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Verkehrsunfall: Einnicken am Steuer und grobe Fahrlässigkeit

BGH, Az.: VI ZR 52/72, Urteil vom 05.02.1974

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des 2. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 26. Januar 1972 aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand

Einnicken am Steuer grob Fahrlässig
Symbolfoto: l i g h t p o e t/Bigstock

Der Beklagte war als Werkstattleiter einer Damenmantelfabrik in O. tätig. Betriebsleiter in demselben Unternehmen war Hans P.. Beide hatten am Vormittag des 22. März 1969 an einer Arbeitsbesprechung in einem auswärtigen Zweigbetrieb teilgenommen. Nach Beendigung der Besprechung und einem Mittagessen fuhren sie in einem dem Beklagten gehörigen Personenkraftwagen nach O. zurück. Nachdem der mit seiner Familie außerhalb O. wohnende Beklagte in seiner O. Unterkunft noch einige persönliche Gegenstände abgeholt hatte, wollte er P. in dessen Wohnung in O. absetzen. Gegen 15.30 Uhr befuhr er die Umgehungsstraße in Richtung M.-weg.. Kurz vor der Einmündung des P.-wegs ist die Umgehungsstraße gerade, vierspurig angelegt und für eine Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h zugelassen. Dort fuhr der Beklagte in geradliniger Fahrt immer näher an den Mittelstreifen heran; er geriet hierauf – seine Richtung beibehaltend – sogar auf die Gegenfahrbahn. Dort streifte er zunächst einen Lastkraftwagen und stieß dann frontal mit einem Personenkraftwagen zusammen, der diesem nachfolgte und seine äußerste rechte Fahrbahnseite eingehalten hatte. P. wurde dabei tödlich verletzt.

Die klagende Berufsgenossenschaft hat den Tod des P. als Arbeitsunfall anerkannt. Sie erbrachte und erbringt Leistungen an dessen Hinterbliebene.

Die Klägerin ist der Auffassung, der Beklagte habe den Unfall grob fahrlässig herbeigeführt. Sie erhebt gegen ihn Rückgriffsansprüche gemäß § 640 RVO im Wege der Leistungs- und Feststellungsklage.

Beide Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Die Revision des Beklagten erstrebt wie bisher ihre Abweisung.

Entscheidungsgründe

I.

Das Berufungsgericht schließt eine Sonnenblendung des Beklagten als Ursache seines Abirrens auf die Gegenfahrbahn aus. Desgleichen schließt es aus, dass ein Fahrzeugdefekt dafür ursächlich war. Schließlich hält es in Würdigung des Beweisergebnisses die Behauptung des Beklagten für widerlegt, dass er durch den angeblich eingeschlafenen P. in der Lenkung des Fahrzeugs behindert worden sei. Vielmehr hält das Berufungsgericht für erwiesen, dass der Unfall auf ein „Einschlafen oder sogenanntes Einnicken“ des Beklagten zurückzuführen ist.

An dieser tatrichterlichen Feststellung war das Berufungsgericht jedenfalls deshalb nicht gehindert, weil ein solcher Unfallverlauf von der Klägerin selbst hilfsweise behauptet worden war. Die Feststellung lässt auch im Übrigen keinen Rechtsirrtum erkennen und wird – in teilweiser Verkennung der sachlichen Rechtslage – von der Revision ohne Grund in Frage gestellt.

II.

Die derzeitigen Feststellungen rechtfertigen jedoch noch nicht zweifelsfrei das Urteil der groben Fahrlässigkeit im Sinne des § 640 RVO.

1. Das Berufungsgericht führt aus:

Schlafe ein Fahrzeugführer am Steuer seines Kraftfahrzeugs ein und verursache dadurch einen Verkehrsunfall, dann rechtfertige das in aller Regel den Vorwurf eines groben Verschuldens. Anderes möge allenfalls gelten, wenn nicht Übermüdung, sondern von außen auf den Fahrzeugführer einwirkende besondere Umstände (z.B. – vgl. OLG Celle VersR 1966, 946 – eine von der Fahrstrecke ausgehende starke Monotonie; vgl. dazu Kumme VersR 1969, 117, 118), zu einem lediglich augenblicklichen starken Versagen führe. Derartige Umstände lägen hier aber nicht vor; vielmehr hätten – wie das Berufungsgericht im einzelnen ausführt – die gesamten Umstände die Konzentrationsfähigkeit des Beklagten eher begünstigt. Das Berufungsgericht nimmt in diesem Zusammenhang auf den Beschluss des 4. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 18. November 1969 (BGHSt 23, 156 = NJW 1970, 520) Bezug. Aus dieser Entscheidung entnimmt es den Erfahrungssatz, dass ein Kraftfahrer, bevor er am Steuer seines Fahrzeugs einschläft, stets deutliche Zeichen der Ermüdung wahrnimmt oder wenigstens wahrnehmen kann.

