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Verkehrssicherungspflicht bei Stromkabelverlegung über öffentliche Straße

OLG Frankfurt – Az.: 22 U 124/15 – Urteil vom 19.10.2017

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 26. Juni 2015 wird auf seine Kosten zurückgewiesen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Das angefochtene Urteil wird für vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung erklärt. Der Kläger kann die Zwangsvollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung in Hohe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils beizutreibenden Betrags leisten.

Der Gegenstandswert für die Berufungsinstanz wird auf 60.019,28 € festgesetzt.

Gründe

I.

Der Kläger fuhr am XX.XX.2012 mit seinem Rennrad durch die Straße1 in Stadt1.

Dabei stürzte er über ein auf der Straße verlegtes Stromkabel, das mit Holzbohlen abgesichert war. Die Konstruktion bestand aus einer Verbundplatte, auf der das Kabel verlegt war, sowie auf beiden Seiten des Kabels aus abgeschrägten Kanthölzern. Diese waren an einigen Stellen durch Überfahren von Autos teilweise verschoben, teilweise gebrochen. Verantwortlich dafür waren die Beklagten, die für ihr Bauvorhaben den Strom von einem Verteilerkasten auf der anderen Straßenseite benötigten. Eine Sondernutzungserlaubnis oder eine Ausnahme von § 32 StVO hatten die Beklagten nicht eingeholt.

Der Unfallort liegt in einer Sackgasse, zum damaligen Zeitpunkt ein Neubaugebiet, das verkehrsrechtlich als verkehrsberuhigter Bereich (Zeichen 325.1 der Anlage 3 zur StVO) ausgewiesen war.

Der Kläger verletzte sich erheblich an der Schulter und verlangt Schmerzensgeld, Haushaltsführungsschaden für zwei Haushalte, Haushaltsführungsrente und Erwerbsschaden, weil er eine Stelle erst zwei Monate später antreten konnte.

Das Landgericht hat durch das angefochtene Urteil, auf das hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands erster Instanz und der dort gestellten Anträge Bezug genommen wird, die Klage abgewiesen. Es hat zur Begründung ausgeführt: Eine Verkehrssicherungspflichtverletzung liege nicht vor, weil das Kabel und die Bohlen deutlich sichtbar gewesen seien. Der Kläger sei entweder zu schnell oder unaufmerksam gewesen. Die Unregelmäßigkeiten der Konstruktion seien bei der gebotenen vorsichtigen Annäherung zu erkennen gewesen.

Hiergegen richtet sich die form- und fristgerecht eingelegte und begründete Berufung.

Der Kläger greift das Urteil mit der Begründung an, das Landgericht hätte über die Frage der Verkehrssicherungspflichtverletzung Beweis erheben müssen. Es habe außerdem die Grundsätze einer Verkehrssicherungspflicht verkannt. Bei einer abgerundeten Kabelbrücke mit gelb-schwarz gestreiften Flächen wäre der Kläger zum einen aufmerksam gemacht worden und zum anderen hätte er nicht in der Konstruktion hängen bleiben können. Die von ihm gefahrene Geschwindigkeit sei auch im Hinblick auf die Verkehrsberuhigung angemessen gewesen.

Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil abzuändern und

1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn zu zahlen:

a. ein angemessenes Schmerzensgeld von mindestens 15.000,- €,

b. Haushaltsführungsschaden in Höhe von 8.820,06 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus einem Betrag von 2.567,86 € seit dem 8.12.2012 und im Übrigen seit dem 5.3.2015

c. eine Haushaltsführungsschadensersatzrente in Höhe von 584,55 € kalendervierteljährlich im Voraus, jeweils zum 1.1., 1.4., 1.7. und 1.10. eines Jahres, beginnend mit dem 1.1.15, bis an das Lebensende des Klägers

d. Erwerbsschaden in Höhe von 22.100,77 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 5.3.2015

e. Vermehrte Bedürfnisse in Höhe von 2.779,60 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 5.3.2015

f. Außergerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 899,40 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 5.3.2015.

