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Verkehrsunfall – Haftungsverteilung bei nicht bewiesenem Unfallgeschehen

LG Köln – Az.: 11 S 359/16 – Urteil vom 07.08.2018

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts Köln vom 13.09.2016 (267 C 41/16) wird zurückgewiesen.

Die Kosten der Berufung tragen die Beklagten.

Das Urteil und die angefochtene Entscheidung sind vorläufig vollstreckbar.

Gründe

I.

Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird gemäß § 313 a Abs. 1 Satz 1, 540 Abs. 2 ZPO abgesehen.

II.

Die Berufung der Beklagten hat keinen Erfolg. Sie ist zwar zulässig, aber unbegründet.

Im Ergebnis zutreffend hat das Amtsgericht eine hälftige Haftungsteilung nach § 17 Abs. 2, 1 StVG angenommen, weil der streitige Unfallhergang nicht hat aufgeklärt werden können. Keine Parteien hat nachweisen können, dass beim Unfall Umstände vorlagen, die eine über die eigene Betriebsgefahr hinausgehende Haftung der jeweils anderen Partei begründen könnten.

Ohne Erfolg rügt die Berufung insoweit zunächst, dass das Amtsgericht sich auf Grundlage der Zeugenaussagen und dem gesamten Inhalt der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung keine den Anforderungen des § 286 ZPO genügende Überzeugung vom Unfallhergang bilden konnte. Es liegen keine konkreten Anhaltspunkte im Sinne des § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO vor, die Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit dieser Feststellungen begründen. Das Amtsgericht hat sich bei der Würdigung der Zeugenaussagen und des Inhalts der mündlichen Verhandlung an die Grundsätze der freien Beweiswürdigung des § 286 ZPO gehalten und auch die Kammer sieht insoweit keinen Anlass, vom Ergebnis der erstinstanzlichen Beweiswürdigung abzuweichen. § 286 ZPO fordert den Richter auf, nach seiner freien Überzeugung zu entscheiden. Das bedeutet, dass er lediglich an Denk- und Naturgesetze sowie an Erfahrungssätze und ausnahmsweise Beweisregeln gebunden ist, ansonsten aber die im Prozess gewonnenen Erkenntnisse nach seiner individuellen Einschätzung bewerten darf. Dabei darf er insbesondere auch z.B. einer Partei mehr glauben als einem Zeugen, auch wenn dieser vereidigt wurde, oder trotz mehrerer bestätigender Zeugenaussagen das Gegenteil der Beweisbehauptung feststellen, sofern dies nach der aus den übrigen Beweismitteln bzw. dem Akteninhalt gewonnenen Erkenntnissen seiner Überzeugung entspricht. Die leitenden Gründe und die wesentlichen Gesichtspunkte für seine Überzeugungsbildung hat der Richter dabei nachvollziehbar im Urteil darzulegen. Dabei ist es nicht erforderlich, auf jedes einzelne Parteivorbringen und alle Beweismittel ausführlich einzugehen. Es genügt, wenn nach der Gesamtheit der Gründe eine sachentsprechende Beurteilung stattgefunden hat (KG Berlin, a.a.O., m.w.N.).

Verkehrsunfall - Haftungsverteilung bei nicht bewiesenem Unfallgeschehen
(Symbolfoto: Bilanol/Shutterstock.com)

