Übersicht:
- Das Wichtigste in Kürze
- Der Fall vor Gericht
- Ein alltäglicher Albtraum: Unfall im Kreisverkehr
- Zwei Fahrer, zwei Geschichten: Wie kam es zum Streit vor Gericht?
- Die große Frage für das Gericht: Wer trägt die Beweislast?
- Der „Beweis des ersten Anscheins“ – eine Regel mit Tücken
- Was sagte der Gutachter wirklich? Ein genauer Blick auf die Technik
- Die Logik des Gerichts: Wenn niemandem ein Fehler nachgewiesen werden kann
- Das Urteil: Die Berufung wird zurückgewiesen
- Die Schlüsselerkenntnisse
- Häufig gestellte Fragen (FAQ)
- Was passiert, wenn die Unfallursache nach einem Verkehrsunfall unklar bleibt?
- Was genau bedeutet der Anscheinsbeweis bei Verkehrsunfällen und wann wird er angewendet?
- Welche Rolle spielt die sogenannte Beweislast bei einem Verkehrsunfall und wer trägt sie?
- Was ist die Betriebsgefahr eines Fahrzeugs und wie beeinflusst sie die Haftungsverteilung nach einem Unfall?
- Wann kann ein technisches Gutachten bei einem Verkehrsunfall hilfreich sein und wann nicht?
- Glossar
- Wichtige Rechtsgrundlagen
- Das vorliegende Urteil
Urteil Az.: 26 C 1817/21 | Schlüsselerkenntnis | FAQ | Glossar | Kontakt
Zum vorliegendenDas Wichtigste in Kürze
- Gericht: LG Lübeck
- Datum: 25.07.2024
- Aktenzeichen: 14 S 26/23
- Verfahrensart: Berufungsverfahren
- Rechtsbereiche: Verkehrsrecht, Zivilprozessrecht
Beteiligte Parteien:
- Kläger: Fordert Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall und behauptet, er sei bereits vollständig in den Kreisverkehr eingefahren gewesen, als das beklagte Fahrzeug auf sein Fahrzeug auffuhr. Im Berufungsverfahren beantragte er die Zurückweisung der Berufung.
- Beklagte: Fahrer und Halter des anderen Unfallfahrzeugs. Sie behaupten, der Fahrer des beklagten Fahrzeugs habe sich bereits im Kreisverkehr befunden, als der Kläger plötzlich und unvermittelt auf die Innenspur eingefahren sei. Sie rügten eine fehlerhafte Tatsachenwürdigung durch das Amtsgericht und forderten die Abweisung der Klage.
Worum ging es in dem Fall?
- Sachverhalt: Die Parteien streiten über Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall in einem Kreisverkehr. Der Kläger behauptete, er sei zuerst im Kreisverkehr gewesen, während die Beklagtenseite angab, ihr Fahrzeug sei zuerst eingefahren.
- Kern des Rechtsstreits: Es ging darum, ob die erstinstanzliche Verurteilung der Beklagten zu einer hälftigen Haftung für den Verkehrsunfall rechtmäßig war, insbesondere weil die genaue Einfahrsequenz der Fahrzeuge unklar blieb und kein Anscheinsbeweis für einen Vorfahrtsverstoß angewendet werden konnte.
Was wurde entschieden?
- Entscheidung: Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts Lübeck wurde zurückgewiesen. Das bedeutet, die erstinstanzliche Entscheidung, die eine hälftige Haftung festlegte, bleibt bestehen.
- Begründung: Das Gericht sah keine ausreichenden Gründe, die Feststellungen des Amtsgerichts zu beanstanden. Es konnte nicht zweifelsfrei geklärt werden, welches Fahrzeug zuerst in den Kreisverkehr einfuhr, und ein Anscheinsbeweis für einen Vorfahrtsverstoß kam nicht zur Anwendung. Daher wurde die hälftige Haftungsquote beider Parteien aufgrund der Betriebsgefahr ihrer Fahrzeuge bestätigt.
- Folgen: Die Beklagten müssen die Kosten des Berufungsverfahrens tragen, und das Urteil des Amtsgerichts mit der 50 %-Haftungsquote ist rechtskräftig und vollstreckbar.
Der Fall vor Gericht
Ein alltäglicher Albtraum: Unfall im Kreisverkehr
Jeder Autofahrer kennt die Situation: Man nähert sich einem Kreisverkehr und muss in Sekundenschnelle entscheiden, wann man einfahren kann. Wer hat Vorfahrt? Ist die Lücke groß genug? Meistens geht alles gut. Doch was passiert, wenn es kracht und anschließend jeder Fahrer behauptet, der andere sei schuld? Wenn Aussage gegen Aussage steht und es keine eindeutigen Zeugen gibt, landet ein solcher Fall oft vor Gericht. Genau das ist hier geschehen, und das Landgericht Lübeck musste eine knifflige Frage klären: Wer haftet, wenn sich der genaue Unfallhergang in einem Kreisverkehr nicht mehr aufklären lässt?
Zwei Fahrer, zwei Geschichten: Wie kam es zum Streit vor Gericht?

Der Unfall selbst ereignete sich in einem mehrspurigen Kreisverkehr. Ein Autofahrer, der spätere Kläger, forderte von der Gegenseite Schadensersatz in Höhe von fast 2.800 Euro. Seine Version der Geschichte war einfach: Er sei bereits im Kreisverkehr gefahren, als das andere Fahrzeug von hinten aufgefahren sei. Ein klassischer Auffahrunfall also, bei dem die Schuldfrage meist klar scheint.
Die Beklagtenseite, zu der auch der Fahrer des anderen Wagens gehörte, sah das jedoch völlig anders. Ihr Fahrer behauptete, er habe sich bereits im Kreisverkehr befunden, als der Kläger plötzlich und ohne Vorwarnung auf seine Spur gezogen sei. Hier wäre also der Kläger derjenige, der den Unfall durch einen gefährlichen Spurwechsel verursacht hätte.
