beim Vorliegen größerer, sturzrelevanter Mehlansammlungen auf dem Boden wären indessen Anhaftungen nicht nur an der (den) Schuhsohle(n), sondern auch an der Kleidung der Gestürzten zu erwarten gewesen.
(4) Darüber hinaus hat der Zeuge M. F., der beim Beklagten als Bäckergeselle beschäftigt ist, ausgesagt, an dem besagten Morgen habe er vor dem Unfall morgens um 5.10 Uhr noch den Vorraum zur Toilette und die Treppe routinemäßig gekehrt. Er schließe es hundertprozentig aus, dass nach dem Kehrvorgang noch Mehlreste auf den Fliesen gelegen hätten (Bl. 207 d. A.). Diese Aussage ist nachvollziehbar, frei von Widersprüchen und überzeugend. Der Senat berücksichtigt bei seiner Überzeugungsbildung, dass der Zeuge beim Beklagten beschäftigt ist und zumindest ein Interesse daran gehabt haben wird, dass ihm keine Versäumnisse beim Zusammenkehren des Mehls angelastet werden. Allerdings hat der Zeuge Nachfragen plausibel beantwortet und war er erkennbar um eine wahrheitsgemäße Aussage bemüht. So hat er erklärt, dass das Kehren insgesamt zehn Minuten dauerte und er für die Sauberkeit der Backstube und der anderen Räume schon wegen der Gewerbeaufsicht „die Hand ins Feuer“ lege, und dass sie am Unfalltag, dem Martinstag (11.11.2017), früher mit dem Backen angefangen hatten. Überdies hat der Zeuge lebensnah geschildert, dass es nach dem Kehren insgesamt sauber ist, sich die Bäckerei aber nicht völlig frei von Mehlstaub halten lässt (Bl. 207 f. d. A.). Das entspricht der – nach der Lebenserfahrung plausiblen – Aussage der Zeugin S. L. die von sich aus klargestellt hat, dass in der Bäckerei eigentlich immer Mehl in der Luft ist, egal wie oft man putzt (Bl. 205 d. A. zweitletzter Abs.).
b) Abgesehen davon, dass es bereits an dem Nachweis einer – zu beseitigenden – Mehlschicht auf dem Boden fehlt, hat die Klägerin den ihr gemäß § 286 ZPO nach allgemeinen Beweisregeln obliegenden Vollbeweis der Ursächlichkeit (vgl. BGH VersR 1974, 972) für ihren Sturz nicht geführt. Denn insoweit geht es um die haftungsbegründende Kausalität, für die im Unterschied zur haftungsausfüllenden Kausalität die Beweiserleichterung des § 287 ZPO nicht gilt (BGHZ 162, 259, 263 f.; BGH NJW 2015, 2111, 2112 Rn. 10).
aa) Wie oben unter a) aa) bereits ausgeführt, hat die Klägerin zur Ursache ihres Sturzes lediglich Vermutungen angestellt. Auch die Aussage des Zeugen M., der erklärt hat, über die Ursache sei in der Sturzsituation nicht gesprochen worden, ist insoweit unergiebig (Bl. 203 d. A.). Entsprechendes gilt für die Aussage des Zeugen J., der nach eigener Darstellung das Haus nicht betreten, sondern draußen am Auto gewartet und von Gesprächen über die Sturzursache „jedenfalls nichts mitbekommen“ hatte (Bl. 204 d. A.).
bb) Der – erst geraume Zeit nach dem Sturz herbeigekommene – Beklagte hat in der Klageerwiderung in wörtlicher Rede vortragen lassen, die Klägerin habe, als die Zeugin S. L. und der Zeuge Y. L. sie nach dem Sturz zur Toilette begleitet hätten, erklärt: „Ich bin so schnell gegangen.“ (Bl. 43 d. A.). Die Zeugin S. L. hat diese Erklärung zwar nicht wörtlich wiedergegeben, aber auf Frage des Senats sinngemäß – und unwiderlegt – erklärt, zum Hergang habe ihr die Klägerin nur gesagt, sie habe schnell zur Toilette müssen und sei gefallen; von Mehl sei da keine Rede gewesen (Bl. 205 d. A. zweitletzter Abs.). Der anschließend herbeigerufene Zeuge Y. L. hat bei seiner Vernehmung erklärt, über Sturzursachen sei nicht gesprochen worden, Mehl sei kein Thema gewesen, und ihm selbst sei auch kein Mehl auf dem Boden aufgefallen (Bl. 207 d. A. oben). Das steht der Angabe der Zeugin S. L. nicht entgegen, die vor dem Eintreffen des Zeugen Y. L. mit der Klägerin allein war und davon gesprochen hat, die Klägerin habe ihr („mir“) dies gesagt. Aber auch wenn über die Ursache nicht gesprochen worden wäre, schlösse dies eine Ursache aus der Sphäre der Klägerin nicht aus; denn nach der Lebenserfahrung gibt es keine Vermutung dafür, dass ein Sturz eines Kunden stets auf Fremdverschulden (des Geschäftsinhabers) zurückzuführen wäre.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO. Die Revision ist nicht zuzulassen. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung und weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert eine Entscheidung des Revisionsgerichts (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2 ZPO).