2. festzustellen, dass die Beklagten gesamtschuldnerisch verpflichtet sind, für alle darüber hinausgehenden immateriellen und materiellen Schäden aus dem Unfallereignis vom XX.XX.2012 aufzukommen, sofern sie nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.

Die Beklagten beantragen, die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigen das angefochtene Urteil und führen aus, dass die Anlage deutlich sichtbar gewesen sei und der Kläger angesichts des Neubaugebiets ohnehin mit Baumaßnahmen und Kabeln etc. hätte rechnen müssen. Für private Bauherren seien keine besonderen Sicherungsmaßnahmen vorgeschrieben.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands zweiter Instanz wird auf die Schriftsätze der Parteien, die dazu überreichten Unterlagen und die Erörterungen in den mündlichen Verhandlungen vor dem Senat Bezug genommen.

Der Senat hat die Parteien angehört und Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen A und B sowie durch mündliches Gutachten des Sachverständigen C. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll der Verhandlung vom 15.8.2017 Bezug genommen.

II.

Verkehrssicherungspflicht bei Stromkabelverlegung über öffentliche Straße
(Symbolfoto: Von gibleho /Shutterstock.com)

Die zulässige Berufung ist unbegründet.

Der Senat geht entgegen der Auffassung des Landgerichts grundsätzlich davon aus, dass die Beklagten eine Verkehrssicherungspflicht getroffen hat, die sie verletzt haben (§ 823 BGB). Ihre Haftung tritt jedoch gegenüber dem erheblichen Mitverschulden des Klägers gemäß § 254 BGB in vollem Umfang zurück.

Die Beklagten waren als Bauherren verpflichtet, für die Sicherheit des Straßenverkehrs Sorge zu tragen, weil sie durch die Überführung des Kabels eine besondere und gefährliche Situation geschaffen haben. Auch wenn es sich um eine Spielstraße/Sackgasse gehandelt hat, war die Straße doch dem öffentlichen Verkehr gewidmet und konnte von allen Fahrzeugen befahren werden. Deshalb stellt die Benutzung der Straße für die Stromversorgung eine Störung dar, die nicht dem allgemeinen Verkehr dient und auch nicht dem Widmungszweck unterliegt. Die Beklagten hätten deshalb eine Sondernutzungsgenehmigung für die Stromführung bei der Gemeinde einholen müssen.

Für die Überführung von Kabeln über Straßen durch Privatpersonen gibt es keine technischen Vorgaben. Ebenfalls nicht einschlägig ist die DIN 14820 über die Absicherung von Schlauchbrücken. Allerdings finden sich im Internet zahlreiche Angebote für Kabelüberbrückungen, die jeweils an beiden Seiten abgeflacht sind und deutliche Signalfarben aufweisen.

Die Verkehrssicherungspflicht verlangt nicht, insoweit ist das angefochtene Urteil zutreffend, dass jegliche Gefährdung ausgeschlossen ist und vor offensichtlichen Gefahrensituationen gewarnt werden muss. Dass die Situation vorliegend allerdings so offensichtlich war, dass jeder Verkehrsteilnehmer sie erkennen und sich darauf einstellen musste, kann nicht bejaht werden. Die Holzkonstruktion hob sich sicherlich von dem hellen Pflasterbelag ab, allerdings kann festgestellt werden, dass quer zur Straße zuvor Sickerkästen über die gesamte Straßenbreite angebracht waren, die eine ähnliche Farbe aufwiesen. Deshalb bestand zumindest auf die Entfernung eine Verwechselungsgefahr, wie auf den vorgelegten und vom Landgericht in Bezug genommenen Fotos erkennbar ist.

Außerdem ist gerade im Straßenverkehr eine Vielzahl von Verhaltenspflichten zu beachten, weshalb auf Straßen auch mit Nachlässigkeiten oder dem Übersehen von Gefahrenstellen durch Verkehrsteilnehmer gerechnet werden muss. Andernfalls würde es ohnehin nicht zu Verkehrsunfällen kommen. Achtet beispielsweise jemand auf dem Gehweg spielende Kinder, kann er sich nicht gleichzeitig mit derselben Gründlichkeit auf den Fahrbahnbelag konzentrieren. Gleiches gilt für Gegenverkehr, besondere Verkehrssituationen etc. Es sind viele Fallgestaltungen denkbar, in denen die Konzentration auf das Wesentliche dazu führt, Gefahrenstellen zu übersehen.