Das erste Gericht, das Amtsgericht Lübeck, stand vor einem Problem: Es konnte keiner Seite vollständig glauben, da die Beweise nicht ausreichten. Es entschied daher, den Schaden einfach zu teilen. Jeder sollte für die Hälfte des Schadens des anderen aufkommen, was für die Beklagten eine Zahlung von rund 1.400 Euro bedeutete. Die Begründung des Amtsgerichts: Da man nicht beweisen könne, wer zuerst in den Kreisverkehr eingefahren sei, sei eine Haftungsquote von 50 zu 50 fair. Mit dieser Entscheidung waren die Beklagten nicht einverstanden und legten Berufung ein. Eine Berufung ist ein Rechtsmittel, bei dem eine höhere Gerichtsinstanz, hier das Landgericht, das erste Urteil überprüft.
Die große Frage für das Gericht: Wer trägt die Beweislast?
Das Landgericht Lübeck musste nun also das Urteil des Amtsgerichts auf den Prüfstand stellen. Die zentrale Frage war dabei nicht nur, was an diesem Tag im Kreisverkehr passiert ist, sondern eine viel grundsätzlichere: Was macht ein Gericht, wenn es den wahren Hergang einfach nicht feststellen kann? Im deutschen Zivilrecht gibt es einen wichtigen Grundsatz: Wer einen Anspruch geltend macht, wie zum Beispiel Schadensersatz, muss die dafür notwendigen Tatsachen auch beweisen. Dies nennt man die Beweislast. Der Kläger musste also beweisen, dass der Beklagte den Unfall verschuldet hat. Umgekehrt mussten die Beklagten beweisen, dass der Kläger die Schuld trug, wenn sie nicht haften wollten.
Was aber, wenn beide Versionen möglich sind und keine bewiesen werden kann? Haben die Beklagten recht und die Klage muss komplett abgewiesen werden, weil der Kläger seinen Anspruch nicht beweisen konnte? Oder war die 50/50-Lösung des Amtsgerichts der korrekte Weg? Um diese Frage zu beantworten, musste sich das Gericht mit einer juristischen Faustregel beschäftigen.
Der „Beweis des ersten Anscheins“ – eine Regel mit Tücken
Um Gerichtsverfahren zu vereinfachen, gibt es den sogenannten Anscheinsbeweis, auch Prima-facie-Beweis genannt. Das ist eine Art juristische Erfahrungstatsache für typische Geschehensabläufe. Ein alltägliches Beispiel: Fährt jemand auf einer geraden Straße auf ein vorausfahrendes Auto auf, spricht der erste Anschein dafür, dass der Auffahrende unaufmerksam war oder zu wenig Abstand gehalten hat. Er ist dann erst einmal im Nachteil und muss beweisen, dass der Unfall ausnahmsweise nicht seine Schuld war, zum Beispiel weil der Vordermann grundlos eine Vollbremsung hingelegt hat.
Die Beklagten hofften auf einen solchen Anscheinsbeweis zu ihren Gunsten. Sie argumentierten, dass bei einer Kollision in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Einfahren in einen Kreisverkehr der Anschein gegen denjenigen spricht, der in den Kreisverkehr einfährt. Denn wer in den Kreisverkehr einfährt, muss dem Verkehr im Inneren die Vorfahrt gewähren. Aber funktionierte diese Regel hier?
Das Gericht sagte klar: Nein. Der Anscheinsbeweis greift hier nicht. Der Grund ist einfach, aber entscheidend: Ein Anscheinsbeweis funktioniert nur bei einem wirklich „typischen“ Hergang. Eine Kollision im Kreisverkehr ist aber nicht typisch, wenn unklar ist, wer zuerst da war. Stellen Sie sich vor, ein Auto fährt sehr schnell in den Kreisverkehr ein, während ein anderes Auto kurz davor langsam eingefahren ist. Das schnellere Auto legt in kurzer Zeit eine weite Strecke zurück und kollidiert vielleicht erst kurz vor der nächsten Ausfahrt mit dem langsameren Fahrzeug. Obwohl es später eingefahren ist, war es zum Unfallzeitpunkt schon länger „unterwegs“. Die im Kreis zurückgelegte Strecke sagt also nichts darüber aus, wer zuerst eingefahren ist und somit Vorfahrt hatte. Da diese entscheidende Frage offenblieb, konnte der Anscheinsbeweis keiner Seite helfen.
Was sagte der Gutachter wirklich? Ein genauer Blick auf die Technik
Wenn sich die Aussagen der Beteiligten widersprechen, kommt oft ein technischer Sachverständiger ins Spiel. Dieser Experte soll anhand der Fahrzeugschäden, der Unfallendstellung und physikalischer Gesetze den Unfallhergang rekonstruieren. Auch in diesem Fall gab es ein solches unfallanalytisches Gutachten. Die Beklagten stützten ihre Berufung stark auf dieses Gutachten. Sie meinten, es belege ihre Version.
Das Gericht schaute sich die Aussagen des Sachverständigen jedoch sehr genau an. Dieser hatte zwar eine Geschwindigkeit des Beklagtenfahrzeugs von etwa 25 km/h angenommen, erklärte aber vor Gericht, dass dies nur eine angenommene „Normalgeschwindigkeit“ sei und keine aus den Spuren berechnete, exakte Geschwindigkeit. Er stellte auch fest, dass der Winkel der Kollision darauf hindeutete, dass das klägerische Fahrzeug sich noch in einer leichten Kurvenfahrt befand, was gegen die Theorie eines reinen Auffahrunfalls sprach.
