BGH, Az: VI ZR 263/74, Urteil vom 01.03.1977
Tatbestand
Am 22. März 1969 nahmen der Beklagte und sein Betriebsleiter P. an einer Arbeitsbesprechung in einem Zweigbetrieb ihres Arbeitgebers in B. teil. Nach deren Abschluß und einem gemeinsamen Mittagessen fuhren sie beide in einem dem Beklagten gehörenden Pkw nach ihrem Ausgangspunkt O. zurück. Der Beklagte wollte P. in dessen Wohnung absetzen, nachdem er vorher noch einige persönliche Gegenstände in seiner O. Unterkunft, in welcher er sich die Woche über aufhielt, abgeholt hatte.
Gegen 15.30 Uhr befuhr er die Umgehungsstraße in Richtung M.-Weg. Kurz vor der Einmündung des P.-Weges ist die Umgehungsstraße gerade, vierspurig angelegt und für eine Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h zugelassen. Dort fuhr der Beklagte in geradliniger Fahrt immer näher an den Mittelstreifen heran und sodann über ihn hinweg in die Gegenfahrbahn hinein. Der von ihm gesteuerte Pkw streifte einen entgegenkommenden Lkw und stieß dann frontal gegen einen diesem nachfolgenden Pkw. P. wurde dabei tödlich verletzt.
Die klagende Berufsgenossenschaft hat den Tod des P. als Arbeitsunfall anerkannt. Sie erhebt gegen den Beklagten Rückgriffsansprüche gemäß § 640 RVO wegen der von ihr erbrachten und noch zu erbringenden Leistungen an die Hinterbliebenen.
Das Landgericht hat der Klage stattgegeben; das Oberlandesgericht hat, nachdem der erkennende Senat das erste Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen hatte (Senatsurteil vom 5. Februar 1974 – VI ZR 52/72 – LM RVO § 640 Nr 12 = VersR 1974, 593), die Berufung des Beklagten erneut zurückgewiesen. Der Beklagte verfolgt mit der Revision seinen Klageabweisungsantrag weiter.
Entscheidungsgründe
I.
Das Berufungsgericht kommt auch nach erneuter Prüfung des Falles zu dem Ergebnis, der Beklagte habe den Tod P.’s grob fahrlässig verursacht. Es schließt, wie in seinem ersten Urteil, sowohl eine Sonnenblendung als auch einen Fahrzeugdefekt oder eine Behinderung durch den Mitfahrer als Ursache seines Abirrens auf die Gegenfahrbahn aus. Statt dessen sieht es weiterhin als erwiesen an, der Unfall sei allein auf ein „Einschlafen oder ein sog Einnicken“ des Beklagten zurückzuführen. Erneut bewertet das Berufungsgericht das Versagen des Beklagten als „grob fahrlässig“.
II.
Die Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage.
Der erkennende Senat hat in seiner früheren Entscheidung in dieser Sache im einzelnen ausgeführt, daß die Feststellung, ein Kraftfahrer habe durch „Einnicken“ am Steuer einen Unfall verschuldet, für sich allein noch nicht das Urteil grober Fahrlässigkeit rechtfertigt, daß es dazu vielmehr jeweils einer Begründung anhand besonderer Umstände bedarf, die im Einzelfall Begründung anhand besonderer Umstände bedarf, die im Einzelfall ein solches Urteil rechtfertigen. Hierbei hat der Senat noch besonders darauf hingewiesen, daß die Feststellung nicht genügt, der Beklagte habe gegenüber der jedem Kraftfahrer obliegenden Pflicht zu ständiger scharfer Selbstbeobachtung schuldhaft versagt, daß vielmehr festgestellt werden muß, der Beklagte habe sich über Umstände, die die Gefahr des Einnickens erkennbar machten, in einer Weise hinweggesetzt, die sein Verhalten als besonders vorwerfbar und damit sein Verschulden als grob erscheinen lassen.
1. Das Berufungsgericht geht demgegenüber auch in seiner neuen Entscheidung wieder von einer „allgemeinen Erfahrung“ aus, wonach der Schlaf einen körperlich und geistig intakten Menschen, der sich während des Tages als Fahrzeugführer im Straßenverkehr befindet, nicht ohne Vorankündigung überkomme. Auf entsprechende Feststellungen über die Intensität einer solchen Vorankündigung kommt es nach Auffassung des Berufungsgerichts im Streitfalle nicht an, weil hier für den Beklagten die Umstände, die ihn als Fahrzeugführer vor dem Einschlafen bewahren konnten, derart günstig gewesen seien, daß die Tatsache des Einschlafens bzw „Einnickens“ den sicheren Schluß zulasse, er habe jede den Umständen nach gebotene und ihm persönlich ohne weiteres auch mögliche Selbstkontrolle und Selbstbeherrschung vermissen und sich folglich regelrecht „gehen lassen“. Die Fahrtunterbrechung in seiner O. Wohnung und die damit verbundene körperliche Bewegung sei mit Sicherheit dazu angetan gewesen, die körperliche Spannkraft und geistige Konzentrationsfähigkeit wieder herzustellen oder wenigstens ausreichend wieder aufzufrischen. Die vom Beklagten eingeschlagene Fahrtrichtung zeichne sich auch nicht etwa durch Monotonie oder sonstige, die Aufmerksamkeit eines Kraftfahrers nachteilig beeinflussende Umstände aus. Der Verlauf der Fahrtstrecke, das gute Wetter (Sonnenschein) und der lebhafte Fahrverkehr hätten sogar die Konzentrationsfähigkeit begünstigt. Wenn sich der Beklagte dann aber von einer erstmals oder womöglich auch erneut aufkommenden Müdigkeit habe übermannen und dergestalt aus der Richtung bringen lassen, daß er nach einer längeren Diagonalfahrt über die Umgehungsstraße hinweg auf der Gegenfahrbahn zunächst einen Lkw gestreift habe, dessen Fahrer ihn zuvor durch Betätigen der Hupe noch zum Aufmerken zu bringen versucht hatte und sodann frontal gegen den nachfolgenden Pkw geprallt sei, dann gebe es für dieses Versagen keine andere Qualifizierung als die der groben Fahrlässigkeit.