Die Pflicht des für die Gefahrenstelle Verantwortlichen besteht gerade darin, den Verkehr in der Form zu sichern, dass Schäden, die auf Unachtsamkeit, mithin Fahrlässigkeit beruhen, verhindert werden. Sollte das landgerichtliche Urteil so zu verstehen sein, dass eine Verkehrssicherungsverletzung bereits bei bloßer Fahrlässigkeit eines Verkehrsteilnehmers ausscheidet, verkennt dies die Rechtslage.

Zusammenfassend ist deshalb festzustellen, dass die Beklagten ihre Verkehrssicherungspflicht verletzt haben und deshalb dem Grunde nach dem Kläger gegenüber haftbar sind.

Zwar hat niemand wahrgenommen, ob der Kläger tatsächlich über die Bohlenkonstruktion gestürzt ist und wie genau der Sturz sich vollzogen hat. Allerdings gilt der Beweis des ersten Anscheins, wenn gerade der Schaden eingetreten ist, den die Verkehrssicherungspflicht verhindern soll (Palandt-Sprau § 823 Rz. 54). Dies kann vorliegend bejaht werden, weil der Kläger in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Überfahren der Kabelbrücke zum Sturz gekommen ist und eine andere Ursache ausgeschlossen werden kann. Selbst wenn man mit dem Sachverständigen annimmt, dass das bloße Überfahren nicht zu einem Sturz geführt hat, sondern Ursache eine übermäßige Schreckbremsung gewesen ist, ändert dies nichts, weil auch in diesem Fall Ursache die übersehene Holzkonstruktion wäre.

Allerdings steht nach der Beweisaufnahme fest, dass der Kläger nicht wegen Beschädigungen oder Verschiebungen der Kabelbrücke zum Sturz gekommen ist. Der Sachverständige hat überzeugend dargelegt, dass sich die Beschädigungen und Kanten an Stellen befinden, die vom Kläger nicht befahren worden sind. Der Kläger hat selbst angegeben, eher auf der rechten Seite der Fahrbahn gefahren zu sein. Dort waren die Hölzer vollständig intakt.

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Dem Kläger ist allerdings nach der Beweisaufnahme ein so erhebliches Mitverschulden vorzuwerfen, dass ein Ersatzanspruch in vollem Umfang ausscheidet (§ 254 BGB).

Ein Mitverschulden ergibt sich bereits daraus, dass der Kläger nicht mit der gebotenen Sorgfalt gefahren ist, die jedem Verkehrsteilnehmer im Straßenverkehr auferlegt ist. Jeder Verkehrsteilnehmer muss sich im Rahmen der Sorgfalt in eigenen Angelegenheiten so verhalten, dass er sich nicht selbst schädigt. Es gilt außerdem das Sichtfahrgebot des § 3 Abs. 1 S. 4 StVO, wonach jeder innerhalb des sichtbaren Bereichs anhalten können muss. Gerade Rennradfahrer müssen angesichts der dünnen Reifen ganz besonders darauf achten, dass sie nicht in kleineren Vertiefungen, Gullis etc., hängen bleiben. Deshalb müssen sie ihr gesamtes Augenmerk auf den Straßenbelag richten, so dass bei gehöriger Aufmerksamkeit der Kläger die Hölzer hätte erkennen und vorher anhalten müssen. Bereits solches Mitverschulden wird in der Rechtsprechung unterschiedlich bewertet, mindestens aber doch mit 50% (vgl. OLG Hamm 13.9.16 – 9 U 158/15 -).

