Übersicht:
- Das Wichtigste in Kürze
- Der Fall vor Gericht
- Sturz mit dem E-Bike: Wer haftet für eine kaum sichtbare Bordsteinkante?
- Was war passiert? Ein Unfall mit Folgen
- Der Weg durch die Instanzen: Die erste Entscheidung des Landgerichts
- Die Kernfrage für das Berufungsgericht
- Die Entscheidung des Oberlandesgerichts
- Warum entschied das Gericht so? Die Pflicht zur Verkehrssicherung
- Das Mitverschulden der Radfahrerin
- Die Schlüsselerkenntnisse
- Häufig gestellte Fragen (FAQ)
- Was versteht man unter der Verkehrssicherungspflicht und wer trägt diese Verantwortung für öffentliche Wege?
- Wann genau haftet eine Gemeinde oder Stadt, wenn jemand auf einem öffentlichen Weg durch eine Unebenheit stürzt?
- Welche Rolle spielt meine eigene Aufmerksamkeit und Fahrweise bei einem Unfall auf einem öffentlichen Weg?
- Hat es Auswirkungen auf die Haftung, wenn die Unfallstelle nach einem Sturz verändert oder besser gekennzeichnet wurde?
- Welche allgemeinen Pflichten und Erwartungen gelten für Radfahrer und Fußgänger, wenn sie öffentliche Wege nutzen?
- Glossar
- Wichtige Rechtsgrundlagen
- Das vorliegende Urteil
Urteil Az.: 7 U 8/25 | Schlüsselerkenntnis | FAQ | Glossar | Kontakt
Zum vorliegendenDas Wichtigste in Kürze
- Gericht: Oberlandesgericht Schleswig-Holstein
- Datum: 02.04.2025
- Aktenzeichen: 7 U 8/25
- Verfahrensart: Berufungsverfahren
- Rechtsbereiche: Zivilrecht (Amtshaftung, Verkehrssicherungspflicht, Schadensersatzrecht)
Beteiligte Parteien:
- Kläger: Eine Person, die Schadensersatz– und Schmerzensgeldansprüche aus einem Fahrradunfall gegen die beklagte Straßenbaulastträgerin geltend machte. Sie behauptete, der Unfall sei auf eine unzureichend erkennbare Gefahrenstelle an einer Bordsteinkante zurückzuführen.
- Beklagte: Die Gemeinde Timmendorfer Strand als Straßenbaulastträgerin. Sie wies die Klage ab und argumentierte, dass keine Verletzung ihrer Verkehrssicherungspflicht vorlag und Radfahrer mit Unebenheiten rechnen müssten.
Worum ging es in dem Fall?
- Sachverhalt: Die Klägerin forderte nach einem Unfall mit einem E-Bike auf der S-Straße in Timmendorfer Strand Schmerzensgeld und Schadensersatz. Sie behauptete, sie sei gestürzt, weil sich das Vorderrad ihres E-Bikes an einer Bordsteinkante verfangen habe, deren Höhenunterschied kaum erkennbar gewesen sei.
- Kern des Rechtsstreits: Die zentrale Rechtsfrage war, ob die Beklagte als Straßenbaulastträgerin ihre Verkehrssicherungspflicht verletzt hat, indem ein geringfügiger Höhenunterschied an einer Bordsteinkante eine unzureichend erkennbare Gefahrenstelle für Radfahrer darstellte und ob der Klägerin deshalb Ansprüche zustehen.
Was wurde entschieden?
- Entscheidung: Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Landgerichts Lübeck, das die Klage zuvor abgewiesen hatte, wurde zurückgewiesen. Die Klägerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
- Begründung: Das Oberlandesgericht bestätigte, dass keine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht durch die Beklagte vorlag, da die Unfallstelle keinen objektiv verkehrswidrigen Zustand darstellte. Die Gestaltung der Verkehrsfläche war üblich und der geringe Höhenunterschied der Bordsteinkante für die Klägerin bei gebotener Aufmerksamkeit erkennbar. Auch eine nachträgliche Markierung begründet keine Haftung. Zudem träfe die Klägerin ein überwiegendes Mitverschulden.
- Folgen: Die Klägerin muss die Kosten des Berufungsverfahrens tragen. Das erstinstanzliche Urteil des Landgerichts, das die Klage abwies, ist vorläufig vollstreckbar.
Der Fall vor Gericht
Sturz mit dem E-Bike: Wer haftet für eine kaum sichtbare Bordsteinkante?
Viele Menschen sind gerne mit dem Fahrrad oder E-Bike unterwegs, sei es im Alltag oder im Urlaub. Doch was passiert, wenn man dabei stürzt und sich verletzt, weil eine Bordsteinkante oder ein Übergang zwischen Fahrbahn und Gehweg schlecht erkennbar war? Muss dann die Stadt oder Gemeinde, die für den Weg zuständig ist, für den Schaden aufkommen? Genau mit dieser Frage musste sich das Oberlandesgericht Schleswig-Holstein beschäftigen.
Was war passiert? Ein Unfall mit Folgen

Frau M. (die Klägerin, also die Person, die vor Gericht geklagt hat) machte Ansprüche wegen eines Unfalls geltend. Sie gab an, am Nachmittag des 09. September 2021 mit einem gemieteten E-Bike, einem sogenannten Pedelec (ein Fahrrad mit elektrischer Tretunterstützung), in der S-Straße in der Gemeinde Timmendorfer Strand gestürzt zu sein. Der Unfall soll sich im Bereich des Übergangs von der Fahrbahn zum Gehweg vor einem Hotel ereignet haben. Unbestritten ist, dass Frau M. bei diesem Sturz erhebliche Verletzungen erlitt: eine Fraktur des rechten Oberarms, eine innere Verletzung des rechten Knies (ein Kniebinnentrauma) und eine Fraktur des rechten Schienbeinkopfes. Diese Verletzungen führten nach ihren Angaben zu dauerhaften Bewegungseinschränkungen im rechten Arm (30%) und im rechten Bein (20%).