Doch die entscheidende Aussage des Gutachters war eine andere: Er konnte nicht mit der für eine Verurteilung nötigen Sicherheit sagen, wer zuerst in den Kreisverkehr eingefahren war. Beide von den Parteien geschilderten Szenarien waren aus technischer Sicht möglich. Das Gutachten konnte also keine der beiden Geschichten eindeutig bestätigen oder widerlegen. Damit war die Hoffnung der Beklagten, das Gutachten würde sie entlasten, geplatzt.
Die Logik des Gerichts: Wenn niemandem ein Fehler nachgewiesen werden kann
Nachdem nun klar war, dass weder ein Anscheinsbeweis half noch das Gutachten eine klare Antwort lieferte, musste das Gericht eine rechtliche Lösung finden. Es griff auf einen fundamentalen Grundsatz des Haftungsrechts bei Verkehrsunfällen zurück: die sogenannte Betriebsgefahr.
Was bedeutet das? Die Betriebsgefahr ist das Risiko, das von jedem Kraftfahrzeug ausgeht, einfach weil es in Betrieb ist. Ein Auto ist ein schwerer, schneller Gegenstand, der immer eine potenzielle Gefahr darstellt, selbst wenn der Fahrer alles richtig macht. Wenn zwei Autos bei einem Unfall beteiligt sind, treffen zwei dieser Gefahren aufeinander. Das Gesetz (§ 17 StVG) sagt, dass im Falle eines Unfalls die Haftung danach verteilt wird, inwieweit der eine oder andere Teil den Unfall verursacht hat.
Kann aber, so wie hier, kein konkreter Fehler einer Seite nachgewiesen werden, bleibt nur die reine Betriebsgefahr übrig. Da es sich in diesem Fall um zwei normale Pkw handelte, ging das Gericht von einer gleich großen Betriebsgefahr auf beiden Seiten aus. Das Ergebnis dieser Abwägung ist dann eine hälftige Teilung der Verantwortung. Die Entscheidung des ersten Gerichts, eine Haftungsquote von 50 zu 50 festzulegen, war also aus Sicht des Landgerichts vollkommen korrekt.
Das Urteil: Die Berufung wird zurückgewiesen
Das Landgericht Lübeck wies die Berufung der Beklagten folglich zurück. Die Entscheidung des Amtsgerichts, das eine hälftige Teilung der Haftung angeordnet hatte, wurde bestätigt. Die Richter stellten fest, dass das erste Urteil nicht fehlerhaft war. Da nicht bewiesen werden konnte, dass eine Seite einen schwerwiegenderen Fehler begangen hatte als die andere, blieb es bei der Teilung des Schadens auf Grundlage der beiderseitigen Betriebsgefahr.
Für die Beklagten bedeutete dies, dass sie nicht nur die im ersten Urteil festgelegten rund 1.400 Euro an den Kläger zahlen müssen, sondern auch die gesamten Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen haben.
Die Schlüsselerkenntnisse
Das Urteil zeigt, dass bei Unfällen im Kreisverkehr ohne eindeutige Beweise für den Hergang eine hälftige Haftungsaufteilung zwischen beiden Beteiligten erfolgt. Auch wenn beide Fahrer unterschiedliche Versionen des Unfalls schildern und ein Technisches Gutachten erstellt wird, kann das Gericht bei fehlender Beweislage nicht zugunsten einer Partei entscheiden. In solchen Fällen greift das Prinzip der Betriebsgefahr – jedes Fahrzeug stellt bereits durch seine bloße Teilnahme am Straßenverkehr ein Risiko dar, weshalb beide Parteien gleichermaßen haften. Für Autofahrer bedeutet dies: Selbst wenn man überzeugt ist, keine Schuld am Unfall zu tragen, kann man bei unklarer Beweislage trotzdem zur Hälfte zur Verantwortung gezogen werden.
Befinden Sie sich in einer ähnlichen Situation? Fragen Sie unsere Ersteinschätzung an.
Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Was passiert, wenn die Unfallursache nach einem Verkehrsunfall unklar bleibt?
Wenn nach einem Verkehrsunfall die genaue Ursache nicht eindeutig geklärt werden kann oder Aussage gegen Aussage steht, stehen Betroffene oft vor einer schwierigen Situation. Für Sie ist es wichtig zu verstehen, dass dies nicht zwangsläufig bedeutet, dass niemand für den Schaden haftet. Das deutsche Rechtssystem bietet auch in solchen Fällen Wege, eine Lösung zu finden, die oft zu einer Teilung der Haftung führt.
Die Beweislast und die Betriebsgefahr
Grundsätzlich muss die Person, die Schadenersatz fordert, beweisen, dass die andere Partei den Unfall verursacht hat oder zumindest dafür verantwortlich ist. Dies nennt man die Beweislast. Kann dieser Beweis nicht erbracht werden, greifen im Straßenverkehrsrecht oft andere Prinzipien: die sogenannte Gefährdungshaftung. Diese besagt, dass der Halter eines Kraftfahrzeugs schon allein deshalb für Schäden haftet, weil von seinem Fahrzeug im Betrieb eine potenzielle Gefahr, die sogenannte „Betriebsgefahr“, ausgeht. Diese Betriebsgefahr ist ein fester Bestandteil des Risikos, das mit der Teilnahme am Straßenverkehr verbunden ist, selbst wenn der Fahrer fehlerfrei fährt.
Für Sie bedeutet das: Auch wenn niemandem ein eindeutiger Fahrfehler nachgewiesen werden kann, spielt die Betriebsgefahr der beteiligten Fahrzeuge eine Rolle.
Abwägung der Umstände und Haftungsverteilung
Wenn zwei oder mehr Fahrzeuge an einem Unfall beteiligt sind und die genaue Ursache unklar bleibt, also keinem Fahrer ein konkreter Fehler zugewiesen werden kann, findet eine Abwägung der beidseitigen Betriebsgefahren statt. Stellen Sie sich vor, zwei Autos stoßen zusammen, und es ist absolut nicht feststellbar, wer genau welche Spur verlassen hat oder warum es zur Kollision kam.
