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Verkehrsunfall beim Auffahren auf Autobahn bei stockender Verkehrslage

AG Frankenthal – Az.: 3a C 364/16 – Urteil vom 30.08.2018

1. Das Versäumnisurteil des Amtsgerichts Frankenthal (Pfalz) vom 05.05.2017 wird aufgehoben und die Klage abgewiesen.

2. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin mit Ausnahme der durch die Säumnis im schriftlichen Vorverfahren entstandenen Kosten, die den Beklagten als Gesamtschuldnern auferlegt werden.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar; die Klägerin kann die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagten vor Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leisten.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt als Leasingnehmerin des Pkw BMW 740d xDrive, amtliches Kennzeichen D…, mit ihrer in die holländische Sprache übersetzten und am 21.03.2017 zugestellten Klage von der Beklagten zu 1) als Halterin und dem Beklagten zu 2) als Fahrer des bei der Beklagten zu 3) haftpflichtversicherten Lkw, amtliches Kennzeichen O…, Schadensersatz aufgrund eines Verkehrsunfalles vom 09.05.2016 gegen 8.30 Uhr auf der BAB 6 am Frankenthaler Kreuz Richtung Ludwigshafen. Zu diesem Zeitpunkt herrschte aufgrund einer Baustelle stockender bis stehender Verkehr. Bei dem Unfall wurde das klägerische Fahrzeug am Heck hinten links beschädigt.

Unter Berücksichtigung des vorgerichtlich eingeholten Schadensgutachtens des Kfz-Sachverständigenbüros D…vom 19.05.2016 bezifferte die Klägerin die Reparaturkosten netto auf 3.249,50 Euro; daneben begehrt die Klägerin eine Kostenpauschale in Höhe von 25,00 Euro sowie die Kosten für das Schadensgutachten in Höhe von 649,80 Euro sowie eine Wertminderung von 900,00 Euro.

Die Klägerin begehrt neben der Zahlung des Schadensersatzes von insgesamt 4.824,30 Euro die Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 492,54 Euro, wegen der Berechnung wird auf Bl. 3 d.A. Bezug genommen.

Die Klägerin trägt vor, dass der Geschäftsführer A…von der Auffahrtsspur kommend auf die A 61 in eine Lücke vor dem Beklagtenfahrzeug eingefahren und dort stehen geblieben sei, als plötzlich der Beklagte zu 2) unversehens angefahren und mit dem klägerischen Fahrzeug kollidiert sei. Der Beklagte zu 2) habe den Unfall allein verschuldet. Die Beklagte zu 3) hat mit Schreiben vom 07.09.2016 eine Regulierung endgültig abgelehnt.

Die Klägerin beantragt:

1. Die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin EUR 4.824,30 nebst 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz nach DÜG hieraus seit dem 09.06.2016 zu zahlen.

2. Die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin Verzugsfolgen in Höhe von EUR 492,54 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Nach Anordnung des schriftlichen Vorverfahrens gemäß § 276 Abs. 1 ZPO erging aufgrund der Säumnis der Beklagten am 05.05.2017 antragsgemäß 1. Versäumnisurteil, das nach Übersetzung in die holländische Sprache den Prozessbevollmächtigten der Beklagten am 30.06.2017 zugestellt wurde.

Die Beklagten haben am 04.07.2017 Einspruch eingelegt und tragen hierzu vor, die Aktivlegitimation der Klägerin müsse mit Nichtwissen bestritten werden. Der Geschäftsführer der Klägerin habe sich nach Befahren der Sperrfläche vor den Beklagten-Lkw gedrängt, als dieser gerade in Vorwärtsbewegung gewesen sei. Das Geschehen selbst sei als Spurwechsel zu qualifizieren, das Verschulden müsse der Klägerin angelastet werden für das grob verkehrswidrige Verhalten des Fahrzeugführers.

Die Beklagten beantragen, das Versäumnisurteil des Amtsgerichts Frankenthal (Pfalz) vom 05.05.2017 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin hat ergänzend ausgeführt, dass nach den zugrunde liegenden Leasingbedingungen die Aktivlegitimation für die Geltendmachung des Schadensersatzes bestünde.

Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlage Bezug genommen.