Wie kam es zu diesem Sturz? Frau M. erklärte, sie sei beim Abbiegen von der Fahrbahn in Richtung des Hotels gestürzt, weil sich das Vorderrad ihres E-Bikes an der Kante eines sogenannten Tiefbordsteins „verfangen“ habe. Ein Tiefbordstein ist ein niedrigerer Bordstein, der oft an Übergängen verwendet wird. Sie führte weiter aus, dass sowohl die Fahrbahn als auch der Gehweg der S-Straße einen ähnlichen Belag aus gelbem Pflaster-Klinker aufwiesen. Der Übergang sei mit einheitlich grauen Rinnensteinen (Steine, die oft neben der Fahrbahn liegen und Regenwasser ableiten) und eben diesen Tiefbordsteinen gestaltet. Dabei, so Frau M., liege der Tiefbordstein etwas höher als der Rinnenstein. Das Problem aus ihrer Sicht: Dieser geringe Höhenunterschied am Bordstein sei kaum erkennbar gewesen. Sie war der Meinung, dass es sich bei der Unfallstelle um eine der Gemeinde T. (die Beklagte, also diejenige, gegen die geklagt wurde und die als Straßenbaulastträgerin für die Sicherheit der Straße zuständig ist) bekannte Gefahrenstelle handele, an der bereits zuvor mehrere Radfahrer gestürzt seien. Frau M. sah daher die Schuld bei der Gemeinde T.: Diese habe durch die Art und Weise, wie sie die Verkehrsflächen gestaltet hatte, ihre sogenannte Verkehrssicherungspflicht verletzt. Die Verkehrssicherungspflicht ist die Pflicht desjenigen, der eine Gefahrenquelle schafft oder unterhält (hier die Gemeinde als Eigentümerin der Straße), dafür zu sorgen, dass andere dadurch nicht zu Schaden kommen. Als ein Indiz dafür, dass die Stelle gefährlich war, sah Frau M. die Tatsache, dass die Gemeinde T. nach dem Unfall eine zusätzliche farbliche Markierung an der Stelle angebracht hatte.
Frau M. forderte vor Gericht von der Gemeinde T. ein Schmerzensgeld von mindestens 20.000 Euro. Außerdem sollte die Gemeinde alle weiteren Schäden ersetzen, die als Folge des Unfalls entstanden sind oder noch entstehen werden, und Frau M. von möglichen Forderungen anderer (zum Beispiel Arztkosten, die noch nicht abgerechnet wurden) freistellen. Die Gemeinde T. hingegen forderte, die Klage abzuweisen. Sie bestritt die Darstellung von Frau M. und argumentierte, dass jeder Verkehrsteilnehmer, also auch ein Radfahrer, zwischen Fahrbahn und Gehweg immer mit einer gewissen Unebenheit rechnen müsse. Die nachträglich aufgebrachte Farbmarkierung, so die Gemeinde, beziehe sich zudem auf einen anderen Bereich der Straße und sei eine freiwillige, zusätzliche Sicherheitsmaßnahme gewesen, zu der sie nicht verpflichtet gewesen wäre (eine sogenannte Überobligatorische Maßnahme).
Der Weg durch die Instanzen: Die erste Entscheidung des Landgerichts
Das Landgericht Lübeck hatte sich als erste Instanz mit dem Fall beschäftigt. Nach einer persönlichen Anhörung von Frau M. wies das Landgericht die Klage ab. Es sah keine Ansprüche auf Schadensersatz und Schmerzensgeld. Die Begründung des Gerichts stützte sich auf den Paragraphen 839 Absatz 1 Satz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches (kurz: BGB) in Verbindung mit Artikel 34 des Grundgesetzes (kurz: GG). Diese Regelungen betreffen die sogenannte Amtshaftung. Vereinfacht gesagt geht es darum, wann der Staat oder eine Gemeinde für Fehler ihrer Beamten oder Angestellten haften muss. Das Landgericht meinte: Selbst wenn man den Vortrag von Frau M. als richtig unterstellt, fehle es bereits an einer sogenannten Amtspflichtverletzung der Gemeinde T. Eine Amtspflichtverletzung liegt vor, wenn ein Beamter oder Angestellter einer Behörde seine dienstlichen Pflichten verletzt. Hier wäre das eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht gewesen.
Das Landgericht war der Ansicht, die Unfallstelle sei keine Gefahrenquelle gewesen, die hätte gesichert werden müssen. Radfahrer müssten öffentliche Wege grundsätzlich so hinnehmen, wie sie sich ihnen erkennbar darbieten. Sie müssten ihre eigenen Sicherheitsbelange durch eine entsprechend vorsichtige Fahrweise in erster Linie selbst wahrnehmen. Der Unfallort sei für Frau M., so das Gericht, bei Wahrung durchschnittlicher eigener Sorgfalt ohne Weiteres beherrschbar gewesen. Daher scheide eine Haftung der Gemeinde T. bereits deshalb aus, weil kein objektiv verkehrswidriger Zustand vorgelegen habe. Die Bordsteinkante sei auch unter möglicherweise schwierigen Lichtverhältnissen zumindest bei genauerem Hinsehen gut erkennbar gewesen. Am Unfallort sei ohnehin besondere Aufmerksamkeit geboten gewesen, da es sich um eine Schnittstelle aus einer Einfahrt, einem Fußgängerüberweg und der Straße handelte. Die eingereichten Fotos, so das Landgericht, zeigten einen Schattenwurf, der den Höhenunterschied erkennbar mache. Auch die übrige Gestaltung der Verkehrsfläche stehe einer Erkennbarkeit des Höhenunterschiedes nicht im Wege. Im Gegenteil: Die Trennung zwischen Fahrbahn und Gehweg sei durch die unterschiedliche Farbe des Bordsteines ersichtlich gewesen. Ein Radfahrer könne hier nicht darauf vertrauen, dass beide Bereiche exakt gleich hoch sind, sondern müsse naturgemäß mit einem gewissen Höhenunterschied rechnen und dies beim Überfahren der Kante berücksichtigen.
Auch die Argumente von Frau M. bezüglich früherer Unfälle und der nachträglichen Markierung überzeugten das Landgericht nicht. Öffentliche Äußerungen der Gemeinde T. zu einem Unfallschwerpunkt bezögen sich nicht auf die konkrete Unfallstelle, sondern auf einen anderen Abschnitt der S-Straße. Und die nachträglich aufgebrachte weiße Markierung begründe keine Haftung der Gemeinde T., da es sich um eine freiwillige zusätzliche Sicherheitsmaßnahme handele. Eine solche Maßnahme lasse keinen Schluss darauf zu, dass die Stelle vorher verkehrswidrig gewesen sei. Schließlich führte das Landgericht noch an, dass Frau M. jedenfalls auch ein überwiegendes Mitverschulden treffe. Das ist im Paragraph 254 BGB geregelt und bedeutet, dass wenn jemand einen Schaden erleidet, aber selbst durch eigenes Verhalten dazu beigetragen hat, sein Anspruch auf Schadensersatz gekürzt werden kann oder sogar ganz entfällt. Der Höhenunterschied sei bei Anwendung der gebotenen Aufmerksamkeit ausreichend erkennbar gewesen und hätte bei einer vorausschauenden Fahrweise in einem möglichst stumpfen Winkel (also nicht zu schräg) überfahren werden müssen.