In einem solchen Fall prüfen Gerichte, welche Betriebsgefahr der beteiligten Fahrzeuge zum Unfall beigetragen hat. Dabei werden auch eventuelle, wenn auch nicht eindeutig beweisbare, geringe Verursachungsbeiträge oder sonstige Umstände berücksichtigt, die im Zusammenhang mit dem Unfall stehen könnten.
- Ist die Unfallursache vollständig ungeklärt und kann keinem Fahrer ein konkretes Verschulden nachgewiesen werden, führt diese Abwägung häufig zu einer Haftungsverteilung von 50:50. Das bedeutet, dass jeder Beteiligte die Hälfte seines eigenen Schadens selbst tragen muss und die Hälfte des Schadens des anderen übernehmen muss.
- In manchen Fällen können auch geringe, aber nicht vollständig beweisbare Anhaltspunkte für ein leichtes Mitverschulden einer Seite oder ein erhöhtes Gefahrenpotenzial eines Fahrzeugs (z.B. Größe, Geschwindigkeit im Einzelfall) zu einer anderen Verteilung (beispielsweise 70:30 oder 60:40) führen.
Das Ziel ist es, eine gerechte Verteilung der Schäden zu ermöglichen, selbst wenn die genaue Unfallursache im Detail verborgen bleibt. Der Gesetzgeber erkennt an, dass im Straßenverkehr nicht immer alles lückenlos rekonstruierbar ist, und schafft dafür rechtliche Mechanismen.
Was genau bedeutet der Anscheinsbeweis bei Verkehrsunfällen und wann wird er angewendet?
Der Anscheinsbeweis ist ein wichtiges juristisches Werkzeug, das bei Verkehrsunfällen zum Einsatz kommen kann, um die Schuldfrage zu klären, ohne dass jeder einzelne Aspekt des Unfallhergangs detailliert bewiesen werden muss. Stellen Sie sich vor, manche Unfälle folgen einem so typischen Muster, dass schon der Unfall selbst einen starken Hinweis auf die Ursache oder die verantwortliche Person gibt. Genau hier setzt der Anscheinsbeweis an.
Was der Anscheinsbeweis ist
Der Anscheinsbeweis bedeutet, dass bei einem typischen Unfallhergang die Gerichte davon ausgehen können, dass eine bestimmte Unfallursache oder ein bestimmtes Fehlverhalten wahrscheinlich vorlag, ohne dass dies im Detail bewiesen werden muss. Es ist sozusagen ein „Beweis des ersten Anscheins“ oder eine allgemeine Lebenserfahrung, die besagt: Wenn X passiert, ist in der Regel Y die Ursache.
Für Sie bedeutet das: Wenn ein Unfall einem solchen typischen Muster entspricht, wird zunächst angenommen, dass die naheliegende Ursache zutrifft. Derjenige, der in diesem Moment als Verursacher gilt, muss dann beweisen, dass es doch anders war oder dass er trotz des typischen Musters nicht schuld ist. Damit kehrt sich die Beweislast um.
Wann der Anscheinsbeweis angewendet wird
Der Anscheinsbeweis kommt immer dann zur Anwendung, wenn ein Unfall so abgelaufen ist, dass er einem anerkannten, typischen Verkehrsvorgang entspricht und die Schadensursache feststeht. Hier sind einige klassische Beispiele:
- Auffahrunfälle: Wenn ein Fahrzeug auf ein vorausfahrendes Fahrzeug auffährt, spricht der Anscheinsbeweis in der Regel dafür, dass der Auffahrende entweder zu schnell war, zu wenig Abstand gehalten hat oder unaufmerksam war.
- Unfälle beim Spurwechsel: Wer die Fahrspur wechselt und dabei mit einem anderen Fahrzeug kollidiert, bei dem spricht der Anscheinsbeweis oft dafür, dass er nicht ausreichend auf den nachfolgenden Verkehr geachtet hat.
- Unfälle beim Ausparken oder Rückwärtsfahren: Wer aus einer Parklücke fährt oder rückwärtsfährt und dabei ein anderes Fahrzeug beschädigt, trägt meist die primäre Verantwortung, da er besondere Sorgfaltspflichten hat.
In diesen Fällen spricht der Anscheinsbeweis eine Vermutung der Schuld aus, die der andere Unfallbeteiligte widerlegen muss.
Wann der Anscheinsbeweis nicht greifen kann
Der Anscheinsbeweis wird nicht angewendet, wenn der Unfallhergang untypisch oder zu komplex ist, um eine klare Vermutung abzuleiten. Wenn es besondere Umstände gibt, die vom üblichen Muster abweichen, oder wenn mehrere Ursachen denkbar sind, dann greift der Anscheinsbeweis nicht. In solchen Fällen muss die Schuld vollständig und detailliert bewiesen werden, zum Beispiel durch Zeugenaussagen, Sachverständigengutachten oder Unfallspuren.
Ein typisches Beispiel, bei dem der Anscheinsbeweis oft nicht anwendbar ist, sind Unfälle im Kreisverkehr. Dort gibt es viele mögliche Verhaltensweisen und Konstellationen, die zu einem Unfall führen können: Fehler beim Einfahren, beim Ausfahren, beim Fahrspurwechsel im Kreisverkehr oder Missachtung der Vorfahrt. Es existiert kein einziger, typischer Unfallhergang, der immer auf dieselbe Ursache hindeutet. Auch bei einem Unfall, der durch ein plötzliches und grundloses Bremsen des Vordermanns verursacht wird, kann der Anscheinsbeweis gegen den Auffahrenden entkräftet werden. In solchen Fällen ist eine genaue Klärung des gesamten Unfallhergangs notwendig, um die Verantwortlichkeiten festzustellen.
