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Verkehrssicherungspflicht – bei Unebenheiten im Verkehrsflächenbelag

OLG Hamm

Az: 9 U 43/04

Urteil vom 25.05.2004

Vorinstanz: Landgericht Dortmund, Az.: 8 O 241/03


Die Leistungsanträge werden dem Grunde nach zu 2/3 für gerechtfertigt erklärt.

Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche weiteren Schäden aus dem Unfall vom 04. November 2002 auf dem Marktplatz an der S-Straße in E zu 2/3 zu ersetzen, soweit nicht hinsichtlich materieller Ansprüche Forderungsübergang auf Dritte eingetreten ist oder eintritt.

Die weitergehende Klage bleibt abgewiesen.

Wegen der Höhe der der Klägerin zustehenden Ansprüche wird der Rechtsstreit an das Landgericht zurückverwiesen; diesem wird die Entscheidung über die Verteilung über die Kosten des Berufungsverfahrens überlassen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

I.

Am 4. November 2002 gegen 15.18 Uhr blieb die – damals 75 Jahre alte – Klägerin bei dem Versuch, den Marktplatz in E zu überqueren, mit einem Fuß an einer mindestens 1,7 cm hohen Kante der dort angelegten Entwässerungsrinne hängen und kam zu Fall. Dabei zog sie sich mehrfache Frakturen des rechten Oberarmes zu.

Der erst vor kurzem neu gestaltete Marktplatz ist überwiegend mit grauen quadratischen Platten belegt, die an einigen Stellen durch gleichfalls quadratische beigefarbige Platten sowie durch schmalere grau-schwarze Platten durchzogen werden. In dem Plattenbereich sind in Längs- und Querrichtung des Marktplatzes je eine Entwässerungsrinne derart angelegt, dass eine graufarbige Plattenreihe tiefergelegt ist und die angrenzenden Plattenreihen scharfkantige Überstände aufweisen. Während die an die Entwässerungsrinnen angrenzenden „äußeren“ (d.h. zum Rand des Marktplatzes hin gelegenen) Platten dieselbe graue Farbe aufweisen, bestehen die angrenzenden „inneren“ Platten aus schmalerem grau-schwarzem Plattenmaterial.

Die Klägerin wirft der Beklagten wegen der scharfkantigen Gestaltung der Entwässerungsrinnen eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht vor und begehrt mit ihrer Klage Schmerzensgeld und materiellen Schadenersatz sowie die Feststellung einer Haftung der Beklagten für sämtliche weiteren Schäden aus dem Unfall.

Die Beklagte tritt diesem Begehren entgegen und stellt eine Verkehrssicherungspflichtverletzung in Abrede. Ferner lastet sie der Klägerin ein erhebliches Eigenverschulden an, bestreitet den in Rechnung gestellten Haushaltsführungsschaden und hält das begehrte Schmerzensgeld für übersetzt.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Es hat die bauliche Gestaltung des Marktplatzes als beherrschbar für Fußgänger angesehen und eine Verkehrssicherungspflichtverletzung der Beklagten verneint.

Mit der hiergegen gerichteten Berufung verfolgt die Klägerin ihre bisherigen Klageanträge in vollem Umfang weiter, wobei sie die vom Landgericht zugrunde gelegten Feststellungen angreift und eine Verkennung der an die Verkehrssicherungspflicht zu stellenden Anforderungen beanstandet.

II.

Die zulässige Berufung ist zum überwiegenden Teil begründet.

Die Beklagte haftet der Klägerin für deren Sturz gemäß §§ 839, 253 Abs. 2 BGB LV.m. §§ 9, 9a StrWG NW, Art 34 GG dem Grunde nach mit einem Verantwortungsanteil von 2/3.

1.

Die Beklagte hat den Sturz der Klägerin durch eine Verletzung der ihr obliegenden Verkehrssicherungspflicht verschuldet.

a)
Der an der UnfallsteIle vorhandene scharfkantige Höhenunterschied zwischen der dort verlaufenden Entwässerungsrinne und der angrenzenden grau-schwarzen Plattenreihe stellt eine objektiv verkehrswidrige und damit sicherungsbedürftige („abhilfebedürftige“) Gefahrenquelle dar.