Die Kernfrage für das Berufungsgericht
Gegen dieses Urteil des Landgerichts legte Frau M. Berufung beim Oberlandesgericht Schleswig-Holstein ein. Ein Rechtsmittel wie die Berufung dient dazu, eine gerichtliche Entscheidung von einer höheren Instanz überprüfen zu lassen. Frau M. rügte, das Urteil des Landgerichts beruhe auf einer Verletzung von Verfahrensvorschriften und einer unzureichenden Feststellung der Tatsachen. Sie hatte zur angeblich fehlenden Erkennbarkeit des Höhenunterschiedes zur Unfallzeit bei direktem Sonnenlicht angeboten, dass das Gericht die Stelle selbst in Augenschein nimmt, ein Gutachten eines Sachverständigen einholt und ihren Ehemann als Zeugen vernimmt. Diese Beweisanträge seien vom Landgericht fehlerhaft nicht berücksichtigt worden. Das Landgericht habe stattdessen auf einen Schattenwurf abgestellt, der zum Unfallzeitpunkt wegen der Sonneneinstrahlung gar nicht vorhanden gewesen sei. Wären die Beweise erhoben worden, so Frau M., wäre die fehlende Erkennbarkeit des Höhenunterschiedes festgestellt worden. Im Berufungsverfahren beantragte Frau M., das Urteil des Landgerichts aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückzuverweisen. Die Gemeinde T. beantragte, die Berufung zurückzuweisen und verteidigte das Urteil des Landgerichts.
Die Entscheidung des Oberlandesgerichts
Das Oberlandesgericht Schleswig-Holstein wies die Berufung von Frau M. mit einem Beschluss vom 02. April 2025 (Aktenzeichen: 7 U 8/25) zurück. Das bedeutet, die Entscheidung des Landgerichts Lübeck bleibt bestehen. Frau M. muss zudem die Kosten des Berufungsverfahrens tragen. Das Urteil des Landgerichts ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Das heißt, die Gemeinde T. könnte, falls ihr Kosten entstanden sind, diese nun von Frau M. fordern, ohne dafür eine Sicherheit hinterlegen zu müssen. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wurde auf 22.000,00 € festgesetzt.
Warum entschied das Gericht so? Die Pflicht zur Verkehrssicherung
Das Oberlandesgericht (der Senat, also das Gremium der Richter am Oberlandesgericht) begründete seine Entscheidung damit, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg habe. Das ist in Paragraph 522 Absatz 2 der Zivilprozessordnung (kurz: ZPO) geregelt und erlaubt es Berufungsgerichten, ein Rechtsmittel ohne mündliche Verhandlung zurückzuweisen, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Dazu gehört, dass die Sache keine grundsätzliche Bedeutung hat und eine Entscheidung des Berufungsgerichts nicht zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist.
Was bedeutet Verkehrssicherungspflicht genau?
Der Senat stellte klar, dass Frau M. keinen Anspruch gegen die Gemeinde T. aus der bereits erwähnten Amtshaftung (§ 839 Abs. 1 S. 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG) hat. Das Landgericht habe die Klage zu Recht abgewiesen. Das Urteil des Landgerichts weise keine entscheidenden Rechtsfehler zum Nachteil von Frau M. auf, und auch die festgestellten Tatsachen rechtfertigten keine andere Entscheidung.
Der Senat erläuterte dann den Umfang der Verkehrssicherungspflicht. Diese richtet sich danach, was ein durchschnittlicher Benutzer der betreffenden Verkehrsfläche vernünftigerweise an Sicherheit erwarten darf. Zwar muss derjenige, der für eine Straße verantwortlich ist (der Straßenbaulastträger, hier die Gemeinde T.), dafür sorgen, dass die von ihm unterhaltenen Flächen frei von Gefahrenquellen sind, die beseitigt werden können. Aber: Der Sicherungspflichtige muss nicht für alle denkbaren, auch noch so entfernten Möglichkeiten eines Schadenseintritts Vorsorge treffen. Eine Sicherung, die jeden Unfall ausschließt, ist praktisch nicht möglich. Eine öffentliche Verkehrsfläche muss sich vielmehr nur in einem Zustand befinden, der den regelmäßigen Verkehrsbedürfnissen genügt und eine möglichst gefahrlose Benutzung zulässt. Dabei müssen die Verkehrsteilnehmer die gegebenen Verhältnisse grundsätzlich so hinnehmen und sich ihnen anpassen, wie sie sich ihnen erkennbar darbieten. Sie müssen mit typischen Gefahrenquellen, wie etwa Unebenheiten, rechnen. Ein Tätigwerden des Verkehrssicherungspflichtigen ist allerdings dann geboten, wenn die nahe liegende Möglichkeit einer Verletzung von Rechten anderer besteht. Das ist der Fall, wenn Gefahren bestehen, die auch für einen durchschnittlichen Benutzer bei Beachtung der von ihm zu erwartenden eigenen Sorgfalt nicht oder nicht rechtzeitig erkennbar sind und auf die er sich nicht oder nicht rechtzeitig einrichten kann.
War der Bordstein eine unerkennbare Gefahr?
Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze schloss sich der Senat der Einschätzung des Landgerichts an: Die Gestaltung der Verkehrsfläche an der Unfallstelle stellt keinen objektiv verkehrswidrigen Zustand dar, der Sicherungsmaßnahmen der Gemeinde T. erfordert hätte. Fahrbahn und Gehweg befanden sich nahezu auf gleicher Höhe und waren durch ihr Klinker-Pflaster ähnlich gestaltet. Getrennt wurden die Bereiche durch andersfarbige Rinnen- und Tiefbordsteine. Dabei handelt es sich um eine zwar weniger verbreitete, aber – gerade in verkehrsberuhigten und touristisch erschlossenen Gebieten – durchaus übliche Gestaltung. Zwischen dem Rinnenstein und dem Tiefbordstein befand sich ein geringer Höhenunterschied von allenfalls wenigen Zentimetern. Dieser beruhte offenbar nicht auf einem fehlerhaften Einbau, sondern war gewollt und technisch bedingt, möglicherweise auch zur geordneten Entwässerung der Fahrbahn, was anhand vorhandener Gullideckel erkennbar sei. Frau M. hatte auch nicht behauptet, dass die Gestaltung nicht den allgemein anerkannten Regeln der Technik entspreche.
