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Verkehrsunfall – Kollision Linksabbieger mit Linksüberholer

OLG Jena – Az.: 7 U 152/16 – Urteil vom 28.10.2016

1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Landgerichts Gera vom 26.01.2016, Az. 4 O 1338/14, abgeändert. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

(abgekürzt nach § 313 a Abs. 1 S. 1 ZPO)

I.

Die Parteien streiten um Schadensersatzansprüche aus übergegangenem Recht und Feststellung der Einstandspflicht der Beklagten für zukünftig resultierende Schäden aus einem Unfallereignis vom 28.11.2011 auf der Bundesstraße B … aus Richtung G in Richtung W, bei dem die Zeugin V in Ausübung ihrer Beschäftigung als Postzustellerin der … AG mit dem von ihr geführten Dienstfahrzeug VW Caddy mit dem amtlichen Kennzeichen … mit dem vom Beklagten zu 1 geführten Kleintransporter DaimlerChrysler, amtliches Kennzeichen …, kollidierte, als sie nach links in Richtung K abbiegen wollte und vom Beklagten zu 1 links überholt wurde.

Das Landgericht hat nach Beweisaufnahme unter Zugrundelegung der auch von der Klägerin angenommenen Haftungsquote von 50 % der Klage im Wesentlichen stattgegeben.

Die Beklagten wenden sich mit der Berufung gegen die Haftungsquote sowie gegen den Umstand, dass das Landgericht keinen Abzug ersparter Eigenaufwendungen vorgenommen hat. Sie sind der Ansicht, dass vorliegend der Beweis des ersten Anscheins dafür spreche, dass die Zeugin V ihre Pflichten beim Linksabbiegen verletzt habe, was zu einer Alleinhaftung dieser für die Unfallfolgen führe und verfolgen ihren Klageabweisungsantrag weiter.

Die Klägerin verteidigt die angegriffene Entscheidung.

II.

Die Berufung ist zulässig und hat in der Sache Erfolg.

Dies beruht auf folgenden Erwägungen: Auf die Klägerin konnte nach § 116 Abs. 1 SGB X bzw. §§ 6 EFZG, 2 Abs. 1 Nr. 5 PostSVOrgG in der bis zum 31.12.2015 geltenden Fassung bereits kein Anspruch gegen die Beklagten auf Schadensersatz übergehen, da der Zeugin V ein solcher Anspruch gegen die Beklagten nicht aus §§ 7, 18, 17 Abs. 1, Abs. 2 StVG, 249, 823, 840 BGB, 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG und auch sonst aus keiner Anspruchsgrundlage zusteht. Denn es ist von einer Alleinhaftung der Zeugin V für die Unfallfolgen auszugehen.

Zunächst ist eine Verletzung der Gesundheit der Zeugin V bei Betrieb eines Kraftfahrzeugs im Sinne von § 7 Absatz 1 StVG gegeben.

Der Unfall stellt sich weiter weder für die Zeugin V noch für den Beklagten zu 1 als unabwendbares Ereignis im Sinne des § 17 Abs. 3 Satz 1 StVG dar. Unabwendbar i.S.d. § 17 Abs. 3 S. 1 StVG ist ein Ereignis, das auch durch äußerste mögliche Sorgfalt nicht abgewendet werden kann (BGH DAR 05, 263; BGHZ 117, 337). Dazu gehört sachgemäßes, geistesgegenwärtiges Handeln über den gewöhnlichen persönlichen Maßstab hinaus (BGH DAR 05, 263; NZV 91, 185), gemessen an den durchschnittlichen Verhaltensanforderungen ist das das Verhalten eines Idealfahrers (BGH NZV 1991, 185; 1992, 229). Weder die Zeugin V noch der Beklagte zu 1 können mangels einer entsprechenden Beweisführung für sich in Anspruch nehmen, sich auf ein etwaiges Fehlverhalten des jeweils anderen eingestellt zu haben. Beide Unfallbeteiligte haben nicht das Verhalten eines Idealfahrer an den Tag gelegt.