Welche Rolle spielt die sogenannte Beweislast bei einem Verkehrsunfall und wer trägt sie?
Die Beweislast ist ein zentrales Prinzip im Zivilrecht, das festlegt, wer welche Fakten beweisen muss, um vor Gericht Recht zu bekommen. Einfach ausgedrückt bedeutet sie: Wer etwas von einer anderen Person fordert – zum Beispiel Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall – muss die Tatsachen beweisen, die seinen Anspruch begründen. Kann eine Partei die von ihr behaupteten Tatsachen nicht beweisen, geht dies zu ihren Lasten. Das bedeutet, ihr Anspruch oder ihre Verteidigung kann scheitern.
Das Grundprinzip der Beweislast
Grundsätzlich gilt: Wer einen Anspruch geltend macht, trägt die Beweislast für die Voraussetzungen dieses Anspruchs. Wenn Sie beispielsweise nach einem Verkehrsunfall Schadensersatz von der Gegenseite verlangen, müssen Sie beweisen, dass die andere Person den Unfall verursacht hat oder dafür verantwortlich ist und Ihnen dadurch ein Schaden entstanden ist. Hierfür müssen Sie die genauen Umstände des Unfalls, wie etwa den Unfallhergang und die entstandenen Schäden, darlegen und beweisen können.
Wenn Sie beweisen können, dass der andere Verkehrsteilnehmer eine Pflichtverletzung begangen hat, die zum Unfall führte (z.B. ein Rotlicht missachtet oder zu schnell gefahren ist), und dadurch Ihr Schaden entstand, haben Sie gute Chancen. Gelingt Ihnen der Beweis nicht, kann es sein, dass Ihr Anspruch nicht durchgesetzt werden kann, selbst wenn Sie sich im Recht fühlen.
Besondere Regeln bei Verkehrsunfällen
Im Straßenverkehrsrecht gibt es einige Besonderheiten, die die Beweislastverteilung beeinflussen können:
- Gefährdungshaftung (§ 7 StVG): Für den Halter eines Kraftfahrzeugs (den Eigentümer oder denjenigen, der das Fahrzeug auf eigene Rechnung nutzt) besteht eine sogenannte Gefährdungshaftung. Das bedeutet, der Halter haftet für Schäden, die beim Betrieb seines Fahrzeugs entstehen, auch wenn ihn kein Verschulden trifft. Diese Haftung ist unabhängig davon, ob der Fahrer den Unfall verschuldet hat. Der Fahrzeughalter kann sich nur entlasten, wenn der Unfall auf ein unabwendbares Ereignis zurückzuführen ist, was sehr selten der Fall ist (z.B. ein Naturereignis wie ein Blitzeinschlag oder plötzliches Versagen der Technik, das auch durch größte Sorgfalt nicht hätte verhindert werden können). Für Sie als Unfallbeteiligten bedeutet dies, dass die Gegenseite unter Umständen haften muss, auch wenn Sie ihr kein konkretes Fehlverhalten nachweisen können, solange der Unfall beim Betrieb des gegnerischen Fahrzeugs passiert ist.
- Betriebsgefahr: Jedes Kraftfahrzeug stellt im Straßenverkehr eine potenzielle Gefahr dar. Diese sogenannte Betriebsgefahr des Fahrzeugs führt dazu, dass selbst wenn der andere Unfallbeteiligte eine Teilschuld trägt, ein Teil der Haftung beim Fahrzeughalter des eigenen Fahrzeugs verbleiben kann. Die Betriebsgefahr wird nur dann vollständig zurückgedrängt, wenn der Unfall für den Fahrzeughalter oder Fahrer des anderen Fahrzeugs ein unabwendbares Ereignis war, was wie oben erwähnt, nur selten zutrifft.
- Anscheinsbeweis: Bei typischen Unfallkonstellationen, wie zum Beispiel einem Auffahrunfall, kann der sogenannte Anscheinsbeweis zur Anwendung kommen. Wenn Sie etwa auf ein stehendes oder langsam fahrendes Fahrzeug auffahren, spricht der erste Anschein (der Anscheinsbeweis) dafür, dass Sie den Unfall durch unzureichenden Sicherheitsabstand oder Unaufmerksamkeit verursacht haben. Dies bedeutet, dass Sie nun beweisen müssen, dass der Unfall nicht auf Ihr Verschulden zurückzuführen ist, um die Haftung abzuwenden (z.B. indem Sie nachweisen, dass der Vordermann plötzlich und grundlos stark abgebremst hat). Der Anscheinsbeweis kann die Beweislastverteilung also umkehren und die Gegenseite dazu zwingen, den Anschein zu widerlegen.
Was passiert, wenn der Beweis nicht gelingt?
Wenn eine Partei die ihr obliegende Beweislast nicht erfüllen kann, also die notwendigen Tatsachen nicht beweisen kann, geht dies zu ihren Lasten. Das bedeutet, der Richter muss in der Regel entscheiden, als wären diese Tatsachen nicht geschehen oder nicht bewiesen. Folglich wird ein geltend gemachter Anspruch (z.B. auf Schadensersatz) abgewiesen oder der Umfang der Haftung anders bewertet, als es bei einem erfolgreichen Beweis der Fall gewesen wäre. Daher ist das Sammeln von Beweismitteln – wie Fotos, Zeugenaussagen, Polizeiberichte und Gutachten – unmittelbar nach einem Verkehrsunfall von großer Bedeutung.
Was ist die Betriebsgefahr eines Fahrzeugs und wie beeinflusst sie die Haftungsverteilung nach einem Unfall?
