LG Köln – Az.: 11 S 333/16 – Urteil vom 16.05.2017
Auf die Berufung wird das Urteil des Amtsgerichts Köln vom 19.08.2016, 269 C 145/15, teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 1.371,00 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 17.06.2015 sowie vorgerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 334,75 EUR zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens tragen die Beklagten. Die Kosten des Rechtsstreits erster Instanz tragen der Kläger zu 1/3 und die Beklagten zu 2/3.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
I.
Die Parteien streiten über Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall, der sich am 00.00.00 auf der W-Straße in Köln ereignet hat. Der Kläger befuhr mit seinem Fahrzeug die rechte von zwei Geradeausspuren, der Beklagte zu 1. mit seinem Fahrzeug die linke. Die Parteien streiten darüber, welches Fahrzeug auf die Fahrspur des jeweils anderen Fahrzeugs geraten ist.
Von der Darstellung der weiteren tatsächlichen Feststellungen wird gemäß § 313 a Abs. 1 Satz 1, 540 ZPO abgesehen.
II.
Die Berufung hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet.
Der Kläger hat gegen die Beklagten über die bereits außergerichtlich regulierten Beträge hinaus einen Anspruch auf Schadensersatz in Höhe von weiteren 1.371,00 EUR aus §§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 1, 2, 18 Abs. 1 StVG, § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG. Soweit das Amtsgericht diesen Anspruch verneint hat, war dem nicht zu folgen.
Zuzustimmen ist dem Vordergericht zwar darin, dass sich der Umfang der Ersatzpflicht der Parteien hier nach § 17 Abs. 1, 2 StVG richtet, da keine der Parteien hat darlegen und beweisen können, dass der Unfall für sie ein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 17 Abs. 2 StVG darstellte oder gem. § 7 Abs. 2 StVG auf höhere Gewalt zurückzuführen war.
Nicht frei von Rechtsfehlern ist allerdings die Auffassung des Amtsgerichts, dass der Kläger nicht habe beweisen können, dass der Unfall durch einen Spurwechsel des Beklagten zu 1. verursacht worden war. Zwar hat gem. § 529 Abs. 1 Ziffer 1 ZPO das Berufungsgericht die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen grundsätzlich seiner Entscheidung zugrunde zu legen und ist die Beweiswürdigung grundsätzlich Sache des Tatrichters erster Instanz. Dies gilt gem. § 529 Abs. 1 Ziffer 1 ZPO aber nicht, soweit konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der Feststellungen begründen. Die Beweiswürdigung des Tatrichters ist insoweit berufungsrechtlich darauf überprüfbar, ob sie in sich widersprüchlich ist, ob sie den Denkgesetzen oder allgemeinen Erfahrungssätzen zuwiderläuft und ob Teile des Beweisergebnisses bzw. des Inhalts der mündlichen Verhandlung ungewürdigt geblieben sind. Letzteres ist hier der Fall.
Gem. § 286 ZPO hat das Gericht seine Überzeugung unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der mündlichen Verhandlung und dem Ergebnis der Beweisaufnahme zu bilden. Den Inhalt der mündlichen Verhandlung hat das Amtsgericht ausweislich der Urteilsgründe bei seiner Überzeugungsbildung aber weitgehend unberücksichtigt gelassen. Es hat sich bei seiner Feststellung, dass der Unfallhergang unaufklärbar sei, allein darauf gestützt, dass das Sachverständigengutachten eine technische Klärung nicht herbeiführen konnte und dass die Parteien unterschiedliche Unfallhergänge geschildert haben, das Gericht aber keine Anhaltspunkte dafür habe, einer der Parteien mehr Glauben zu schenken als der anderen. Warum letzteres der Fall ist, hat es jedoch nicht ausgeführt. Insbesondere hat es unberücksichtigt gelassen, dass es zahlreiche unstreitige Umstände des Unfallgeschehens gibt, die ggf. einen Rückschluss auf die Richtigkeit der klägerischen Behauptungen zum Unfallhergang zulassen. Dies stellt einen Rechtsfehler dar, denn Gegenstand einer Beweiswürdigung sind grundsätzlich auch mittelbare Tatsachen, die geeignet sind, einen logischen Rückschluss auf den unmittelbaren Beweistatbestand zu begründen – sogenannter Indizienbeweis (Zöller-Greger, ZPO, 31. Aufl., 2016, § 286, Rn. 9a). Vor diesem Hintergrund hätte es auch einer näheren Würdigung der Angaben der Parteien aus ihren persönlichen Anhörungen bedurft, da auch diese als Inhalt der mündlichen Verhandlung bei der Entscheidungsfindung nach § 286 ZPO zu berücksichtigen sind. In Ausnahmefällen kann eine Überzeugungsbildung sogar maßgeblich auf die Würdigung der Parteibehauptungen gestützt werden (vgl. BGH, NJW 1982, 940; Zöller-Greger, a.a.O., § 286, Rn. 14).