Entscheidend war für den Senat: Die Abgrenzung zwischen Fahrbahn und Gehweg war aufgrund der andersartigen und insbesondere farblich unterschiedlichen Gestaltung als solche gut erkennbar. In solchen Grenzbereichen zwischen verschiedenen Verkehrsflächen sei stets mit baulich bedingten Unebenheiten zu rechnen. Das Überfahren solcher Bereiche erfordere deshalb eine erhöhte Aufmerksamkeit und ein vorausschauendes Fahren, um etwaige Unebenheiten in einem ungefährlichen, also möglichst stumpfen Winkel zu überfahren.
Der Senat war auch der Meinung, dass die Unebenheit bzw. der geringe Höhenunterschied zwischen Rinnen- und Tiefbordstein bei Anwendung der gebotenen Aufmerksamkeit auch für Frau M. erkennbar war. Als sie beabsichtigte, diesen erkennbaren Grenzbereich mit dem Fahrrad zu überfahren, hätte sie aufgrund der dort häufig vorhandenen Unebenheiten einen aufmerksamen Blick darauf richten müssen. Dabei wäre ihr der Höhenunterschied nach Überzeugung des Senats aufgefallen. Es sei bei Betrachtung der vorhandenen Fotos und weiterer Bilder aus dem Internet (Google Streetview) nicht nachvollziehbar, weshalb bei Tageslicht und guten Sichtverhältnissen die Gestaltung von Rinnen- und Bordstein einschließlich des kleinen Absatzes nicht erkennbar gewesen sein soll. Der Senat stimmte Frau M. zwar zu, dass das Landgericht fälschlicherweise auf einen Schattenwurf abgestellt hatte, der zum Unfallzeitpunkt wegen der Sonneneinstrahlung nicht gegeben war. Dies ändere aber nichts daran, dass der Bordstein mit seinem Absatz ausreichend erkennbar war. Denn auch und gerade wenn die Sonne auf diesen Bereich scheint, sei er aufgrund der Ausleuchtung insgesamt gut erkennbar. Eine Blendung von Frau M. durch die Sonne schied aus, da die Sonne querab zu ihrer Fahrtrichtung bzw. sogar leicht hinter ihr gestanden habe. Selbst wenn sich die grauen Rinnen- und Bordsteine für Frau M. als eine einheitliche Fläche dargestellt haben sollten, durfte sie aufgrund des Umstandes, dass es sich erkennbar um eine Abgrenzung verschiedener Verkehrsflächen handelte, nicht damit rechnen, dass dieser Bereich gänzlich frei von Unebenheiten oder Höhenunterschieden ist. Hinzu komme, dass Frau M. die Gestaltung mit dem kleinen Absatz bereits auf der Anfahrt zum Hotel hätte wahrnehmen können, weil sie über eine erhebliche Strecke davor gleich ist.
Eine Beweisaufnahme zur fehlenden Erkennbarkeit (also Inaugenscheinnahme, Sachverständigengutachten, Zeugenaussage des Ehemannes) war und ist nach Ansicht des Senats nicht geboten gewesen. Die angebotenen Beweismittel seien ungeeignet und unerheblich. Sie könnten allenfalls eine erschwerte Erkennbarkeit aufgrund von fehlendem Schattenwurf ergeben. Davon abgesehen müsse man in solchen Grenzbereichen zwischen verschiedenen Verkehrsflächen aber ohnehin stets mit Unebenheiten rechnen, auch wenn man sie nicht auf den ersten Blick sieht.
Die Rolle der nachträglichen Markierung
Auch die nachträgliche zusätzliche Markierung der Fahrbahnrandbereiche mit weißen Linien lässt nach Ansicht des Senats keinen Schluss auf eine zuvor objektiv verkehrswidrige Gestaltung zu. Es spreche nicht gegen die Gemeinde T., sondern vielmehr für sie, dass sie bei Identifizierung von Unfallschwerpunkten zusätzliche Sicherungsmaßnahmen ergreife. Daraus lasse sich aber nicht ableiten, dass diese Maßnahmen bereits von vornherein notwendig gewesen wären.
Das Mitverschulden der Radfahrerin
Schließlich folgte der Senat dem Landgericht auch darin, dass selbst im Falle einer Verkehrssicherungspflichtverletzung der Gemeinde T. das Mitverschulden von Frau M. (gemäß § 254 BGB) derart schwer wiegen würde, dass eine Haftung der Gemeinde T. dahinter vollständig zurücktreten würde. Da die Gestaltung der S-Straße hinsichtlich der Pflasterung und der Tiefbordsteine baulich zulässig ist, könnte eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht allenfalls im Fehlen einer zusätzlichen farbigen Markierung liegen. Die Abgrenzung zwischen Fahrbahn und Gehweg – einschließlich des leichten Höhenunterschiedes – war aber unabhängig davon erkennbar. Frau M. habe beim Befahren dieses Bereichs die gebotene Aufmerksamkeit in gröblicher Weise vermissen lassen. Das Überfahren solcher Bereiche im spitzen Winkel stelle eine grobe Verletzung der eigenen Sorgfaltspflichten dar (eine Obliegenheitsverletzung), weil in solchen Bereichen mit leichten Unebenheiten von wenigen Zentimetern immer zu rechnen sei. Hierauf komme es aber nicht mehr entscheidend an, so der Senat, da es bereits an einer Verkehrssicherungspflichtverletzung der Gemeinde T. fehle.
Die abschließende Stellungnahme von Frau M. zur vorläufigen Einschätzung des Senats änderte nichts an dessen Entscheidung. Sie wiederholte im Wesentlichen ihre abweichende Auffassung, ohne sich ausreichend mit der Argumentation des Gerichts auseinanderzusetzen. Ob die nachträgliche weiße Markierung auch im Bereich der Unfallstelle aufgebracht wurde, sei unerheblich. Denn dies ändere nichts daran, dass die ursprüngliche Gestaltung keinen objektiv verkehrswidrigen Zustand begründet habe. Der Höhenunterschied sei bei Anwendung der gebotenen Aufmerksamkeit und Sorgfalt ausreichend erkennbar gewesen. Dies gelte auch für ortsunkundige und ältere Radfahrer, die ihre Fahrweise an ihre persönlichen Kenntnisse und Fähigkeiten anpassen müssten. Mit einem „ebenerdigen“ Übergang von Fahrbahn zu Gehweg könne allgemein nicht gerechnet werden, weshalb solche Übergänge jedenfalls nicht im spitzen Winkel überfahren werden sollten.