Die Betriebsgefahr eines Fahrzeugs ist die potenzielle Gefahr, die allein vom Betrieb eines Kraftfahrzeugs ausgeht. Stellen Sie sich vor, jedes Fahrzeug birgt von Natur aus ein gewisses Risiko, selbst wenn der Fahrer fehlerfrei fährt oder das Fahrzeug stillsteht, aber betriebsbereit ist. Diese Gefahr ist in der Technik und der Kraft des Fahrzeugs angelegt. Sie hängt nicht davon ab, ob ein Fahrer einen Fehler gemacht hat. Im deutschen Straßenverkehrsgesetz (StVG) ist festgelegt, dass diese inhärente Gefahr zu einer Haftung führen kann, auch ohne konkretes Verschulden des Fahrers.
Einfluss der Betriebsgefahr auf die Haftungsverteilung
Die Betriebsgefahr spielt eine entscheidende Rolle bei der Verteilung der Haftung nach einem Verkehrsunfall, besonders wenn kein eindeutiges Verschulden einer Partei nachweisbar ist.
- Haftung ohne Verschulden: Wenn ein Unfall passiert, kann die Betriebsgefahr eines Fahrzeugs dazu führen, dass der Halter des Fahrzeugs für entstandene Schäden haftet, selbst wenn ihm oder dem Fahrer kein konkreter Fahrfehler nachzuweisen ist. Dies ist der Fall, weil das Fahrzeug selbst als potenzielle Gefahrenquelle angesehen wird.
- Abwägung der Betriebsgefahren bei unklarer Schuld: Kommt es zu einem Unfall und lässt sich kein klares Verschulden einer Unfallpartei feststellen – zum Beispiel, weil beide Fahrer extrem vorsichtig waren oder die Situation sehr unübersichtlich war – dann wägen Gerichte die Betriebsgefahren der beteiligten Fahrzeuge gegeneinander ab. Dabei berücksichtigen sie auch andere unfallursächliche Faktoren, selbst wenn diese kein Verschulden darstellen. Wenn sich keine Partei als alleiniger Verursacher oder Hauptschuldiger herauskristallisiert, führt diese Abwägung oft zu einer Teilung der Haftung. Ein häufiges Ergebnis ist dann eine 50/50-Haftungsverteilung, da die Betriebsgefahr beider Fahrzeuge zum Unfall beigetragen hat und keine der Gefahren die andere eindeutig überwiegt. Für Sie bedeutet das, dass Sie auch dann einen Teil des Schadens selbst tragen müssen, wenn Sie sich persönlich keinerlei Fehlverhalten bewusst sind.
- Reduzierung des Schadensersatzes: Selbst wenn ein anderer Verkehrsteilnehmer einen klaren Fahrfehler begangen hat, kann die Betriebsgefahr des eigenen Fahrzeugs dazu führen, dass der eigene Anspruch auf Schadensersatz gemindert wird. Dies geschieht dann, wenn die Betriebsgefahr des eigenen Fahrzeugs in geringem Maße ebenfalls zum Unfall beigetragen hat. Nur bei einem sogenannten unabwendbaren Ereignis, also einem extrem seltenen und von keinem Fahrer vorhersehbaren oder vermeidbaren Geschehen, kann die Betriebsgefahr vollständig in den Hintergrund treten.
Wann kann ein technisches Gutachten bei einem Verkehrsunfall hilfreich sein und wann nicht?
Ein technisches Gutachten, erstellt von einem speziell ausgebildeten Sachverständigen, dient dazu, den genauen Unfallhergang und die Umstände eines Verkehrsunfalls wissenschaftlich zu rekonstruieren und zu analysieren. Es ist besonders relevant, wenn es widersprüchliche Aussagen zum Geschehen gibt oder die Unfallursache nicht sofort ersichtlich ist.
Wann ein technisches Gutachten hilfreich sein kann
Ein technisches Gutachten ist ein wertvolles Beweismittel, das objektive und physikalisch begründete Erkenntnisse liefern kann. Es kann in verschiedenen Situationen entscheidend zur Klärung beitragen:
- Bei widersprüchlichen Aussagen zum Unfallhergang: Wenn Unfallbeteiligte oder Zeugen den Hergang unterschiedlich schildern, kann ein Sachverständiger anhand der Spuren am Unfallort (z.B. Bremsspuren, Schleifspuren), an den Fahrzeugen (Verformungen, Lackübertragungen) sowie weiteren Faktoren (Beleuchtung, Sichtverhältnisse) den Ablauf rekonstruieren. So können unklare Kollisionen objektiv nachvollzogen werden.
- Zur Bestimmung von Geschwindigkeiten und Bremswegen: Oft ist die gefahrene Geschwindigkeit oder ein angeblicher Bremsweg entscheidend für die Schuldfrage. Ein Gutachten kann diese Werte anhand physikalischer Gesetze und der vorhandenen Spuren präzise berechnen.
- Bei Verdacht auf technische Mängel am Fahrzeug: Sollte der Verdacht bestehen, dass ein Defekt am Fahrzeug (z.B. ein Bremsversagen, ein Lenkungsproblem) den Unfall verursacht oder beeinflusst hat, kann ein Sachverständiger dies technisch untersuchen und bewerten.
- Zur Überprüfung der Plausibilität von Schäden: Ein Gutachter kann beurteilen, ob die an einem Fahrzeug entstandenen Schäden tatsächlich mit dem geschilderten Unfallhergang und der Energie der Kollision übereinstimmen. Dies hilft, ältere Schäden oder Schäden aus einem anderen Ereignis auszuschließen.
- Bei Verkehrsunfallflucht: Wenn ein Verursacher geflüchtet ist, können selbst kleinste Spuren wie Lackpartikel oder Reifenspuren vom Sachverständigen analysiert werden, um Rückschlüsse auf das unfallbeteiligte Fahrzeug zu ziehen.