Die fehlende unvollständige Würdigung des Inhalts der mündlichen Verhandlung durch das Amtsgericht war auch entscheidungserheblich. Unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der mündlichen Verhandlung, insbesondere des protokollierten persönlichen Vorbringens des Klägers und des Beklagten zu 1. und der unstreitigen Umstände des Unfallgeschehens, sowie bei Beachtung des Ergebnisses der Beweisaufnahme, wonach ein Spurwechsel des Beklagten zu 1. jedenfalls technisch mit dem Schadensbild in Einklang zu bringen ist, ist die Kammer im gem. § 286 ZPO gebotenen Maße davon überzeugt, dass der streitgegenständliche Verkehrsunfall dadurch verursacht wurde, dass der Beklagte zu 1. mit dem von ihm gefahrenen Fahrzeug von der linken Geradeausspur nach rechts auf die vom Kläger befahrene rechte Geradeausspur wechselte und dort mit dessen Fahrzeug kollidierte. Die nach § 286 ZPO erforderliche Überzeugung der Kammer erfordert keine absolute oder unumstößliche Gewissheit und auch keine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit. Ausreichend, aber auch zwingend erforderlich, ist ein für das praktische Leben brauchbarer Grad an Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet (BGH, NJW 2008, 2845; BGH, NJW 2008, 1380). Diesen Grad an Gewissheit konnte sich die Kammer bilden, wobei sie sich insbesondere auf eine Gesamtschau der nachfolgend im Einzelnen dargelegten Umstände stützt:
Zunächst ist zu beachten, dass es unstreitig ist, dass der Beklagte zu 1. tatsächlich auf bzw. über die rechte Geradeausspur, die schräg hinter ihm vom Kläger befahren wurde, wechseln wollte und nach eigener Schilderung auch jedenfalls im unmittelbaren Begriff stand, diesen Spurwechsel durchzuführen.
Unstreitig und nach Schilderung beider angehörten Parteien hat der Kläger dann unmittelbar vor dem Zusammenstoß gehupt. Dies erscheint als deutliches Indiz für einen eingeleiteten Spurwechsel des Beklagten zu 1., denn ein Hupen des Klägers in dieser Situation ist lebensnah nur dann nachvollziehbar, wenn er dies tat, weil er vor sich den Beklagten zu 1. nach rechts ziehen sah und diesen durch die Hupe auf sich und die Gefahrensituation aufmerksam machen wollte. Dass demgegenüber jemand hupt, bevor er selbst auf eine linke Spur gerät, auf der sich unmittelbar vor ihm und in seinem Sichtfeld auf seiner Fahrerseite ein anderes Fahrzeug befindet, erscheint lebensfremd. In einer solchen Situation lässt sich ein Unfall unschwer dadurch verhindern, dass man in dem Moment, in dem das andere Fahrzeug bemerkt wird, das Lenkrad schlicht wieder nach rechts zieht anstatt zu hupen. Dies dürfte auch der typische Reflex bzw. die typische unwillkürliche Sofortreaktion eines Autofahrers in einer solchen Situation darstellen (zu derartigen Sofortreaktionen bzw. Reflexen vgl. Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 4. Aufl., 2014, Rn. 148).
