OLG Stuttgart – Az.: 9 U 76/18 – Urteil vom 05.12.2018
1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 16.03.2018, Az. 14 O 235/17, abgeändert:
a. Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin sämtliche weiteren Schäden zu 50% zu ersetzen, die der Klägerin aus der Verletzung des Herrn R.S.A., geboren am …, E. Straße, 7… A., am 18.08.2014 gegen 16:50 Uhr in der B. Straße in 7… S. entstanden sind und noch entstehen werden.
b. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.
3. Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Klägerin wird nachgelassen, die Vollstreckung durch die Beklagten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.
Gründe
I.
Die Parteien streiten über die Haftungsfolgen aus einem Verkehrsunfall vom 18.08.2014 auf der B. Straße in S..
Die Klägerin ist Arbeitgeberin des Zeugen … . Der Zeuge A. befuhr am 18.08.2014 gegen 16:50 Uhr mit seinem Motorrad die B. Straße aus Richtung der L. Straße und bog nach rechts in die Stichstraße der B. Straße ab, aus welcher sich der Beklagte zu 1 mit seinem bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversicherten Fahrzeug näherte. Der Zeuge A. kam mit seinem Motorrad zu Fall und erlitt durch den Unfall eine Sprunggelenksfraktur rechts, eine Prellung des rechten Knies und zog sich Schürfwunden zu. Die Klägerin erbrachte an den Zeugen A. Entgeltfortzahlungen in Höhe von unstreitig 17.834,16 €. Die Beklagte zu 2 hat den Unfall auf der Basis einer Haftungsquote von 50% reguliert und Zahlungen in Höhe von 8.917,08 € erbracht.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die tatsächlichen Feststellungen der angefochtenen Entscheidung Bezug genommen.
Das Landgericht hat der Klage mit der Begründung stattgegeben, die Haftungsabwägung führe zu einer vollen Einstandspflicht der Beklagten.
Die Beklagten beantragen, das am 16.03.2018 verkündete Urteil des Landgerichts Stuttgart, Az. 14 O 235/17 dahingehend abzuändern, dass die Klage abgewiesen wird.
Hilfsweise das am 16.03.2018 verkündete Urteil des Landgerichts Stuttgart, Az. 14 O 235/17 aufzuheben und zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht Stuttgart zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Die Akten der Staatsanwaltschaft Stuttgart, Az. 64 Js 85272/14, waren beigezogen. Der Senat hat Beweis erhoben durch Vernehmung des Zeugen R.S.A. und durch Einholung eines mündlichen Gutachtens des Sachverständigen Dipl.-Ing. (FH) B.W.. Hinsichtlich der Einzelheiten der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll vom 21.11.2018 Bezug genommen.
II.
Die Berufung ist zulässig und überwiegend begründet.
1.
Hinsichtlich des klägerischen Zahlungsantrags war die Klage abzuweisen, weil der klägerische Schadensersatzanspruch gegen die Beklagten gemäß §§ 823 Abs. 1, Abs. 2 i.V.m. § 2 Abs. 2 StVO, §§ 7, 17,18 StVG – bezüglich der Beklagten Ziff. 2 i. V. m. § 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG – jeweils in Verbindung mit § 6 Abs. 1 EZFG aufgrund einer hälftigen Mithaftung des Zeugen A. nur in Höhe von 50% des entstandenen Schadens, d.h. nur in Höhe von 8.917,08 € bestand und in dieser Höhe von der Beklagten Ziff. 2 bereits reguliert ist.
a.
Zutreffend ist das Landgericht davon ausgegangen, dass der streitgegenständliche Verkehrsunfall bei dem Betrieb der unfallbeteiligten Fahrzeuge im Sinne von § 7 Abs. 1 StVG verursacht wurde. Dem steht nicht entgegen, dass es sich um einen sog. berührungslosen Unfall handelt, denn das Haftungsmerkmal „bei dem Betrieb“ umfasst alle durch den Kraftfahrzeugverkehr beeinflussten Schadensabläufe (vgl. BGH, Urt. v. 26.04.2005 – VI ZR 168/04; BGH Urt. v. 21.09.2010 – VI ZR 263/09; BGH Urt. v. 22.11.2016 – VI ZR 533/15).
b.
Der Beweis für das Vorliegen eines unabwendbaren Ereignisses im Sinne von § 7 Abs. 2 StVG wurde von keiner Partei erbracht. Die vom Senat durchgeführte Beweisaufnahme hat vielmehr ergeben, dass der Verkehrsunfall auf einen Pflichtverstoß sowohl des Beklagten Ziff. 1 als auch des Zeugen A. zurückzuführen ist. Der Sachverständige Dipl.-Ing. (FH) B.W. ist anhand zutreffender Anknüpfungstatsachen zu der plausiblen Schlussfolgerung gekommen, dass der Beklagte Ziff. 1 sein Fahrzeug im Bereich der gedachten Fahrbahnmittelinie bewegt und hierdurch die dem Zeugen A. zur Verfügung stehende Fahrbahn verengt hat. Aus diesen Feststellungen, die der Senat sich zu eigen macht, und aus den in der beigezogenen Ermittlungsakte enthaltenen Fotos von der Unfallendstellung ergibt sich ein leichter Verstoß des Beklagten Ziff. 1 gegen das Rechtsfahrgebot aus § 2 Abs. 2 StVO.