aa)
Nach gefestigter Rechtsprechung haben die für die Sicherheit der in ihren Verantwortungsbereich fallenden Verkehrsflächen zuständigen Gebietskörperschaften tunlichst darauf hinzuwirken, dass die Verkehrsteilnehmer in diesen Bereichen nicht zu Schaden kommen. Dabei muss der Sicherungspflichtige allerdings nicht für alle denkbaren, auch entfernten, Möglichkeiten eines Schadeneintritts Vorkehrungen treffen, da eine Sicherung, die jeden Unfall ausschließt, praktisch nicht erreichbar ist. Vielmehr sind Vorsorgemaßnahmen nur dann geboten, wenn sich für ein sachkundiges Urteil die naheliegende Möglichkeit einer Rechtsgutverletzung anderer ergibt (vgl. Senatsurteil v. 19.07.1996 9 U 108/96, NZV 1997,43 m.w.N.). Dies ist dann zu bejahen, wenn eine Gefahrenquelle trotz Anwendung der von den Verkehrsteilnehmern zu erwartenden Eigensorgfalt nicht rechtzeitig erkennbar ist oder diese sich auf die Gefahrenlage nicht rechtzeitig einstellen können (vgl. BGH VersR 1979, 1055). Dabei wird die Grenze zwischen abhilfebedürftigen Gefahren und von den Benutzern hinzunehmenden Erschwernissen ganz maßgeblich durch die sich im Rahmen des Vernünftigen haltenden Sicherheitserwartungen des Verkehrs bestimmt, die sich wesentlich an dem äußeren Erscheinungsbild der Verkehrsfläche und seiner Verkehrsbedeutung orientieren.

bb)
Legt man diesen Maßstab auf den Streitfall an, war die unstreitig mindestens 1,7 cm hohe Kante der Entwässerungsrinne für die sich dort bewegenden Fußgänger bei Anwendung der von ihnen zu erwartenden Eigensorgfalt nicht ohne weiteres beherrschbar und ist mithin als abhilfebedürftige Gefahrenquelle zu bewerten.

Der neu hergestellte Plattenbelag des Marktplatzes stellte sich nach seinem in den vorgelegten Lichtbildern dokumentierten Gesamterscheinungsbild als modernes und von Ausbesserungsstellen freies Pflaster dar, das den Eindruck einer Gehfläche ohne Stolperstellen vermittelte. Dieser Eindruck wurde durch die Funktion des Unfallbereiches als Marktplatz und – außerhalb des Marktbetriebes – als reiner Gehbereich noch verstärkt, in dem ein Fußgänger auch bei „normaler“ Aufmerksamkeit und Vorsicht nicht mit Stolperstellen zu rechnen brauchte, zumindest aber eine auffällige Warnung vor etwaigen Gefahrenquellen dieser Art erwarten durfte.

Ein derartiges auffälliges Warnzeichen war nicht vorhanden. Es kann entgegen der Ansicht des Landgerichts auch nicht darin gesehen werden, dass sich an die Entwässerungsrinne in Gehrichtung der Klägerin eine von der Rinne farblich abweichende – grau-schwarze – Plattenreihe anschließt. Diesem farblichen Kontrast kommt schon deshalb kein Warneffekt im Hinblick auf eine Kante zu, weil die auffälligen dunklen Platten überwiegend in gleicher Höhe wie die angrenzenden Plattenreihen angelegt sind und nur an einigen Stellen – je einmal in Längs- und Querrichtung des Platzes – an eine tiefergelegte Entwässerungsrinne angrenzen. In Anbetracht dieser uneinheitlichen Gestaltung kann den Farbunterschieden kein Aufmerksamkeitswert als Warnsignal für etwaige Höhendifferenzen beigemessen werden. Soweit das Landgericht eine „gute“ Erkennbarkeit der Kanten der Entwässerungsrinnen aus deren Lage „in einem Rechteck um den Marktplatz herum“ hergeleitet hat, ist es von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen. Die Klägerin hat in der Berufungsinstanz unwidersprochen vorgetragen und bei ihrer Anhörung in dem Berufungstermin gleichfalls ohne Widerrede der Beklagten erklärt, dass die Entwässerungsrinne gerade nicht um den Marktplatz herumgeführt, sondern lediglich je eine Rinne in Längs- und Querrichtung des Platzes angelegt worden ist. Damit fehlt es an einer gleichmäßigen geometrischen Anordnung der Rinnen, die ihre Erkennbarkeit möglicherweise erleichtert und eine Warnung vor den Rinnenkanten bewirkt hätte.