Indes lässt auch ein solches Verhalten nicht stets – unabhängig von den weiteren Umständen des Einzelfalls – den Verursachungsbeitrag des die Gefahr durch eine Pflichtverletzung begründenden Schädigers zurücktreten. Andernfalls führte dies zu dem nicht hinnehmbaren Ergebnis, dass bei einer besonders deutlichen Gefahrenlage, der der Geschädigte nicht ausweichen kann, und einer in solchen Fällen nicht selten besonders schwer wiegenden Verletzung z.B. der Räum- und Streupflicht die Pflichtverletzung folgenlos bliebe. Die haftungsrechtliche Gesamtverantwortung für das Unfallereignis würde auf den Geschädigten verlagert, obwohl der Verkehrssicherungspflichtige eine maßgebliche Ursache für das Schadensereignis gesetzt hat (BGH 20.6.13 III ZR 326/12).

Bei extrem ungeschicktem und unvorsichtigem Verhalten (OLG München 29.7.16 – 8 U 2169/16 -) oder bei Erkennbarkeit und einfacher Vermeidbarkeit der Gefahr (LG Görlitz 27.5.16 – 2 S 159/15 -) kann die Haftung des Verkehrssicherungspflichtigen aber in vollem Umfang zurücktreten. Solche besonderen Umstände sind vorliegend gegeben.

Zum einen war die Kabelbrücke für den Kläger schon über eine längere Strecke erkennbar, worauf das Landgericht zutreffend hingewiesen hat. Der Kläger muss also einen gewissen Zeitraum nicht ausreichend auf die Fahrbahn geachtet haben. Dies war nicht nur generell gefährlich, hinzu kommt vorliegend, dass es in einem Neubaugebiet regelmäßig erhebliche Straßenverschmutzungen durch Baustoffe oder LKW gibt, die gerade für Radfahrer zu erheblichen Gefahren durch Wegrutschen oder ähnliches führen können. Das Verhalten des Klägers war mithin schon aus diesem Grund grob fahrlässig.

Zum anderen hat der Kläger die Vorgaben der Verkehrsberuhigung nicht eingehalten.

Die Straßenverkehrsordnung nennt einige Punkte, die es innerhalb des verkehrsberuhigten Bereiches zu beachten gilt:

1. Der Fahrzeugverkehr muss Schrittgeschwindigkeit einhalten.

2. Fußgänger dürfen die Straße in ihrer ganzen Breite benutzen; Kinderspiele sind überall erlaubt.

3. Die Fahrzeugführer dürfen die Fußgänger weder gefährden noch behindern; wenn nötig, müssen sie warten.

Die Verkehrsfläche in einem verkehrsberuhigten Bereich steht allen Verkehrsteilnehmern zur Verfügung („Mischverkehr“). Es gibt hier keine Trennung zwischen Fahrbahn, Seitenstreifen und Gehwegen. Außerdem sind hier Kinderspiele überall erlaubt. Auto- und Radfahrer müssen nicht nur jederzeit rechtzeitig bremsen können, sie haben im Zweifel sogar anzuhalten und zu warten. Gegebenenfalls muss ein Fahrzeug so lange stehen bleiben, bis auch in ihr Spiel vertiefte Kinder es wahrgenommen haben und die Fahrt freimachen.

Daraus folgt, dass der Verkehrsteilnehmer nicht nur den jederzeitigen Vorrang von spielenden Kindern berücksichtigen, sondern auch damit rechnen muss, dass sich Spielzeug auf der Straße befindet, das entweder zurückgelassen wurde oder für Straßenspiele dient. Dazu können Seile, Stangen, Roller, Bälle, Schläger und vieles mehr gehören.

Der Kläger musste deshalb von vornherein damit rechnen, dass die Straße nicht ohne weiteres frei befahrbar war, sondern musste sein Augenmerk gerade darauf richten, ob sich Gegenstände auf der Fahrbahn befanden. Er durfte gerade nicht darauf vertrauen, dass die vor ihm liegende Straße im Wesentlichen frei war und er deshalb auch ab und zu sich hinsichtlich der von ihm zu fahrenden Richtung orientieren oder auf Straßenschilder schauen konnte. Dass dies auch notwendig war und ist, steht dabei außer Frage. Die Warnfunktion des verkehrsberuhigten Bereichs geht aber dahin, dass vorrangig die Straße selbst im Fokus stehen muss und anderweitige Orientierungen erst dann möglich sind, wenn von der Fortbewegung in der Spielstraße selbst weder eine Eigen- noch eine Fremdgefährdung ausgeht. Insofern sind die Sorgfaltspflichten des Verkehrsteilnehmers deutlich höher, als dies bei einer nicht verkehrsberuhigten Straße der Fall ist.