Die Schlüsselerkenntnisse
Das Urteil zeigt, dass Radfahrer beim Überfahren von Bordsteinkanten grundsätzlich selbst für ihre Sicherheit verantwortlich sind und mit Unebenheiten rechnen müssen. Gemeinden haften nur dann für Unfälle, wenn Gefahrenstellen für durchschnittlich aufmerksame Verkehrsteilnehmer nicht erkennbar sind – ein niedriger, farblich abgesetzter Bordstein gilt jedoch als ausreichend sichtbar. Selbst wenn eine Gemeinde nachträglich zusätzliche Markierungen anbringt, bedeutet dies nicht automatisch, dass die ursprüngliche Gestaltung fehlerhaft war. Für E-Bike-Fahrer bedeutet dies konkret: An Übergängen zwischen Fahrbahn und Gehweg ist erhöhte Aufmerksamkeit geboten, und solche Stellen sollten niemals in einem spitzen Winkel überfahren werden.
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Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Was versteht man unter der Verkehrssicherungspflicht und wer trägt diese Verantwortung für öffentliche Wege?
Die Verkehrssicherungspflicht ist eine wichtige rechtliche Aufgabe, die darauf abzielt, Personen vor Gefahren zu schützen. Sie besagt, dass derjenige, der eine Gefahrenquelle schafft oder kontrolliert – zum Beispiel eine Straße, einen Gehweg oder einen Platz – dafür sorgen muss, dass von dieser Quelle keine unnötigen Gefahren für andere ausgehen. Ziel ist es, Schäden an Leib und Leben sowie am Eigentum Dritter zu verhindern.
Was beinhaltet die Verkehrssicherungspflicht?
Diese Pflicht bedeutet, dass alle notwendigen und zumutbaren Maßnahmen ergriffen werden müssen, um potenzielle Gefahren zu beseitigen oder zumindest vor ihnen zu warnen. Stellen Sie sich vor, Sie nutzen einen öffentlichen Weg: Die Verkehrssicherungspflicht soll sicherstellen, dass dieser Weg so beschaffen ist, dass Sie ihn sicher begehen oder befahren können.
Das umfasst beispielsweise:
- Die Instandhaltung von Straßen und Gehwegen, um Schlaglöcher, Risse oder lose Platten zu vermeiden.
- Den Winterdienst, also das Räumen von Schnee und Streuen bei Glatteis auf Gehwegen und Fahrbahnen.
- Das Absichern von Baustellen oder Gefahrenstellen, etwa durch Absperrungen oder Warnschilder.
- Die Beseitigung von herabfallenden Ästen oder anderen Hindernissen, die den Verkehr behindern könnten.
Es geht dabei nicht darum, jede noch so kleine oder offensichtliche Gefahr auszuschließen. Vielmehr sollen nur solche Gefahren vermieden werden, mit denen ein durchschnittlicher Nutzer nicht rechnen muss und die nicht ohne Weiteres erkennbar sind.
Wer trägt die Verantwortung für öffentliche Wege?
Für öffentliche Wege wie Straßen, Gehwege, Plätze und Parkanlagen liegt die primäre Verantwortung in der Regel bei der zuständigen Kommune, also der jeweiligen Stadt oder Gemeinde. Sie ist der sogenannte „Träger der Verkehrssicherungspflicht“ für diese Flächen in ihrem Zuständigkeitsbereich. Das bedeutet, dass die Kommune die grundlegende Pflicht hat, diese Wege sicher zu halten.
In bestimmten Fällen kann die Kommune diese Pflicht auch auf andere übertragen, zum Beispiel auf beauftragte Unternehmen für die Reinigung oder den Winterdienst, oder auch auf Anlieger, wie es oft beim Winterdienst auf Gehwegen der Fall ist. Trotz einer solchen Übertragung bleibt die Kommune aber häufig in der Pflicht, zu überprüfen, ob die beauftragten oder verpflichteten Dritten ihren Aufgaben auch nachkommen. Für Sie als Nutzer bedeutet dies, dass Sie grundsätzlich darauf vertrauen dürfen, dass die öffentlichen Wege sicher sind und im Bedarfsfall eine klare Verantwortlichkeit existiert.
Wann genau haftet eine Gemeinde oder Stadt, wenn jemand auf einem öffentlichen Weg durch eine Unebenheit stürzt?
Eine Gemeinde oder Stadt ist als sogenannte „Wegehalterin“ dafür verantwortlich, ihre öffentlichen Wege in einem verkehrssicheren Zustand zu halten. Das bedeutet aber nicht, dass jeder Weg perfekt und vollkommen fehlerfrei sein muss. Vielmehr geht es darum, Gefahren zu vermeiden, die für die Nutzer des Weges nicht erkennbar oder nicht erwartbar sind und auf die sie sich daher nicht einstellen können.
Was ist eine haftungsbegründende Unebenheit?
Eine Gemeinde haftet nicht für jede kleine Unebenheit. Man unterscheidet zwischen „normalen“ und „unzumutbaren“ Unebenheiten:
- Normale Unebenheiten: Mit kleineren Rissen, leichten Höhenunterschieden oder Wurzelaufbrüchen, die auf einem öffentlichen Weg, insbesondere außerhalb von Hauptverkehrsachsen, auftreten können, müssen Sie als Nutzer grundsätzlich rechnen. Es wird erwartet, dass Sie Ihre Schritte und Aufmerksamkeit den Gegebenheiten anpassen. Eine Gemeinde haftet hierfür in der Regel nicht, da es sich um typische Erscheinungen handelt, die bei gewöhnlicher Sorgfalt vermeidbar sind.
- Haftungsbegründende Gefahren: Eine Haftung der Gemeinde kommt erst dann in Betracht, wenn die Unebenheit eine echte Gefahr darstellt, die über das übliche Maß hinausgeht und für einen sorgfältigen Nutzer nicht ohne Weiteres erkennbar ist oder auf die er sich aufgrund ihrer Art, Größe oder Plötzlichkeit nicht einstellen kann.
Es ist entscheidend, wie stark die Unebenheit ist, wo sie sich befindet und ob sie auch bei Tageslicht oder guter Beleuchtung schwer zu sehen ist. Stellen Sie sich zum Beispiel einen tiefen, unerwarteten Spalt im Boden vor, der durch Laub oder schlechte Beleuchtung verdeckt ist. Solche „Stolperfallen“, die man nicht erwarten oder sehen konnte, können eine Haftung begründen.