Schließlich scheitert die Abhilfebedürftigkeit auch nicht daran, dass die Höhe der zu dem Sturz der Klägerin führenden Kante nicht mehr als 2 cm betragen hat. Zwar hat der Senat in seiner Entscheidung vom 18.07.1986 – 9 U 328/85 (NJW-RR 1987,412 <413» diesen Differenzbetrag als Grenzwert für hinzunehmende scharfkantige Niveauunterschiede im Bereich von Gehwegen, auf denen die Fußgänger in vielfältiger Weise abgelenkt werden können, angesehen. Dieser Betrag, der in der Verwaltungspraxis vielfach sinnvoll als Richtwert herangezogen wird, darf jedoch nicht absolut und schematisch angewandt werden, sondern ist stets nach der jeweiligen vernünftigen Erwartungshaltung der Verkehrsteilnehmer in der konkreten Örtlichkeit zu bestimmen. Dabei stellt das Maß der Ablenkung der Fußgänger nur einen der wesentlichen Bewertungsfaktoren dar. Von gleichem Gewicht ist der Gesamteindruck, den eine Verkehrsfläche dem Gehverkehr bietet und aus dem dieser seine Erwartungshaltung vernünftigerweise zu einem wesentlichen Teil herleitet. Für den Streitfall bedeutet dies, dass das gute Gesamterscheinungsbild des neu hergerichteten Marktplatzes mit den nur an einzelnen Stellen – und nicht in einem überschaubaren geometrischen Gebilde – angelegten Entwässerungsrinnen eine erhöhte Erwartungshaltung im Hinblick auf ein gefahrloses Betreten begründet hat. Da der Marktplatz entgegen dieser Erwartungshaltung mit den Rinnenkanten nicht ohne weiteres erkennbare Stolperstellen aufweist, stellt die zu dem Sturz führende Aufkantung der Entwässerungsrinne geradezu eine „Falle“ und damit eine sicherungsbedürftige Gefahrenquelle im Sinne des Verkehrssicherungsrechts dar, auch wenn ihre Kantenhöhe nur 1,7 cm beträgt.

b)

Indem die Beklagte diese Gefahrenquellen weder verhindert noch vor ihnen hinreichend deutlich gewarnt hat, ist sie der ihr obliegenden Verkehrssicherungspflicht nicht nachgekommen. Diese Pflichtverletzung war auch schuldhaft, da die Beklagte die erhöhte Gefährlichkeit der Abkantungen vor Inbetriebnahme der neuen Pflasterung hätte erkennen können und müssen. Weniger gefährliche Gestaltungen wären auch ohne weiteres möglich gewesen, etwa durch Abdeckung der Entwässerungsrinne oder – zumindest – durch Vermeidung scharfkantiger Rinnenränder.
c)
Der schuldhafte Sicherungspflichtverstoß der Beklagten war für den Sturz der Klägerin auch ursächlich. Dass diese an der von ihr angegebenen Stelle tatsächlich infolge der Rinnenkante einen Sturz erlitten hat, ist von der Beklagten in der Berufungsinstanz nicht mehr bestritten worden. Der Senat wäre von dieser Tatsache im Übrigen in jedem Fall aufgrund der glaubhaften persönlichen Erklärung der Klägerin vor dem Senat als eines nach § 286 ZPO zu würdigenden Teiles des Inhalts der Verhandlung überzeugt (§ 286 ZPO, vgl. BGH MDR 1997, 546).

2.

Die Klägerin muss sich jedoch ein Eigenverschulden an ihrem Sturz nach § 254 Abs. 1 BGB anspruchsmindernd zurechnen lassen. Der Unfall hat sich bei Tageslicht ereignet und hätte von der Klägerin vermieden werden können, wenn sie zur Wahrung ihrer eigenen Sicherheitsbelange genau auf den vor ihr befindlichen Plattenbelag geblickt und auf die vor der Kante vorhandene geringe Vertiefung der Entwässerungsrinne geachtet hätte.

Bei der Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge bewertet der Senat den Anteil der Beklagten doppelt so hoch wie den der Klägerin. Er trägt damit insbesondere dem Umstand Rechnung, dass der Vorwurf gegen die Beklagte nicht an ein Unterlassen in Form des Versäumnisses gebotener Sicherungsvorkehrungen gegen eine von dritter Seite verursachte Gefahr, sondern an ein gefahrverursachendes aktives und planvolles Tun anknüpft, dessen Risiken sie durch vorherige sorgfältige Planung hätte vermeiden können. Diese besonderen Umstände rechtfertigen eine Haftungsquote der Beklagten von 2/3 bzw. einen Eigenverantwortungsanteil der Klägerin von 1/3.

3.

Die Entscheidung über die Höhe der Leistungsanträge ist noch nicht zur Entscheidung reif, da über die Verletzungen der Klägerin und den in Rechnung gestellten Haushaltsführungsschaden noch Beweis erhoben werden muss. Der Senat hält es daher für sachgerecht, den Rechtsstreit wegen der Höhe nach § 538 Abs. 2 Nr. 4 ZPO zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückzuverweisen.

4.

Der Feststellungsantrag ist zulässig, da aufgrund der Knochenverletzungen der Klägerin unfallbedingte Spätschäden nicht fernliegen. In der Sache hat der Antrag nach Maßgabe der erkannten Haftungsquote Erfolg.

III.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 708 Nr. 10,711 und 713 ZPO. Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.

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