Nach diesen Maßstäben ist die Beweiswürdigung des Vordergerichts nicht zu beanstanden. Insbesondere ist es berufungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Tatrichter die Aussage des am Unfall unbeteiligten Zeugen D als nicht hinreichend verlässlich bewertet hat. Im Gegenteil ist diese Einschätzung auch aus Sicht der Kammer wahrnehmungs- und aussagepsychologisch naheliegend und nachvollziehbar. Es ist aus der Wahrnehmungs- und Aussagepsychologie bekannt und belegt, dass es bei der Wahrnehmung, Speicherung und Erinnerung von Informationen zahlreiche Fehlerquellen gibt, die die Verlässlichkeit von menschlichen Erinnerungen in erheblicher Weise einschränken (vgl. hierzu Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 4. Aufl., 2014, Rn. 1 – 214; Jansen, Zeuge und Aussagepsychologie, 2. Aufl., 2012, Rn. 463 ff.; Wendler/Hoffmann, Technik und Taktik der Befragung, 2. Aufl., 2015, S. 139 ff.; OLG Frankfurt a.M., Urt. v. 09.10.2012, 22 U 109/11). Insbesondere neigt das menschliche Gedächtnis häufig zu einer Anreicherungstendenz. Es werden die wenigen tatsächlich wahrgenommenen und nicht wieder vergessenen Informationen vom Gedächtnis – ohne dass dies dem Betreffenden bewusst ist – nachträglich angereichert und ausgeschmückt, wobei diese Anreicherungstendenz oftmals einen Zug zum Üblichen und Gewohnten hat (Bender/Nack/Treuer, a.a.O., Rn. 128 ff.; Wendler/Hoffmann, a.a.O., Rn. 175, 180, 182). Keine Aussagekraft für die Verlässlichkeit einer Aussage hat es daher, dass die Auskunftsperson von der Richtigkeit ihrer Aussage subjektiv überzeugt ist (OLG Frankfurt a.M., a.a.O.; Bender/Nack/Treuer, a.a.O., Rn. 134). Während nämlich Umfang und Zuverlässigkeit des Erinnerten mit zunehmendem Zeitablauf grundsätzlich abnehmen, sieht es mit der subjektiven Gewissheit der Auskunftsperson, sich vollständig und zuverlässig zu erinnern, oftmals gerade umgekehrt aus: Sie wird umso sicherer, desto länger das Ereignis zurückliegt (Bender/Nack/Treuer, a.a.O., Rn. 134). Vor dem Hintergrund dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse hat das Amtsgericht der Aussage des Zeugen zutreffend und in berufungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise keinen ausreichenden Beweiswert beigemessen, um eine Überzeugung nach § 286 ZPO zu stützen. Im Gegenteil lässt es sich aufgrund seiner Aussage gerade nicht ausschließen, dass auch dieser Zeuge den oben genannten Wahrnehmungs- und Erinnerungsfehlern unterlag. So hat der Zeuge zunächst nur ausgesagt, dass er mitbekam, wie der Wagen rechts vor ihm „etwas“ ausgewichen sei. Er habe daraufhin abgebremst und dann habe „es auch geknallt“. Erst im Nachgang zu dieser Schilderung hat der Zeuge erklärt, er habe gesehen, wie der weiße Wagen „einfach von rechts herausgefahren“ sei. Auf Vorbehalte hat er dann seine Wahrnehmungen wieder etwas relativiert, indem er erklärte, er „meine“, dass das weiße Fahrzeug durchgefahren sei, was er daraus folgere, dass er es gewusst hätte, wenn das weiße Fahrzeug gewartet hätte, um Fußgänger passieren zu lassen. Dieser Aussageverlauf lässt die realistische und wissenschaftlich belegte (s.o.) Möglichkeit offen, dass der Zeuge zunächst nur das plötzliche Ausweichen des Beklagtenfahrzeugs und die unmittelbar darauf folgende Kollision bewusst wahrgenommen hat und seine Erinnerung diese wenigen wahrgenommenen Eindrücke im Nachgang unbewusst zu der für den Zeugen nach seinem persönlichen Erfahrungsschatz nächstliegenden Variante zusammengeführt hat, wonach das Klägerfahrzeug plötzlich in die Kreuzung eingefahren sei. Dies gilt umso mehr vor dem auch vom Amtsgericht zutreffend aufgeführten Umstand, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Wahrnehmungsfähigkeit des Zeugen in Bezug auf das klägerische Fahrzeug durch das sich in seinem Blickfeld befindliche Beklagtenfahrzeug eingeschränkt war. Dies legt auch seine erste Schilderung nahe, nach der er nur gesehen hat, dass das Beklagtenfahrzeug „etwas“ ausgewichen sei.

Die vom Amtsgericht nicht vorgenommene, aber von der Kammer nachgeholte Einholung eines Sachverständigengutachtens hat an diesem Beweisergebnis nichts zu ändern vermocht. Der Sachverständige, gegen dessen Fachkunde und Neutralität Bedenken nicht bestehen, hat nachvollziehbar dargelegt, dass beide behaupteten Unfallhergänge sich technisch plausibel mit dem Schadensbild und den weiteren Anknüpfungstatsachen in Einklang bringen lassen. Es lasse sich technisch aber nicht aufklären, welche Version sich tatsächlich ereignet hat. Die Kammer schließt sich insoweit den nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen an. Damit kann auch unter Berücksichtigung des Ergebnisses des Sachverständigenbeweises der Unfallhergang nicht mit der notwendigen Überzeugung nach § 286 ZPO aufgeklärt werden.

Soweit die Berufung demgegenüber meint, dass der klägerseits behauptete Unfallhergang dadurch widerlegt sei, dass der klägerseits benannte Zeuge F ausgesagt hat, er habe im Zeitpunkt der Kollision noch gestanden, während der Sachverständige festgestellt hat, dass das klägerische Fahrzeug sich im Kollisionszeitpunkt in Bewegung befunden hat, vermag diese Ansicht nicht zu überzeugen. Zum einen übersieht die Berufung hier, dass auch die Klägerseite behauptet hat, dass das Klägerfahrzeug im Kollisionszeitpunkt bereits wieder angefahren sei. Zum anderen ist nicht dadurch, dass der Zeuge in einem irrtumsanfälligen Unterpunkt etwas anderes geschildert hat als die Klägerin und als sich nach den Feststellungen des Sachverständigen ereignet haben kann, bereits die gesamte Unfallschilderung der Klägerin widerlegt. Im Gegenteil hat der Zeuge F die Schilderung der Klägerin im Kernbereich ja gerade – wie vom Amtsgericht in berufungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise gewürdigt – glaubhaft bestätigt. Im Übrigen würde aber auch die Widerlegung der Unfallversion der Klägerseite nicht umgekehrt beweisen, dass sich der Unfall so zugetragen hat, wie von der Beklagtenseite behauptet. Auch in einem solchen Falle müsste die Wahrheit der Unfallversion der Beklagtenseite vielmehr nach § 286 ZPO positiv aus sich heraus festgestellt werden. Dies war hier nicht möglich.

Die prozessualen Nebenentscheidungen ergeben sich aus § 97 Abs. 1 ZPO und §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.

Berufungsstreitwert: 1.592,19 EUR

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