2. Indessen vermag dieser Beschluss, der übrigens nicht ohne Widerspruch geblieben ist (vgl. Jagusch, Straßenverkehrsrecht, 20. Aufl. § 23 StVO Rdz. 13; dort Rdz. 12-14 auch Hinweise auf Rechtsprechung und Schrifttum zur Beurteilung des ermüdungsbedingten Versagens eines Kraftfahrers) die Stellungnahme des Berufungsgerichts für sich allein nicht zu rechtfertigen. Er besagt lediglich, dass das „Einnicken“ dem Fahrer, abgesehen von hier nicht gegebenen Sonderfällen, immer zum (einfachen) Verschulden gereicht. Früher hatten Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen (Urt. v. 16. April 1953 – 3 StR 837/52 – VRS 5, 374, 375; vom 24. Juni 1954 – 5 StR 233/54 – VRS 7, 181) noch die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass zum Einschlafen während der Fahrt auch ohne bei gehöriger Sorgfalt bemerkbare Prodromalerscheinungen (Vorzeichen) eintreten können (vgl. dazu auch das Senatsurteil vom 16. Januar 1959 – VI ZR 27/58 – VersR 1959, 445 ff). Auch der vom Berufungsgericht angeführte Beschluss besagt indessen nichts darüber, ob die Fahrlässigkeit, die sich im Nichtbemerken der Prodromalerscheinungen verwirklicht, sich als grobe i.S. des § 640 RVO darstellen muss.

a) Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen (vgl. das soeben erwähnte Senatsurteil vom 16. Januar 1959 – und später) ging schon immer davon aus, dass das Einschlafen am Steuer dem Kraftfahrer im Regelfall zum (einfachen) Verschulden gereicht; dabei wandte sie aber die Grundsätze des Beweises des ersten Anscheins an, die für die Feststellung der wesentlichen personalen Seite der groben Fahrlässigkeit im allgemeinen nicht tauglich sind (Senatsurteil vom 21. April 1970 – VI ZR 226/68 – LM RVO § 640 Nr. 4 = VersR 1970, 580 mit w. Nachw.). Es kann deshalb dahinstehen, inwieweit die Entscheidung des 4. Strafsenats hinsichtlich des Nachweises einfacher Fahrlässigkeit auch Anlass zu einer Überprüfung dieser Rechtsprechung in Zivilsachen gibt.

Die Feststellung der groben Fahrlässigkeit erfordert indessen jeweils die Überzeugung des Tatrichters, dass sich im konkreten Fall – was allerdings häufig zutreffen wird – der Kraftfahrer über die Bedenken hinweggesetzt hat, die sich angesichts typischer Ursachen oder deutlicher Vorzeichen der Ermüdung jedem aufdrängen mussten.

Die Nichterwartung des Einnickens gereicht dem Kraftfahrer deshalb mindestens regelmäßig zum Verschulden, weil er die Pflicht hat, die Schwankungen seiner physiologischen Leistungsfähigkeit ständig mit besonderer Sorgfalt zu beobachten (vgl. das oben angeführte Senatsurteil vom 16. Januar 1959 und später), und deshalb ein „Versagen“ bei der Erfüllung dieser Pflicht zu vertreten hat. Der Vorwurf aber, dass er sich über Bedenken hinweggesetzt habe, die sich jedem in seiner Lage Befindlichen „geradezu aufdrängen“ mussten, bedarf jeweils der Feststellung der besonderen Umstände, die im Einzelfall ein solches Urteil rechtfertigen. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass das Einschlafen am Steuer eines Kraftfahrzeugs objektiv zu den schwerwiegendsten Verkehrsverstößen gehört, wie sich im vorliegenden Fall an den sehr schweren Folgen gezeigt hat.