Das Amtsgericht hat den Geschäftsführer A…sowie den Beklagten zu 2) persönlich angehört, § 141 ZPO, sowie ein schriftliches Gutachten des Sachverständigen Dr.-Ing. D…vom 25.05.2018 eingeholt; wegen der Ergebnisse wird auf den Inhalt der Sitzungsniederschrift vom 31.08.2017 (Bl. 128 ff. d.A.) sowie auf Bl. 200 ff. d.A. Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Verkehrsunfall beim Auffahren auf Autobahn bei stockender Verkehrslage
(Symbolfoto: Von WildMedia/Shutterstock.com)

Der zulässige, insbesondere form- und fristgerechte Einspruch der Beklagten hat in der Sache Erfolg. Das Versäumnisurteil war an die sich mit Schreiben vom 29.06.2017 für die Beklagten legitimierenden Prozessbevollmächtigten zuzustellen, § 331 Abs. 3 Satz 1 Hs. 2 ZPO, (Musielak / Voit ZPO, 14. Aufl. 2017 Rn. 9 § 276 ZPO m.w.N).

Die zulässige Klage ist unbegründet.

Das Amtsgericht Frankenthal (Pfalz) ist gemäß § 32 ZPO, Art. 9 Abs. 1 lit. b, 11 EuGVVO örtlich und sachlich gemäß § 23 Nr. 1 GVG sachlich zuständig.

Nach dem Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme hat die Klägerin bereits dem Grunde nach keinen Anspruch gegen die Beklagten als Gesamtschuldner auf Zahlung von Schadensersatz gemäß §§ 7, 17, 18 StVG, § 823 Abs. 1, §§ 249 ff. BGB, §§ 18 Abs. 3, Abs. 7, 1 StVO, § 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG.

Zwar hat der Geschäftsführer H… angegeben, § 455 Abs. 1 Satz 1 ZPO, § 35 GmbHG, er habe sich zunächst auf dem Beschleunigungsstreifen befunden und sei dann zwischen zwei Lkws auf die rechte Fahrtrichtungsspur gefahren, dort habe er gestanden, als das Beklagtenfahrzeug angefahren sei und ihn gerammt habe. Auf den durch die Klagepartei vorgelegten Lichtbildern ist indes zu erkennen, dass sich im Bereich der Kollision eine Sperrfläche befindet. Auch der Zeuge J… hat angegeben, dass sie relativ am Anfang des Beschleunigungsstreifens auf die rechte Fahrtrichtungsspur aufgefahren seien. Der Beklagten-Lkw habe zunächst hinter ihnen gestanden und sei dann unvermittelt angefahren. Demgegenüber hat der Beklagte zu 2) bei seiner Anhörung gemäß § 141 ZPO angegeben, dass der Verkehr gestanden habe und dann wieder in Fluss geraten sei. Er sei dann auch angefahren. Er sei im Anfahren begriffen gewesen, als das klägerische Fahrzeug auf seine Fahrbahn gewechselt habe. Seine Geschwindigkeit habe ca. 5 km/h betragen, er habe nicht gebremst, da er das Fahrzeug, das aus dem toten Winkel gekommen sei, nicht gesehen habe.