Somit kommt es auf die Abwägung der Verursachung- und Verschuldensanteile der Unfallbeteiligten, Zeugin V und Beklagter zu 1, unter Berücksichtigung der von beiden Fahrzeugen ausgehenden Betriebsgefahren an, § 17 Abs. 2 StVG. Hierbei sind nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs neben unstreitigen nur bewiesene Umstände zu berücksichtigen. Zulasten der Zeugin V ist dabei zunächst von einem Verstoß gegen § 9 Abs. 1 StVO, insbesondere gegen ihre Pflicht zur doppelten Rückschau, § 9 Abs. 1 S. 4 StVO, auszugehen. Hierfür spricht – entgegen der Ansicht des Landgerichts – nach herrschender obergerichtlicher Rechtsprechung der Beweis des ersten Anscheins. Denn kommt es im unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Linksabbiegen zu einer Kollision mit einem Fahrzeug, welches links überholt, so spricht der Beweis des ersten Anscheins für die Verletzung der Pflichten des Linksabbiegers aus § 9 Abs. 1 StVO und insbesondere für einen Verstoß gegen die doppelte Rückschaupflicht (vgl. OLG Hamburg, Urt. v. 20.03.2012, Az. 15 U 15/12; KG Urt. v. 15.08.2005, Az. 12 U 41/05; KG Urt. v. 06.12.2004, Az. 12 U 21/04; OLG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 12.12.2008, Az. 6 U 106/08; König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 43. Aufl. 2015, § 9 StVO Rn. 55 m.w.N.). Danach hat derjenige, der links abbiegen will, vor dem Einordnen und nochmals vor dem Abbiegen auf den nachfolgenden Verkehr zu achten; ein etwaiges Fahrzeug, das überholen will und das bei der Rückschau gesehen wird, ist hierbei vor dem Abbiegen durchzulassen (vgl. König a.a.O., § 9 StVO Rn. 26, m.w.N.; OLG Frankfurt/M. VM 77, 46; OLG Düsseldorf VRS 64, 409).

Verkehrsunfall - Kollision Linksabbieger mit Linksüberholer
(Symbolfoto: Dmitry Kalinovsky/Shutterstock.com)

Die doppelte Rückschaupflicht entfällt nach § 9 Abs. 1 S. 4 a.E. StVO nur, wenn die Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs ausgeschlossen ist. Dies ist jedoch nur dann der Fall, wenn ein Linksüberholen technisch unmöglich ist oder wenn dies besonders grob verkehrswidrig wäre  und deshalb auch bei größter Sorgfalt nicht voraussehbar ist, oder bei Gewissheit, dass der nachfolgende Verkehr das Abbiegen nach links erkannt hat (vgl. König, a.a.O., § 9 StVO Rn. 25 m.w.N.). All dies ist vorliegend nicht der Fall. Es handelte sich um einen Unfall im normalen Straßenverkehr zur Tageszeit, bei dem eine sichere Gefährdung nachfolgenden Verkehrs schon in Anbetracht der Geräuschlosigkeit von Fahrzeugen und ihrer Geschwindigkeit per se nicht ausgeschlossen werden kann (vgl. König, a.a.O., § 9 StVO Rn. 25).

Der gegen die Zeugin V sprechende Beweis des ersten Anscheins ist auch nicht erschüttert. Der Anscheinsbeweis kann nur durch bewiesene Tatsachen ausgeräumt werden, welche die ernsthafte Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufs als den nach der allgemeinen Erfahrung typischen ergeben können (BGH VersR 1969, 859, 860; BGH NJW 1982, 2268). Derartige, zur Widerlegung des Anscheinsbeweises dienende Tatsachen, aus denen sich zwingend ergibt, dass sich die Zeugin V bei dem Abbiegevorgang so sorgfältig verhalten hat, wie das geboten war, hat die Klägerin nicht nachgewiesen. Ebenso wenig hat sie nachweisen können, dass der Beklagte zu 1 unfallverhütend hätte reagieren können und sich nicht verkehrsrichtig verhalten hat.