Allerdings hat das Bundesarbeitsgericht in seinem Urteil vom 29. Juni 1964 (1 AZR 434/63 – VRS 28, 77, 79) – vom Berufungsgericht irrtümlich als Entscheidung des Bundesgerichtshofs bezeichnet -ausgesprochen, es bedeute „in aller Regel“ ein grobes Verschulden, wenn ein Fahrer am Steuer einschlafe. Dem könnte vielleicht entnommen werden, dass entgegen der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs der Anscheinsbeweis für die Voraussetzungen der groben Fahrlässigkeit allgemein für zulässig erachtet werde. Das braucht indessen nicht geprüft zu werden, denn dieses Urteil steht der hier zu treffenden Entscheidung nicht entgegen. Einmal bezieht es sich nicht auf den in § 640 RVO normierten Tatbestand der groben Fahrlässigkeit, sondern auf die erst von der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts entwickelte mehrstufige Schuldbewertung bei der Frage der Haftung des Arbeitnehmers für Versagen bei gefahrgeneigter Arbeit (vgl. BGHZ 30, 40, 49). Zum anderen ist der erwähnte Satz für die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts nicht tragend, denn dieses hat sich (aaO S. 80) zu der eigenen Feststellung in der Lage gesehen, dass dem damals Beklagten „schweres Verschulden“ nicht nachgewiesen werden könne.

b) Nun ist die Feststellung der groben Fahrlässigkeit nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in erster Linie Sache des Tatrichters. Dieser ist dabei nicht selten genötigt, in freier Überzeugungsbildung vor allem bezüglich der personalen Seite aus äußeren Beweisanzeichen auf innere Tatsachen zu schließen. Im vorliegenden Fall hat das Berufungsgericht den Fahrverlauf zwar zunächst dahin gewürdigt, dass äußere Einflüsse allenfalls in einer für die Aufmerksamkeit des Fahrers günstigen Weise eingewirkt haben dürften. Es begründet dann aber seine Überzeugung von den Voraussetzungen groben Verschuldens mit dem in dem Beschluss des 4. Strafsenats (oben zu II 2) aufgestellten Satz, dass nach dem gegenwärtigen Stande der ärztlichen Wissenschaft ein Kraftfahrer vor dem Einschlafen am Steuer stets deutliche Zeichen der Ermüdung an sich wahrnehme oder doch wahrnehmen könne. Im Sinne dieses Beschlusses kann aber das Wort „deutlich“ nur im Sinne von „bei gehöriger Aufmerksamkeit erkennbar“ verstanden werden. Dass das Berufungsgericht sich dessen bewusst gewesen ist, erlaubt nach der Ansicht des Senats der Zusammenhang der Ausführungen des angefochtenen Urteils nicht mit der nötigen Sicherheit. Sollte das Berufungsgericht von einem Erfahrungssatz dahin ausgegangen sein, die Vorzeichen des Einschlafens am Steuer seien immer so deutlich, dass ihr Verkennen dem Fahrer nicht nur zum Verschulden, sondern zum groben Verschulden gereiche, dann könnte dem aufgrund der bisher vorliegenden Erkenntnisse nicht gefolgt werden.

Die angefochtene Entscheidung muss deshalb aufgehoben werden.

III.

Sollte das Berufungsgericht aufgrund der anderweiten Verhandlung bei der derzeit aus Rechtsgründen nicht zu beanstandenden Feststellung verbleiben, dass der Unfall auf einem „Einnicken“ des Beklagten beruht, dann wird es die vorstehenden Grundsätze zu beachten haben. Bei der abermaligen Feststellung groben Verschuldens wird es klarstellen müssen, dass es aufgrund der besonderen Umstände des gegenwärtigen Falles die Überzeugung erlangt hat, der Beklagte habe nicht nur bei der jedem Kraftfahrer obliegenden Pflicht zu ständiger, scharfer Selbstbeobachtung schuldhaft versagt, sondern sich über Umstände, die die Gefahr des Einnickens erkennbar machten, in einer Weise hinweggesetzt, die sein Verhalten als besonders vorwerfbar und damit sein Verschulden als ein grobes erscheinen lassen.

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