Der Sachverständige Dr.-Ing. L… kommt in seinem schriftlichen Sachverständigengutachten – eine Tachoscheibe konnte durch die Beklagte nicht mehr vorgelegt werden – nachvollziehbar und widerspruchsfrei zu dem Ergebnis, dass sich der Lastzug der Beklagten zum Zeitpunkt der Berührung der Fahrzeuge in vorwärtiger Bewegung befunden und auch das Klägerfahrzeug zum Zeitpunkt der Fahrzeugberührung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht gestanden, sondern sich in auch vorwärtiger Bewegung befunden habe. Dies könne aus den vorliegenden Beschädigungsbildern – selbst dann, wenn die Lichtbilder von der Unfallstelle nicht die Endstellung der beiden Fahrzeuge nach dem Anprall darstellen sollten -, insbesondere unter Berücksichtigung der Beschädigungen an dem Beklagten-Lastzug mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit angenommen werden. Daneben zeigen die beklagtenseits vorgelegten Lichtbilder, dass das Klägerfahrzeug von der Auffahrtsspur kommend über die Sperrfläche zwischen der Auffahrtsspur und der rechten Fahrspur der Hauptfahrbahn der A 61 in den Unfallbereich bewegt worden sei. § 18 Abs. 3 StVO verdrängt als Spezialregelung die des § 8 StVO. Der Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn, zu denen die Einfädelungsstreifen nicht gehören, hat Vorfahrt (BGH NJW 1986, 1044), auf deren Beachtung er vertrauen darf (OLG Köln, NZV 1999, 43; NZV 06, 420). Der Einfahrende ist also wartepflichtig und darf den durchgehenden Verkehr weder behindern noch gefährden (KG Berlin VM 96, 5; KG Berlin NZV 2000, 43). Eine Behinderung wird schon dann angenommen, wenn der Vorfahrtberechtigte zum Abbremsen veranlasst wird (OLG Karlsruhe, NZV 1996, 319). Dabei ist zwar zu berücksichtigen, dass den „Einfädelnden“ die Einfahrt auf die Autobahn zu ermöglichen ist. Dabei sind Ein- und Ausfädelungsstreifen straßenbautechnisch vorübergehende Verbreiterungen der Fahrbahn um einen weiteren Fahrstreifen, der ausschließlich dem zügigen Einfädeln in den durchgehenden Verkehr (Einfädelungsstreifen) dient. Sie sind nach VwV zu Z 340 III durch Leitlinien in Form von Breitstrichen zu markieren und dürfen vom durchgehenden Verkehr – ebenso wie die Standspur, § 2 Abs. 1 Satz 2 StVO – nur in Notfällen benutzt werden. Rechtlich gesehen sind sie im Verhältnis zur „durchgehenden Fahrbahn“ selbständige Fahrbahnen (gehören also nicht zu diesen, BGH(Z) StVE 39) und zwar der Einfädelungsstreifen der letzte Teil der einmündenden Fahrbahn.

Für das Einfahren vom Einfädelungsstreifen in die durchgehende Fahrbahn, das an jeder nicht z.B. durch Zeichen 295 gesperrten Stelle des Streifens in beliebiger Reihenfolge zulässig ist, gelten daher die Regeln der Vorfahrt, nicht diejenigen der Benutzung derselben Fahrbahn, insbesondere des Überholens. Nur der Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn (einschließlich der Kriechspur) hat nach § 18 Abs. 3 StVO die Vorfahrt. Dabei gilt das Rücksichtnahmegebot, allerdings rechtfertigt das niedrige Beschleunigungsvermögen eines voll beladenen Sattelzuges keinen „gewaltsamen Spurwechsel“ vom Einfädelungsstreifen der Autobahn ohne Rücksicht auf den durchgehenden Verkehr (OLG Hamm NZV 01, 85). Dabei verletzt derjenige die Vorfahrt gröblich, wenn er in eine Autobahn einfährt, obwohl auf dem rechten Fahrstreifen bereits ein anderes Fahrzeug nahe herangekommen ist und durch das Einfahren zum Bremsen gezwungen wird (OLG Köln VRS 28, 143; VRS 65, 68). Dabei spricht der Anschein für ein Verschulden des vom Einfädelungsstreifen auf die Autobahn Einfahrenden, wenn es im unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang wie vorliegend zu einer Kollision des vorfahrtsberechtigten Verkehrs kommt. Den nach dem Vorgenannten gegen die Klägerin sprechenden Anscheinsbeweis der schuldhaften Unfallverursachung (Landgericht Saarbrücken, Urteil vom 12.03.2010 – 13 S 2015/09) vermochten die Klägerin nach dem Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme nicht zu widerlegen. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass das Überfahren der Sperrfläche bereits für sich genommen einen groben Verstoß gegen die Pflichten des Verkehrsteilnehmers darstellt, der auch bei der herrschenden stockenden Verkehrslage gehalten ist, vom Beschleunigungsstreifen auf die Fahrbahn aufzufahren und nicht um des schnelleren Fortkommens willen, die Sperrfläche zu befahren, weshalb die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs dahinter zurücktritt.

Nach dem Vorgenannten war daher das Versäumnisurteil vom 05.05.2017 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91, 343 ZPO.

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit hat ihre Rechtsgrundlage in §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

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