Die Schilderung des Klägers im Rahmen seiner persönlichen Anhörung ist insgesamt glaubhaft. Sie ist homogen, in sich widerspruchsfrei und im Kern- und Randgeschehen detailliert. Er hat auch plausibel geschildert, dass er auf dem Weg nach Hause nach rechts auf die Abbiegespur und dann in den C-Weg fahren wollte, also keinen Anlass hatte, auf die linke Spur zu wechseln. Der Kläger war zum Unfallzeitpunkt hinsichtlich der Fahrweise des Beklagten zu 1. auch wahrnehmungsfähig, da dieser vor ihm in seinem Sichtfeld fuhr. Die Schilderung des Beklagten zu 1. erscheint demgegenüber unsicher und teilweise widersprüchlich bzw. wechselhaft. So schilderte der Beklagte zu 1. in seiner persönlichen Anhörung zunächst, dass er vor dem Unfall „den Blinker nach rechts gesetzt und zum Rüberfahren angesetzt“, er dann ein Hupen gehört und es dann sofort geknallt habe (Bl. 65 r d.A.). Erst danach hat er mehrfach erklärt, dass er die Spur zum Zeitpunkt der Kollision noch nicht verlassen gehabt habe. Was vor diesem Hintergrund dann aber genau „zum Rüberfahren angesetzt“ heißen soll, ist unklar. Auch fällt auf, dass der Beklagte zu 1. angegeben hat, das klägerische Fahrzeug erst durch den Zusammenstoß erstmals in dieser Situation bemerkt zu haben. Entgegen der Mutmaßung der Beklagtenseite lässt sich dies aber nicht auf eine deutlich überhöhter Geschwindigkeit des Klägerfahrzeugs zurückführen, denn der Sachverständige hat in seinem nachvollziehbaren Gutachten lediglich festgestellt, dass das klägerische Fahrzeug zum Kontaktzeitpunkt allenfalls einen geringfügigen Geschwindigkeitsüberschuss gehabt haben kann (Bl. 90 d.A.). Der Umstand, dass der Beklagte zu 1. das Klägerfahrzeug nicht vor der Kollision bemerkt hat, lässt damit auf eine Unaufmerksamkeit seinerseits zum Unfallzeitpunkt schließen.
Auch aus anderen Gründen erscheint die Behauptung des Beklagten zu 1., dass er zum Zeitpunkt der Kollision seine Spur noch nicht verlassen gehabt habe, wenig glaubhaft. In der Klageerwiderung erklärt die Beklagtenseite, warum der Beklagte zu 1. sich so sicher sei, dass er seine Spur nicht verlassen habe. Dort führen sie aus, der Beklagte zu 1. habe unmittelbar nach dem verspürten Anstoß seine Position auf der linken Geradeausspur kontrolliert (Bl. 42 d.A.). Allein auf diese subjektive Beobachtung des Beklagten zu 1. stützt sich letztlich die gesamte Behauptung der Beklagtenseite, wonach der Beklagte, der ja unstreitig gerade nach rechts ziehen wollte, noch auf seiner Spur gewesen sein soll. Eine solche angebliche Beobachtung ist aber in keiner Weise verlässlich. Zum einen würde sie selbst bei Wahrunterstellung keine verlässliche Information über die Fahrzeugpositionen zum Zeitpunkt der Kollision geben, denn der Beklagte kann wegen des verspürten Anstoßes sein Fahrzeug auch unwillkürlich wieder nach links gelenkt haben oder es kann sein Auto durch die Kollision wieder etwas nach links geschoben worden sein, bevor er die Position seines Fahrzeuges angeblich kontrollierte. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass er selbst einräumt, auf seiner Spur sehr nah an der rechten Begrenzungslinie gewesen zu sein (Bl. 42 d.A.), und dass nach übereinstimmender Schilderung beider Parteien das Fahrzeug der Beklagtenseite durch den Unfall etwas ins Schlingern bzw. Wackeln geraten war. Zum anderen hält die Kammer es aber auch für äußerst unwahrscheinlich, dass der Beklagte zu 1. in der beschriebenen Unfallsituation überhaupt über die erforderliche Wahrnehmungsfähigkeit und -bereitschaft verfügt haben soll, die Position seines Fahrzeugs auf den Fahrstreifen sicher zu verorten. Es ist wahrnehmungspsychologisch erwiesen, dass gerade bei unerwartet und schnell ablaufenden Ereignissen wie einem Verkehrsunfall die Wahrnehmungsfähigkeit eines Menschen erheblich eingeschränkt ist und solche Ereignisse daher eine Vielzahl von Fehlerquellen aufweisen, die zu Irrtümern des Wahrnehmenden führen können (vgl. Bender/Nack/Treuer, a.a.O., Rn. 27, 28; OLG Frankfurt a.M., Urteil vom 09.10.2012, 22 U 109/11). Dies gilt für den Beklagten zu 1. in besonderem Maße deshalb, weil er nach eigener Abgabe das klägerische Fahrzeug vor der Kollision nicht wahrgenommen, sondern erst durch den Zusammenstoß erstmals bemerkt hatte. Hinzu kommt, dass der Beklagte zu 1. nach eigener Auskunft in seiner persönlichen Anhörung unmittelbar nach dem Anstoß maßgeblich damit beschäftigt war, sein schlingerndes Fahrzeug wieder zu stabilisieren (Bl. 65 d.A.), weswegen es unwahrscheinlich erscheint, dass er in dieser Situation seine Konzentration verlässlich auf die Position seines Fahrzeugs richten konnte.
Zuletzt erscheint der Kammer auch der unstreitige Umstand, dass der Beklagte zu 1. unmittelbar nach dem Verkehrsunfall den Kläger angerufen hat, um sich nach der Höhe seines Schadens zu erkundigen, um diese ggf. selbst zu übernehmen, als in der Gesamtschau stimmiges Indiz dafür, dass es der Beklagte zu 1. war, der die Spur gewechselt hat. Ein derartiges Verhalten erscheint nicht lebensnah, wenn man einen Unfall durch den Spurwechsel oder das Auffahren eines anderen Verkehrsteilnehmers erlitten hat.
Dafür, dass der Beklagte zu 1. bei seinem Fahrstreifenwechsel nicht die ihm gemäß § 7 Abs. 5 StVO obliegende größtmögliche Sorgfalt angewandt hat, spricht der Beweis des ersten Anscheins. Diesen Anscheinsbeweis haben die Beklagten nicht zu erschüttern vermocht. Infolge dieses Verstoßes haften die Beklagten gem. § 17 Abs. 1, 2 StVG für die aus dem Unfall entstandenen Schäden zu 100%. Umstände, die trotz des maßgeblichen Verursachungsbeitrages und des Sorgfaltspflichtverstoßes des Beklagten zu 1. eine Mithaftung des Klägers begründen könnten, liegen nicht vor.
Der Höhe nach ist der Anspruch gegeben. Der Kläger macht im Rahmen der Berufung nur noch den unstreitigen Schadensumfang geltend, welcher sich auf insgesamt 2.742,02 EUR beläuft (vgl. Bl. 140 d.A.). Hierauf hat die Beklagte zu 2. bereits einen Betrag von 1.371,02 EUR gezahlt, sodass eine offene Forderung des Klägers in Höhe von 1.371,00 EUR verbleibt.
Die geltend gemachten vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 334,75 EUR sind ebenfalls erstattungsfähig. Sie ergeben sich bei Zugrundelegung eines Gegenstandswertes in Höhe der insgesamt aufgrund des Unfalls berechtigten Forderung des Klägers von 2.742,02 EUR.
Der Zinsanspruch ergibt sich aus §§ 288 Abs. 1, 286 BGB.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91, 92 ZPO, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.
Berufungsstreitwert: 1.371,00 EUR