Der Kläger hat darüber hinaus nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme auch die erforderliche Schrittgeschwindigkeit nicht eingehalten, die auch für Radfahrer gilt.

Die Zeugen B und A haben in Einzelheiten glaubhaft geschildert, wie sie den Kläger auf dem Boden liegend gefunden haben. Sie konnten auch den Ort eindeutig eingrenzen, der sich zwischen 5-7 und 10 Metern von der Kabelbrücke entfernt befindet. Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger sich nach dem Sturz weiter fortbewegt hat, bestehen nicht. Der Zeuge A hat den Kläger auch beim Herankommen wahrgenommen und geschildert, dass er das Gefühl hatte, dieser sei zu schnell. Er konnte auch nicht bestätigen, dass der Kläger wegen eines vorfahrtberechtigten von rechts kommenden Fahrzeugs angehalten hat.

Nach den Berechnungen des Sachverständigen ergeben sich bei den Entfernungsangaben der Zeugen Ausgangsgeschwindigkeiten von 20-35 km/h. Selbst bei Berücksichtigung weiterer Besonderheiten kommt der Sachverständige bereits bei 5 Metern Entfernung auf eine Bandbreite von 15-30 km/h.

Der Senat hat keine Zweifel an der Richtigkeit der Berechnungen des Sachverständigen. Dieser hat seinen Rechenvorgang nachvollziehbar und überzeugend begründet. Die dagegen vorgebrachten Einwendungen des Klägers greifen nicht durch. Es ist zwar richtig, dass es vorliegend nicht um den Fall geht, dass eine Person über ein Hindernis fliegt, sondern es durchaus sein kann, dass das Fahrrad noch weitergerollt ist und der Kläger erst dann zu Fall kam. Diese Unsicherheiten hat der Sachverständige allerdings dadurch berücksichtigt, dass er eine große Bandbreite möglicher Geschwindigkeiten zugrunde gelegt hat.

Es kann im Ergebnis aber dahinstehen, ob der Kläger bereits bei Überfahren der Brücke gestürzt und dann auf dem Boden weitergerollt ist, oder ob das Fahrrad zunächst weitergefahren und der Kläger anschließend gestürzt ist. Der Kläger konnte jedenfalls sein Fahrrad nicht ohne weiteres sofort zum Stillstand bringen und ist ersichtlich nicht im Bereich der Brücke oder unmittelbar danach zu Fall gekommen, was bei langsamer Fahrt zu erwarten gewesen wäre.

Auch nach eigenen Erfahrungen des Senats dürfte angesichts der erheblichen Entfernung zwischen Endliegeort und Kabelbrücke der Kläger eine Geschwindigkeit von mindestens 15 km/h gehabt haben.

Dies übersteigt die im verkehrsberuhigten Bereich zulässige Geschwindigkeit erheblich.

Schrittgeschwindigkeit wird allerdings unterschiedlich definiert. Nach normalem Sprachgebrauch versteht man unter Schrittgeschwindigkeit die normale Fußgängergeschwindigkeit; dies wären etwa 4 bis 7 km/h. In diesem Sinn haben z. B. das OLG Köln VRS 68, 382 und das OLG Karlsruhe (Beschluss vom 14.04.2004 – 1 Ss 159/03) entschieden.