Wann ein technisches Gutachten an seine Grenzen stößt
Trotz seiner umfassenden Möglichkeiten hat ein technisches Gutachten auch Grenzen. Es kann nicht in jeder Situation alle Fragen restlos klären:
- Bei eindeutigem Unfallhergang: Ist der Unfallhergang klar und unstrittig – beispielsweise bei einem offensichtlichen Auffahrunfall, bei dem die Schuldfrage eindeutig ist – bringt ein aufwendiges technisches Gutachten oft keinen nennenswerten zusätzlichen Erkenntnisgewinn.
- Bei fehlenden oder unzureichenden Spuren: Die Aussagekraft eines technischen Gutachtens hängt maßgeblich von den verfügbaren Spuren und Daten ab. Sind zu viele Spuren nicht gesichert, bereits entfernt oder durch Zeitablauf unkenntlich geworden, kann eine belastbare Rekonstruktion unmöglich sein. Dies gilt auch, wenn die Fahrzeuge nach dem Unfall zu schnell bewegt wurden, bevor Spuren dokumentiert werden konnten.
- Wenn die Faktenlage zu vage ist: Manchmal lassen sich auch mit den besten Methoden bestimmte kritische Parameter nicht eindeutig bestimmen, weil die zur Verfügung stehenden Informationen zu ungenau oder widersprüchlich sind. In solchen Fällen kann der Sachverständige eventuell nur Wahrscheinlichkeiten oder mögliche Bandbreiten angeben, was keine absolute Gewissheit schafft.
- Bei einem unverhältnismäßigen Kosten-Nutzen-Verhältnis: Insbesondere bei Unfällen mit geringem Schaden oder geringem Streitwert können die Kosten für ein umfassendes technisches Gutachten den möglichen Nutzen oder den Wert des Anspruchs übersteigen. Dies ist eine praktische Abwägung.
Für Sie bedeutet das: Ein technisches Gutachten ist ein sehr wirksames Werkzeug zur Aufklärung komplexer Verkehrsunfälle und zur objektiven Klärung von Sachverhalten. Es basiert auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und physikalischen Berechnungen. Seine Wirksamkeit hängt jedoch immer von der Qualität und Verfügbarkeit der Unfallspuren und -daten ab. Wenn ein Gutachten keine abschließende Klarheit bringen kann, liegt das oft an den fehlenden oder unzureichenden Grundlagen, die eine präzise Rekonstruktion nicht zulassen.
Hinweis: Bitte beachten Sie, dass die Beantwortung der FAQ Fragen keine individuelle Rechtsberatung darstellt und ersetzen kann. Alle Angaben im gesamten Artikel sind ohne Gewähr. Haben Sie einen ähnlichen Fall und konkrete Fragen oder Anliegen? Zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren. Wir klären Ihre individuelle Situation und die aktuelle Rechtslage.
Glossar
Juristische Fachbegriffe kurz erklärt
Beweislast
Die Beweislast bestimmt im Zivilrecht, wer die notwendigen Tatsachen für einen Anspruch vor Gericht nachweisen muss. Wer also einen Schadensersatzanspruch geltend macht, wie etwa nach einem Verkehrsunfall, muss beweisen, dass die Gegenseite den Unfall verschuldet hat und dadurch ein Schaden entstanden ist (§ 286 ZPO). Gelingt der Beweis nicht, kann der Anspruch abgewiesen werden. Im Unfallkontext bedeutet dies: Der Kläger muss nachweisen, dass der Beklagte den Unfall verursacht hat.
Beispiel: Wenn Sie von einem anderen Fahrer angefahren wurden und Schadensersatz verlangen, müssen Sie darlegen und beweisen, dass dieser Fahrer schuldhaft gehandelt hat – zum Beispiel durch Zeugen oder ein Gutachten.
Anscheinsbeweis
Der Anscheinsbeweis ist eine Beweiserleichterung, die bei Verkehrsunfällen hilft, wenn ein Unfall einem typischen, häufig auftretenden Muster entspricht. Dann wird vermutet, dass die naheliegende Unfallursache vorliegt, ohne dass jede Einzelheit bewiesen werden muss. Liegt zum Beispiel ein Auffahrunfall vor, spricht der erste Anschein oft dafür, dass der Auffahrende nicht genug Abstand gehalten hat. In solchen Fällen muss der vermeintliche Verursacher beweisen, dass er nicht schuld war.
Beispiel: Wenn ein Auto auf ein anderes auffährt, vermuten Gerichte durch den Anscheinsbeweis, dass der Auffahrende unaufmerksam war, bis dieser beweist, dass der Vordermann plötzlich und grundlos gebremst hat.
Betriebsgefahr
Die Betriebsgefahr ist das Risiko, das grundsätzlich von jedem Kraftfahrzeug im Betrieb ausgeht, unabhängig davon, ob der Fahrer einen Fehler macht. Sie ist im Straßenverkehrsgesetz (§ 17 StVG) verankert und bedeutet, dass der Halter eines Fahrzeugs für Schäden haftet, die durch den Betrieb seines Fahrzeugs entstehen können, auch wenn ihn kein Verschulden trifft. Wenn bei einem Unfall kein klarer Verursacher feststellbar ist, wird die Betriebsgefahr beider Fahrzeuge gegeneinander abgewogen, was oft zu einer Haftungsteilung führt.
Beispiel: Wenn zwei Fahrzeuge in einem Kreisverkehr zusammenstoßen und nicht klar ist, wer schuld ist, tragen beide wegen der Betriebsgefahr ihres Fahrzeugs einen Teil der Verantwortung.
Technisches Gutachten
Ein technisches Gutachten wird von einem Sachverständigen erstellt und dient dazu, den Unfallhergang anhand wissenschaftlicher und physikalischer Methoden objektiv zu rekonstruieren. Es wertet Fahrzeugschäden, Unfallspuren und Unfallpositionen aus, um zu ermitteln, wie der Unfall passiert sein könnte. Ein Gutachten kann bei widersprüchlichen Aussagen helfen, ist aber auf die Qualität der Beweismittel und Spuren angewiesen. Wenn diese unklar sind, kann es keine endgültige Klärung bringen.