Hinsichtlich des Zeugen A. hat der Sachverständige festgestellt, dass von einer gefahrenen Geschwindigkeit zum Zeitpunkt der Einleitung des Bremsmanövers von ca. 20 km/h auszugehen ist und dass dem Zeugen A. beim Einbiegen in die S. Straße ein Anhalten seines Motorrades innerhalb der einsehbaren Fahrstrecke mit dieser Geschwindigkeit nicht möglich war. Auch diesbezüglich macht sich der Senat die Feststellungen des Sachverständigen zu eigen, was einen Verstoß des Zeugen A. gegen § 3 Abs. 1 StVO begründet, der den Fahrzeugführer dazu verpflichtet, so zu fahren, dass er innerhalb der Sichtweite vor einem auf der Fahrbahn befindlichen Hindernis verkehrsgerecht, d.h. ohne eine Vollbremsung anhalten kann (Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Burmann, Straßenverkehrsrecht 25. Auflage 2018, § 3 Rn. 4ff. m.w.N.).
c.
Die Haftungsverteilung für den Unfallschaden hat gemäß §§ 17, 18 StVG nach Abwägung der jeweiligen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge zu erfolgen, wobei nur unstreitige oder bewiesene Umstände berücksichtigt werden dürfen.
Hiernach haften die Beklagten lediglich zu 50% für das Unfallereignis. Der unfallursächliche leichte Verstoß des Beklagten Ziff. 1 gegen das Rechtsfahrgebot aus § 2 Abs. 2 StVO hat nach der aus der Beweisaufnahme gewonnenen Überzeugung des Senats in vergleichbarem Maß und mit vergleichbarer Vorwerfbarkeit zum Unfallereignis beigetragen wie der Umstand, dass der Zeuge A. in Schräglage mit nicht angepasster Geschwindigkeit im Sinne von § 3 Abs. 1 StVO in die S. Straße eingebogen ist. Entscheidend ist hierbei nach Auffassung des Senats, dass die Unfallstelle durch Sichtbeeinträchtigungen in beide Fahrtrichtungen und ihre Nähe zum Kreuzungsbereich gekennzeichnet ist mit daraus resultierenden erhöhten Anforderungen an die Verkehrsteilnehmer, die Unfallstelle aufmerksam, sorgfältig und rücksichtsvoll zu befahren. Diese Anforderungen haben beide Fahrzeugführer der unfallbeteiligten Fahrzeuge in vergleichbarem Maß missachtet. Durch den Verstoß des Beklagtenfahrzeugs wurde die Fahrbahn für den Gegenverkehr an einer Stelle verengt, die sich nur wenige Meter hinter der Einmündung in die S. Straße befindet, so dass der Beklagte Ziff. 1 davon ausgehen musste, dass einem aus der Hauptstraße der B. Straße in die S. Straße einbiegenden Fahrzeug nur eine äußerst kurze Zeit zur Verfügung steht, um auf diese Fahrbahnverengung angemessen zu reagieren. Der Zeuge A. hingegen musste beim Einbiegen in die an beiden Seitenrändern beparkte S. Straße mit Sichtbeeinträchtigungen und dem Rangieren von Fahrzeugen und dadurch resultierenden Behinderungen auch seiner Fahrbahn rechnen. Gerade in solchen unübersichtlichen Verkehrslagen soll das vom Zeugen A. missachtete Sichtfahrgebot des § 3 Abs. 1 StVO die Gewähr dafür bieten, dass auf unvorhergesehene Ereignisse noch angemessen reagiert und ein Unfall vermieden werden kann. Weiter fällt ins Gewicht, dass die Betriebsgefahr des Motorrads in der Schräglage der Kurvenfahrt aufgrund der daraus resultierenden Instabilität und Sturzgefahr, die sich hier nachweislich als Unfallursache ausgewirkt hat, erhöht war (vgl. allg. BGH, Urt. v. 01.12.2009 – VI ZR 221/08).
2.
Die Haftungsverteilung von 50% führt dazu, dass Zahlungsansprüche der Klägerseite nicht mehr bestehen und die Klage daher abzuweisen war, weil bereits eine Regulierung der Beklagten Ziff. 2 auf Basis dieser Haftungsquote erfolgt ist. Der mit der Klage geltend gemachte Feststellungsantrag ist jedoch mit einer Quote von 50% begründet. Soweit die Berufung darauf hinweist, dass Gegenstand des Feststellungsantrags ein eigener künftiger Schaden der Klägerin und nicht künftige Schäden des Zeugen A. sind, steht dies der Begründetheit nicht entgegen. Das Landgericht stellt diesbezüglich zutreffend darauf ab, dass wenn beim Zeugen A. aufgrund der Schwere der Verletzungen, weitere Folgewirkungen möglich sind, auch für die Klägerin die Gefahr besteht, erneut Entgeltfortzahlung leisten zu müssen. Der Arbeitgeber kann daher die Eintrittspflicht des Schädigers feststellen lassen, auch wenn die Forderung erst zu einem späteren Zeitpunkt mit der Entgeltfortzahlung auf ihn übergeht (OLG Bremen, Teilurt. v. 23.01.2013 – 1 U 37/12 juris Rn. 8)
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO. Die Beklagten sind nur teilweise hinsichtlich des Feststellungsantrags unterlegen, auf den nur insgesamt ein Streitwertanteil von 1.000 € entfällt. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 543 Abs. 2 ZPO) liegen nicht vor. Die Sache hat weder grundsätzliche Bedeutung, noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Revisionsentscheidung. Das Urteil beruht im Wesentlichen auf den Umständen des Einzelfalls. Der Senat weicht nicht von höchstrichterlichen Entscheidungen oder Entscheidungen anderer Obergerichte ab.