Faktoren für die Haftung
Ob eine Unebenheit tatsächlich zu einer Haftung führt, hängt von verschiedenen Faktoren ab, die Gerichte im Einzelfall prüfen:
- Größe und Tiefe der Unebenheit: Je größer und tiefer eine Stolperstelle ist, desto eher kann sie als gefährlich eingestuft werden.
- Lage der Unebenheit: Befindet sich die Unebenheit an einer Stelle, an der man nicht damit rechnet (z.B. mitten auf einem gut ausgebauten Bürgersteig ohne Wurzeln)? Oder ist sie an einem stark frequentierten Ort?
- Sichtbarkeit: War die Unebenheit durch ausreichende Beleuchtung, Witterungsbedingungen oder Bewuchs (z.B. Blätter, Schnee) verdeckt?
- Art des Weges: Auf einem wenig frequentierten Feldweg muss man mit anderen Unebenheiten rechnen als auf einem innerstädtischen Gehweg.
- Zumutbarkeit für die Gemeinde: Es wird auch geprüft, ob es für die Gemeinde zumutbar gewesen wäre, die Gefahr zu erkennen und zu beseitigen. Eine ständige Überwachung jedes einzelnen Wegabschnitts ist nicht realisierbar. Die Gemeinde muss regelmäßige Kontrollen durchführen, die in Umfang und Häufigkeit dem jeweiligen Wegtyp und der Nutzungsintensität entsprechen.
Letztlich ist die Frage der Haftung immer eine Einzelfallentscheidung, bei der alle Umstände des Sturzes und der Unebenheit berücksichtigt werden.
Welche Rolle spielt meine eigene Aufmerksamkeit und Fahrweise bei einem Unfall auf einem öffentlichen Weg?
Ihre eigene Aufmerksamkeit und Fahrweise spielen eine sehr wichtige Rolle bei der Beurteilung eines Unfalls auf einem öffentlichen Weg. Als Verkehrsteilnehmer tragen Sie grundsätzlich eine Eigenverantwortung. Das bedeutet, Sie müssen öffentliche Wege grundsätzlich so hinnehmen, wie sie sich Ihnen darbieten. Nicht jeder geringfügige Mangel, wie etwa eine kleine Unebenheit, führt automatisch zu einer Haftung desjenigen, der für den Weg zuständig ist.
Von Ihnen wird erwartet, dass Sie eine erhöhte Aufmerksamkeit zeigen und Ihre Fahrweise an die jeweiligen Gegebenheiten anpassen. Stellen Sie sich vor, Sie nutzen einen Weg, der Ihnen bekannt ist für leichte Unregelmäßigkeiten oder der bei Nässe rutschig wird. Dann ist es wichtig, dass Sie Ihre Geschwindigkeit und Ihr Verhalten entsprechend anpassen. Dies gilt auch bei schlechten Sichtverhältnissen, Regen, Schnee oder Eis. Ihre Fahrweise – ob zu Fuß, mit dem Fahrrad, E-Scooter oder anderen Verkehrsmitteln – sollte immer an die konkreten Umstände des Weges, die Witterung und Ihre eigenen Fähigkeiten angepasst sein. Sie sollten beispielsweise langsamer gehen oder fahren, wenn der Weg uneben ist, oder besonders auf Bordsteine und Übergänge achten.
Ihr eigenes Verhalten ist von zentraler Bedeutung für die Haftungsfrage nach einem Unfall. Wenn Sie durch mangelnde Aufmerksamkeit oder eine unangepasste Fahrweise selbst zum Unfall beigetragen haben, spricht man von einem Mitverschulden.
Mitverschulden: Auswirkungen auf den Schadensersatz
Mitverschulden bedeutet, dass der Unfall nicht ausschließlich durch einen Mangel des Weges oder das Verhalten einer anderen Person verursacht wurde, sondern Sie durch Ihr eigenes Verhalten einen Teil dazu beigetragen haben. Wenn ein Gericht feststellt, dass ein Mitverschulden vorliegt, kann dies Ihren möglichen Anspruch auf Schadensersatz erheblich mindern. Es wird dann geprüft, in welchem Verhältnis die Verursachungsbeiträge von Ihnen und dem Wegehalter oder anderen Unfallbeteiligten zueinanderstehen. Der Ihnen zustehende Schadensersatz würde entsprechend der Quote Ihres Mitverschuldens gekürzt. Damit wird berücksichtigt, dass Sie als Verkehrsteilnehmer stets eine Verantwortung für Ihre eigene Sicherheit und Ihr Verhalten im Straßenverkehr tragen.
Hat es Auswirkungen auf die Haftung, wenn die Unfallstelle nach einem Sturz verändert oder besser gekennzeichnet wurde?
Nein, die nachträgliche Veränderung oder bessere Kennzeichnung einer Unfallstelle hat in der Regel keine direkten Auswirkungen auf die Frage der Haftung für einen bereits geschehenen Sturz. Diese Annahme ist ein weit verbreiteter Irrglaube.
Keine automatische Schuldanerkennung
Wenn nach einem Sturz eine Stelle gesichert, repariert oder besser gekennzeichnet wird, etwa durch das Anbringen eines Warnschilds oder das Ausbessern eines Weges, ist dies in den meisten Fällen kein automatisches Schuldeingeständnis des Verantwortlichen. Viele Menschen nehmen fälschlicherweise an, dass eine solche Maßnahme beweist, dass der Verantwortliche seinen Pflichten vorher nicht nachgekommen ist. Juristisch ist das jedoch selten der Fall.
Was für die Haftung entscheidend ist
Für die Frage, ob jemand für einen Sturz haftbar gemacht werden kann, ist allein der Zustand der Unfallstelle zum Zeitpunkt des Sturzes entscheidend. Es wird geprüft, ob zu diesem Zeitpunkt eine sogenannte Verkehrssicherungspflicht verletzt wurde. Das bedeutet, ob derjenige, der für die Sicherheit des Ortes verantwortlich war, alle notwendigen und zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat, um Gefahren abzuwenden.