Beispiel: Nach einem Crash analysiert ein Sachverständiger die Bremsspuren und Schadensbilder, um herauszufinden, ob ein Fahrer zu schnell war oder plötzlich gebremst hat.
Haftungsquote (Haftungsverteilung)
Die Haftungsquote bestimmt den prozentualen Anteil des Schadens, für den jede Partei bei einem Unfall haftbar gemacht wird. Bei unklaren Schuldverhältnissen, wie wenn der Unfallhergang nicht vollständig geklärt ist, setzt das Gericht oft eine Teilung der Haftung fest (zum Beispiel 50:50). Diese Regelung stellt sicher, dass beide Beteiligten entsprechend ihres jeweiligen Beitrags zum Unfall Schadenersatz leisten müssen, auch wenn kein konkretes Verschulden bewiesen werden kann.
Beispiel: Wenn zwei Fahrer im Kreisverkehr kollidieren und nicht nachgewiesen werden kann, wer die Vorfahrt missachtet hat, zahlt jeder etwa die Hälfte des Schadens des anderen.
Wichtige Rechtsgrundlagen
- Straßenverkehrsgesetz (StVG), insbesondere § 7 StVG (Gefährdungshaftung des Halters): Dieses Gesetz begründet die sogenannte Betriebsgefahr eines Kraftfahrzeugs. Sie besagt, dass der Halter eines Fahrzeugs für Schäden haftet, die beim Betrieb seines Fahrzeugs entstehen, und zwar unabhängig davon, ob ihn oder den Fahrer ein Verschulden trifft. Es ist eine sogenannte Gefährdungshaftung, die aus der bloßen potenziellen Gefahr resultiert, die ein fahrendes Fahrzeug darstellt. Diese Haftung ist grundlegend für Verkehrsunfälle, bei denen ein Fehlverhalten nicht nachweisbar ist. → Bedeutung im vorliegenden Fall: Die Betriebsgefahr der beiden Fahrzeuge war die entscheidende Grundlage für die Haftung, da ein konkretes Verschulden keiner Partei nachgewiesen werden konnte.
- Straßenverkehrsgesetz (StVG), insbesondere § 17 StVG (Haftung mehrerer Beteiligter): Dieser Paragraph regelt, wie die Haftung verteilt wird, wenn mehrere Fahrzeuge an einem Unfall beteiligt sind und alle eine Betriebsgefahr aufweisen. Die Schadensteilung richtet sich danach, wessen Verursachungsbeitrag höher war oder wessen Seite ein größeres Verschulden trifft. Kann kein überwiegenes Verschulden oder eine höhere Verursachung festgestellt werden, erfolgt eine gleichmäßige Teilung des Schadens auf Basis der reinen Betriebsgefahr. → Bedeutung im vorliegenden Fall: Da das Gericht kein überwiegendes Verschulden feststellen konnte, wurde der Schaden aufgrund der gleich hohen Betriebsgefahr beider Fahrzeuge hälftig geteilt (50:50).
- Beweislast im Zivilprozess: Dies ist ein fundamentaler Rechtsgrundsatz im Zivilrecht, der besagt, dass jede Partei die Tatsachen beweisen muss, die ihr zur Geltendmachung oder Abwehr eines Anspruchs dienen. Gelingt der Beweis einer Tatsache, die für den Anspruch wesentlich ist, nicht, so geht dies zulasten der beweisbelasteten Partei. Dieser Grundsatz ist entscheidend für den Ausgang eines Verfahrens, wenn Beweisschwierigkeiten bestehen. → Bedeutung im vorliegenden Fall: Die fehlende Beweisbarkeit des genauen Unfallhergangs führte dazu, dass der Kläger die von ihm behauptete alleinige Schuld des Beklagten nicht beweisen konnte, was eine umfassende Klageabweisung oder die hälftige Teilung der Haftung zur Folge hatte.
- Beweis des ersten Anscheins: Dies ist eine juristische Beweiserleichterung, die bei typischen Geschehensabläufen zur Anwendung kommt, bei denen aus der allgemeinen Lebenserfahrung ein bestimmter Schluss auf die Ursache oder das Verschulden gezogen werden kann. Der Anscheinsbeweis bewirkt, dass derjenige, gegen den der Anschein spricht, beweisen muss, dass der atypische Ablauf vorlag oder ihn kein Verschulden trifft. Er gilt jedoch nur, wenn der Unfallhergang klar und zweifelsfrei typisch ist. → Bedeutung im vorliegenden Fall: Das Gericht prüfte, ob im Kreisverkehr ein Anscheinsbeweis für oder gegen eine Partei sprach, lehnte dies jedoch ab, da der Unfallhergang als nicht typisch genug eingestuft wurde, um eindeutige Rückschlüsse auf die Schuld zu ziehen.
Das vorliegende Urteil
LG Lübeck – Az.: 14 S 26/23 – Urteil vom 25.07.2024
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Ich bin seit meiner Zulassung als Rechtsanwalt im Jahr 2003 Teil der Kanzlei der Rechtsanwälte Kotz in Kreuztal bei Siegen. Als Fachanwalt für Verkehrsrecht und Fachanwalt für Versicherungsrecht, sowie als Notar setze ich mich erfolgreich für meine Mandanten ein. Weitere Tätigkeitsschwerpunkte sind Mietrecht, Strafrecht, Verbraucherrecht, Reiserecht, Medizinrecht, Internetrecht, Verwaltungsrecht und Erbrecht. Ferner bin ich Mitglied im Deutschen Anwaltverein und in verschiedenen Arbeitsgemeinschaften. Als Rechtsanwalt bin ich bundesweit in allen Rechtsgebieten tätig und engagiere mich unter anderem als Vertragsanwalt für […] mehr über Dr. Christian Gerd Kotz