2. Damit wird das Berufungsgericht nicht den in der ersten Senatsentscheidung enthaltenen, nach § 565 Abs 2 ZPO bindenden Ausführungen gerecht.
a) Der Senat hatte ua ausgeführt, aufgrund der bisher vorliegenden Erkenntnisse könne nicht davon ausgegangen werden, die Vorzeichen des Einschlafens am Steuer seien immer so deutlich, daß ihr Verkennen dem Fahrer nicht nur zum Verschulden, sondern zum groben Verschulden gereiche. Das Berufungsgericht hätte bei dieser Sachlage – jedenfalls da ihm keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse zugänglich geworden sind – das erstinstanzliche Urteil nur dann wieder bestätigen dürfen, wenn es Umstände hätte feststellen können, die den Schluß darauf zuließen, der Beklagte habe sich über von ihm erkannte deutliche Vorzeichen der Ermüdung bewußt hinweggesetzt. Nur dann hätte es das Verschulden des Beklagten als grobe Fahrlässigkeit einordnen dürfen.
b) Das Aufzeigen von Umständen, die den Beklagten vor dem Einschlafen bewahren konnten, und der Ausschluß einiger Voraussetzungen, die üblicherweise die Schläfrigkeit begünstigen, konnten die erforderlichen Feststellungen nicht ersetzen. Denn selbst wenn das der Fall war, ergibt sich damit noch nicht, daß sich der Beklagte über eine dennoch eingetretene und deutlich erkennbare Ermüdung bewußt hinweggesetzt hat. Allein die Tatsache des Bewußtseinsverlustes auf einer für die Konzentration günstigen Strecke rechtfertigt entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts noch nicht die Schlußfolgerung auf eine grobe Fahrlässigkeit.
Das Berufungsgericht hat aber selbst in diesem Zusammenhang nicht einmal ganz naheliegende Möglichkeiten in Betracht gezogen, die die Konzentrationsfähigkeit des Beklagten herabgesetzt haben könnten. So erörtert es nicht die bekanntermaßen heimtückische physiologische Schläfrigkeit in der mittäglichen Verdauungsphase. Auch im übrigen bleibt offen, ob die von ihm als konzentrationsfördernd gewerteten Umstände nicht unter besonderen Bedingungen einen gegenteiligen Effekt haben konnten. Dagegen stellt das Berufungsgericht keinerlei Umstände positiv fest, die den Beklagten vor der ihn übermannenden Müdigkeit mit einer besonderen Deutlichkeit hätten warnen müssen.
c) Auch das Hupzeichen des entgegenkommenden Lkw, das nach den Feststellungen des Berufungsgerichts nach erfolgtem Einnicken des Beklagten abgegeben war, konnte kein Indiz dafür sein, daß sich der Beklagte über deutliche Voranzeichen einer Ermüdung bewußt hinweggesetzt hatte. Dies wie auch die anderen vom Berufungsgericht in diesem Zusammenhang hervorgehobenen Umstände erlauben nur Schlüsse auf die Tiefe des Bewußtseinsverlusts, nicht aber auf seine Ursache.
d) Schließlich legt das Berufungsgericht dem Beklagten mit Recht keine Umstände zur Last, die ihn von vorneherein zu einer erhöhten Aufmerksamkeit gegenüber Ermüdungserscheinungen verpflichtet hätten. Denn es ist nunmehr unstreitig, daß der Beklagte nicht nur zum Essen in der Gaststätte kein Bier getrunken hat (mit dessen auch in kleinen Mengen gefährlich sedierender Wirkung der Kraftfahrer stets rechnen muß), sondern daß er sich des Alkohols überhaupt enthält, und ferner, daß er eine ausreichende Nachtruhe hinter sich hatte.
III.
Gerade weil keinerlei Umstände ersichtlich sind, welche eine so plötzliche und starke Ermüdung voraussehbar oder auch nur erklärlich machen, bleibt nach den gesamten Feststellungen die nicht nur gedachte Möglichkeit, daß der Beklagte das Opfer von im einzelnen nicht einsehbaren physiologischen Verläufen geworden ist, deren nicht rechtzeitiges Bemerken ihm nur zum einfachen Verschulden gereicht. Daß demgegenüber eine immerhin überwiegende Wahrscheinlichkeit für grobe Achtlosigkeit des Beklagten sprechen mag, genügt angesichts der Beweislage nicht.
Da nicht ersichtlich ist, daß noch weitere tatsächliche Feststellungen getroffen werden können, war der Senat in der Lage, abschließend in der Sache zu entscheiden (§ 565 Abs 3 Nr 1 ZPO).