Warum nachträgliche Maßnahmen ergriffen werden
Nachträgliche Sicherungs- oder Verbesserungsmaßnahmen werden oft aus Vorsicht, aus einem Verantwortungsgefühl heraus oder einfach, um weitere Unfälle zu vermeiden, ergriffen. Sie sind häufig als freiwillige, zusätzliche Maßnahmen zu verstehen, die nicht beweisen, dass die Unfallstelle vorher verkehrswidrig oder eine gefährliche Stolperfalle war. Sie zeigen vielmehr, dass der Verantwortliche auch im Nachhinein umsichtig handelt und potenzielle Risiken minimieren möchte.
Stellen Sie sich vor, jemand stolpert über einen leicht unebenen Pflasterstein. Wenn der Hauseigentümer diesen Stein nach dem Vorfall sofort festigt oder durch einen neuen ersetzt, bedeutet das nicht automatisch, dass der Stein vorher bereits so gefährlich war, dass eine Haftung bestand. Es ist vielmehr eine vorbeugende Handlung für die Zukunft.
Welche allgemeinen Pflichten und Erwartungen gelten für Radfahrer und Fußgänger, wenn sie öffentliche Wege nutzen?
Wenn Sie als Radfahrer oder Fußgänger öffentliche Wege nutzen, gelten grundlegende Erwartungen an Ihr Verhalten, die sich aus der sogenannten Vorsichtspflicht ergeben. Diese Pflicht bedeutet, dass Sie nicht nur auf Ihre eigene Sicherheit achten, sondern auch die Sicherheit anderer Verkehrsteilnehmer berücksichtigen müssen. Es geht darum, dass sich jeder aufmerksam und rücksichtsvoll verhält, um Gefahren für sich und andere zu vermeiden.
Erwartungen an den „durchschnittlichen Benutzer“
Das Gesetz geht bei der Nutzung öffentlicher Wege von einem durchschnittlich aufmerksamen und umsichtigen Benutzer aus. Für Sie bedeutet das:
- Rechnen Sie mit typischen Unebenheiten: Öffentliche Wege sind selten perfekt. Sie müssen damit rechnen, dass kleinere, übliche Mängel wie leichte Risse im Asphalt, Wurzelaufbrüche, abgesenkte Bordsteine oder kleine Schlaglöcher vorhanden sein können. Für solche gewöhnlichen Unebenheiten ist in der Regel keine besondere Warnung oder Absicherung nötig. Die Erwartung ist, dass Sie diese erkennen und entsprechend reagieren.
- Passen Sie Ihre Geschwindigkeit an: Besonders als Radfahrer ist Ihre Geschwindigkeit stets an die Gegebenheiten des Weges, die Sichtverhältnisse, das Verkehrsaufkommen und die Wetterlage anzupassen. Auch als Fußgänger sollten Sie Ihre Geschwindigkeit der Situation anpassen, etwa wenn der Weg sehr belebt ist oder die Sicht eingeschränkt ist. Es gilt der Grundsatz, so zu fahren oder zu gehen, dass Sie jederzeit sicher reagieren können.
- Achten Sie auf Ihre Umgebung: Seien Sie stets aufmerksam und beobachten Sie Ihre Umgebung. Dies ist besonders wichtig an sogenannten Schnittstellen verschiedener Verkehrsflächen – also dort, wo zum Beispiel ein Gehweg, ein Radweg oder eine Fahrbahn zusammentreffen. Stellen Sie sich einen Zebrastreifen, eine Einmündung oder eine Bushaltestelle vor: Hier ist erhöhte Vorsicht geboten, da andere Verkehrsteilnehmer unvermittelt auftauchen oder ihre Richtung ändern könnten. Ein Blickkontakt mit anderen hilft dabei, Missverständnisse zu vermeiden und Konflikte zu verhindern.
Das Ziel dieser Verhaltensanforderungen ist es, ein Bewusstsein für die eigene Vorsichtspflicht zu schaffen. Indem Sie diese allgemeinen Erwartungen beachten, können Sie nicht nur Ihre eigene Sicherheit erhöhen, sondern auch dazu beitragen, das Miteinander auf öffentlichen Wegen sicherer und reibungsloser zu gestalten.
Hinweis: Bitte beachten Sie, dass die Beantwortung der FAQ Fragen keine individuelle Rechtsberatung darstellt und ersetzen kann. Alle Angaben im gesamten Artikel sind ohne Gewähr. Haben Sie einen ähnlichen Fall und konkrete Fragen oder Anliegen? Zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren. Wir klären Ihre individuelle Situation und die aktuelle Rechtslage.
Glossar
Juristische Fachbegriffe kurz erklärt
Verkehrssicherungspflicht
Die Verkehrssicherungspflicht ist die rechtliche Verpflichtung desjenigen, der eine Gefahrenquelle schafft oder kontrolliert – etwa eine Gemeinde als Eigentümerin einer Straße – dafür zu sorgen, dass von dieser Gefahrenquelle keine unzumutbaren Risiken für andere ausgehen. Dabei müssen alle notwendigen und zumutbaren Maßnahmen ergriffen werden, um Gefahren zu beseitigen oder deutlich erkennbar zu machen. Es genügt nicht, jeden denkbaren Unfall zu verhindern; öffentliche Wege müssen nur so gestaltet sein, dass ein durchschnittlicher Nutzer mit etwas Aufmerksamkeit gefahrlos zurechtkommt. Beispiel: Eine Gemeinde muss Schlaglöcher in Gehwegen reparieren, braucht aber keinen perfekten Weg ohne jede Unebenheit gewährleisten.
Amtshaftung (§ 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG)
Die Amtshaftung regelt die Haftung des Staates oder seiner Beamten für Schäden, die durch pflichtwidriges Verhalten im Dienst entstehen. Verletzt eine Behörde – hier die Gemeinde – eine Amtspflicht wie die Verkehrssicherungspflicht, kann sie für daraus folgende Schäden haften. Voraussetzung ist, dass ein Beamter oder Angestellter seine dienstlichen Pflichten verletzt hat (Amtspflichtverletzung). Beispiel: Wenn eine Gemeinde nicht rechtzeitig Gefahrenquellen auf einer Straße beseitigt und dadurch jemand verletzt wird, kann sie unter Amtshaftung in Anspruch genommen werden.
Überobligatorische Maßnahme
Eine überobligatorische Maßnahme ist eine freiwillige oder weitergehende Sicherheitsmaßnahme, die über die eigentliche Verkehrssicherungspflicht hinausgeht. Wird eine Unfallstelle nachträglich z.B. mit einer zusätzlichen Markierung versehen, bedeutet dies nicht automatisch, dass vor dem Unfall eine Pflichtverletzung vorlag oder die Gemeinde haftet. Solche Maßnahmen können rein vorsorglich ergriffen werden, um künftige Unfälle zu vermeiden. Beispiel: Eine Gemeinde bringt zur Erhöhung der Sichtbarkeit einer Bordsteinkante eine farbliche Markierung an, obwohl die Verkehrssicherungspflicht dies nicht zwingend verlangt.