Schon das OLG Hamm (VRS 6, 222) fand jedoch den Begriff nicht eindeutig und zog die Grenze bei 10 km/h, was auch heute noch vielfach in der Praxis zu Grunde gelegt wird. Auch wird in einer Entscheidung des OLG Hamm NZV 1992, 483 ff. (484) – Urt. v. 30.06.1992 – 9 U 220/89 – festgestellt: „Im Übrigen wird von Fahrzeugführern der Geschwindigkeitsbereich von 10 bis 15 km/h subjektiv noch als „Schrittgeschwindigkeit“ empfunden.“ Geißler (DAR 1999, 345 ff.) meint zur Höhe der im verkehrsberuhigten Bereich zulässigen Geschwindigkeit unter Hinweis auf OLG Hamm NZV 1992, 483 ff. (484):

„Nach wohl überwiegender Meinung ist dies eine Geschwindigkeit von deutlich unter 20 km/h …“ Auch das Amtsgericht Leipzig (Urteil vom 16.02.2005 – 215 OWi 500 Js 83213/04) hat entschieden, dass eine Geschwindigkeit von 15 km/h noch als Schrittgeschwindigkeit zu gelten habe.

Hingegen hat das OLG Brandenburg (Beschluss vom 23.05.2005 – 1 Ss (Owi) 86B/05) wiederum 7 km/h als noch im Bereich der Schrittgeschwindigkeit liegend angesehen. In der EU-Verordnung (EG) Nr. 1810/2004 wird für Rollstühle eine Geschwindigkeit von 10 km/h als zügige Schrittgeschwindigkeit bezeichnet (vgl. EuGH 26.5.16 C 198/15).

Allerdings macht Hentschel (Straßenverkehrsrecht Rd.-Nr.181 zu § 42 StVO) geltend, dass so niedrige Werte schon nicht von den üblichen Tachometern angezeigt werden. Deshalb legen Automobilklubs den Autofahrern nahe, ihr Fahrzeug im ersten Gang ohne Gas rollen zu lassen. Sobald sich die Tachonadel bewegt, fährt man in der verkehrsberuhigten Zone schon zu schnell.

Der Senat geht nach Beratung und Prüfung aller dargelegten Einschätzungen davon aus, dass die Definition der Schrittgeschwindigkeit im Sinne der StVO sich auf einen Wert von maximal 10 km/h beläuft, auch wenn dies mittels Tacho nicht zuverlässig messbar ist. Ein Wert von 4-7 km/h dürfte kaum einzuhalten sein, zumal Radfahrer, die echte Fußgängergeschwindigkeit fahren, unsicher werden und zu schwanken beginnen.

Aber auch bei dieser Interpretation des Begriffs „Schrittgeschwindigkeit“ war der Kläger nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme erheblich zu schnell. 15 km/h führen bereits dazu, dass man während der Reaktionszeit von 0,8 Sekunden bereits mehr als 3 Meter zurücklegt, was angesichts der Besonderheiten einer Spielstraße als erheblich zu hoch angesehen werden muss. Der Senat geht auch davon aus, dass der Kläger bei Einhaltung der Schrittgeschwindigkeit sein Fahrrad noch kontrolliert zum Stehen gebracht und damit die erheblichen Verletzungen vermieden hätte.

Abschließend ist deshalb festzustellen, dass der Kläger die ihm angesichts der Gebote des verkehrsberuhigten Bereichs obliegenden Verhaltenspflichten grob missachtet hat. Bei gehöriger Einhaltung der Verkehrsregeln hätte der Unfall deshalb vermieden werden können. Der Kläger hätte bei seiner Fahrweise auch genauso über ein auf der Straße gespanntes Seil oder einen Besenstiel stürzen können.

Deshalb tritt in diesem Einzelfall nach den Regeln der Verursachungsabwägung des § 254 BGB der Verstoß gegen die Verkehrssicherungspflicht dermaßen in den Hintergrund, dass ein Verursachungsbeitrag den Beklagten nicht mehr zugerechnet werden kann.

Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 97, 708 Nr. 10, 711 ZPO. Eine Zulassung der Revision ist nicht geboten, da der Senat nicht von höchstrichterlicher Rechtsprechung abweicht und die Frage der Definition der Richtgeschwindigkeit angesichts der vorliegenden Einzelfallentscheidung nicht von grundsätzlicher Bedeutung ist.

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