Mitverschulden (§ 254 BGB)
Mitverschulden liegt vor, wenn ein Geschädigter durch eigenes Verhalten den Schaden mitverursacht hat. Bei einem Unfall führt ein Mitverschulden dazu, dass der Anspruch auf Schadensersatz entsprechend gekürzt wird oder ganz entfällt, je nach Schwere des Beitrags. Im Fall der Radfahrerin bedeutete grobe Unaufmerksamkeit oder unangemessene Fahrweise, dass ihr Anteil am Unfallgewicht hoch war und die Haftung der Gemeinde zurücktrat. Beispiel: Wer eine bekannte Unebenheit im Weg übersieht und deswegen stürzt, kann eine Kürzung seines Anspruchs wegen Mitverschuldens erleiden.
Haftungsbegründende Unebenheit
Eine haftungsbegründende Unebenheit ist ein Mangel oder eine Gefahrenstelle auf einem öffentlichen Weg, die über das übliche Maß an typischen Unebenheiten hinausgeht, für den Nutzer nicht erkennbar oder nicht erwartbar ist und deshalb die Haftung des Wegehalters (z. B. Gemeinde) auslösen kann. Kleine und übliche Unebenheiten muss der Nutzer gewöhnlich hinnehmen. Die Haftung entsteht erst, wenn eine erhebliche Gefahr besteht, die nicht offensichtlich ist oder für die eine Schutzmaßnahme zumutbar gewesen wäre. Beispiel: Ein tiefer, durch Laub verdeckter Spalt im Bürgersteig, über den niemand vernünftig hinwegsehen kann, stellt eine haftungsbegründende Unebenheit dar.
Wichtige Rechtsgrundlagen
- § 839 Abs. 1 Satz 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG (Amtshaftung): Dieser Rechtsgrundsatz regelt die Haftung des Staates oder seiner Körperschaften für Pflichtverletzungen ihrer Beamten oder Angestellten, wobei eine Amtspflichtverletzung Voraussetzung für Schadensersatzansprüche ist. | Bedeutung im vorliegenden Fall: Die Klägerin macht geltend, dass die Gemeinde durch Verletzung ihrer Verkehrssicherungspflicht als Amtsträger haftet, was das Landgericht und Oberlandesgericht jedoch ablehnten, da keine Amtspflichtverletzung vorliegt.
- Verkehrssicherungspflicht: Die Pflicht des Straßenbaulastträgers, Gefahrenquellen auf Verkehrsflächen zu erkennen und zu sichern, sofern diese für durchschnittliche Nutzer nicht erkennbar und vermeidbar sind. Eine Gefahrenquelle besteht nur, wenn die durchschnittliche Sorgfalt der Nutzer keine adäquate Risikominimierung erlaubt. | Bedeutung im vorliegenden Fall: Das Gericht stellt fest, dass der kleine Höhenunterschied und die Gestaltung der Bordsteinkante eine erkennbare, zumutbare Verkehrsbedingung darstellen und daher keine Verkehrssicherungspflichtverletzung vorliegt.
- § 254 BGB (Mitverschulden): Hiernach kann eine Schadenersatzpflicht entfallen oder gemindert werden, wenn der Geschädigte durch eigenes Verhalten zum Unfall beiträgt. | Bedeutung im vorliegenden Fall: Selbst falls eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht angenommen würde, überschreitet das Verhalten der Klägerin – insbesondere das Überfahren des Bordsteins unter mangelnder Sorgfalt – den Rahmen der Selbstverantwortung nicht, sodass sie ein überwiegendes Mitverschulden trifft.
- § 522 Abs. 2 ZPO (Berufungsrügekürzung): Diese Vorschrift erlaubt eine Zurückweisung der Berufung ohne mündliche Verhandlung, wenn die Berufung offensichtlich unbegründet ist und keine grundsätzliche Bedeutung hat. | Bedeutung im vorliegenden Fall: Das Oberlandesgericht wies die Berufung der Klägerin aus diesem Grund zurück, da das Landgericht rechtsfehlerfrei und auf tragfähiger Tatsachenbasis entschieden hatte.
- Allgemeine anerkannte Regeln der Technik: Diese beschreiben den technischen Standard bei der Gestaltung von Verkehrsflächen und dienen als Maßstab für die zulässige Ausführung von Bauwerken. | Bedeutung im vorliegenden Fall: Die Bordsteinkante entspricht den anerkannten technischen Standards, insbesondere hinsichtlich Höhe und Gestaltung, was das Mitverschulden und die Abweisung der Haftungsansprüche der Klägerin unterstützt.
- Grundsatz der Eigenverantwortung der Verkehrsteilnehmer: Nutzer öffentlicher Verkehrsflächen haben eine erhöhte Aufmerksamkeitspflicht und müssen mit typischen Gefahren, wie kleinen Unebenheiten oder Höhenunterschieden, rechnen. | Bedeutung im vorliegenden Fall: Das Gericht betont, dass Frau M. zumutbarerweise mit einem Höhenunterschied am Übergang rechnen musste und ihre Fahrweise darauf hätte abstimmen müssen, weshalb kein Haftungsanspruch gegen die Gemeinde besteht.
Das vorliegende Urteil
Oberlandesgericht Schleswig-Holstein – Az.: 7 U 8/25 – Beschluss vom 02.04.2025
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Ich bin seit meiner Zulassung als Rechtsanwalt im Jahr 2003 Teil der Kanzlei der Rechtsanwälte Kotz in Kreuztal bei Siegen. Als Fachanwalt für Verkehrsrecht und Fachanwalt für Versicherungsrecht, sowie als Notar setze ich mich erfolgreich für meine Mandanten ein. Weitere Tätigkeitsschwerpunkte sind Mietrecht, Strafrecht, Verbraucherrecht, Reiserecht, Medizinrecht, Internetrecht, Verwaltungsrecht und Erbrecht. Ferner bin ich Mitglied im Deutschen Anwaltverein und in verschiedenen Arbeitsgemeinschaften. Als Rechtsanwalt bin ich bundesweit in allen Rechtsgebieten tätig und engagiere mich unter anderem als Vertragsanwalt für […] mehr über Dr. Christian Gerd Kotz