Zunächst kann der – unstreitige – Überholvorgang des Beklagten zu 1 als solcher die „Typizität“ der Anscheinsbeweislage nicht beeinträchtigen. Zulässiges und verkehrsgerechtes Überholen stellt – ebenso wie beispielsweise der bevorrechtigte Gegenverkehr – eine Grundvoraussetzung dafür dar, dass sorgfaltswidriges Abbiegen überhaupt zu einem Unfall, dann allerdings mit einer entsprechenden Anscheinsbeweislage führt (vgl. OLG Brandenburg, Urt. v. 26.09.2001, Az. 1 U 24/01; OLG Frankfurt a.M., NZV 2000, 211; OLG Nürnberg, NZV 2003, 89; OLG München, Urt. v. 23.01.2005, Az. 10 U 299/14, m.w.N.).

Der Anscheinsbeweis ist auch nicht erschüttert durch die Angaben der Zeugin V, dass sie vor dem Abbiegen links geblinkt, sich eingeordnet und erneute Rückschau gehalten habe. Dies ist erstinstanzlich gerade nicht bewiesen, sondern streitig geblieben und betrifft damit nicht das nach umfassender Sachverhaltsaufklärung und Beweiswürdigung festgestellte Kerngeschehen, sondern die Frage einer möglichen Erschütterung des Anscheinsbeweises, für welche die Klägerin darlegungs- und beweispflichtig ist. Der Anscheinsbeweis für verkehrs- und sorgfaltswidriges Abbiegen entfällt aber nicht aufgrund der bloßen Behauptung, die notwendige Sorgfalt sei gerade beachtet worden (OLG München, Urt. v. 23.01.2015, Az. 10 U 299/14).

Entgegen der Ansicht der Klägerin hat der Beklagte zu 1 auch nicht gegen § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO (Überholen trotz unklarer Verkehrslage) verstoßen. Eine unklare Verkehrslage ist gegeben, wenn nach allen Umständen mit gefahrlosem Überholen nicht gerechnet werden darf (OLG Koblenz NZV 05, 413; OLG Saarbrücken VRS 106, 171; König, a.a.O., § 5 StVO Rn. 34); dies ist etwa der Fall, wenn sich nicht beurteilen lässt, was der Vorausfahrende jetzt sogleich tun wird (vgl. OLG Koblenz, a.a.O.,), wenn es den Anschein hat, er wolle abbiegen, ohne dass dies deutlich wird (OLG Karlsruhe NZV 99, 166; KG Berlin NZV 93, 232). Hier hat die Klägerin jedoch nach den nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen nicht den Beweis erbracht, dass die Zeugin V erstens überhaupt und zweitens rechtzeitig links geblinkt oder aber auch nur sich möglichst weit links eingeordnet hat. Für die Annahme einer unklaren Verkehrslage reicht aber allein der Umstand, dass das von der Zeugin V geführte Fahrzeug ggf. langsamer geworden ist und sich zum Fahrbahnrand orientiert hat, nicht aus (vgl. KG Berlin Urt. v. 12.07.2010, Az. 12 U 177/09). Auch ist die Verkehrslage nicht i.S.d. § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO unklar, wenn ein vorausfahrendes Fahrzeug vor einer linken Abzweigung auffallend langsam fährt, ohne sich links einzuordnen (vgl. BayObLG VRS 72, 295; 61, 61, 63; KG VRS 106, 173).

Dabei kann der Senat die Sache auch abschließend entscheiden, ohne die Zeugin V gemäß § 398 ZPO erneut vernommen bzw. den Beklagten zu 1 erneut angehört zu haben. Zwar darf das Berufungsgericht die Frage der Glaubwürdigkeit der vernommenen Zeugen nicht abweichend von der ersten Instanz beurteilen, ohne die Zeugen erneut vernommen zu haben (vgl. BGH NJW 1986, 2885). Auch ist eine erneute Vernehmung dann erforderlich, wenn die erste Instanz von der Würdigung der Aussagen von ihr vernommener Zeugen und der Erörterung der Glaubwürdigkeit der Zeugen ganz abgesehen hat oder die Beweiswürdigung des erstinstanzlichen Urteils völlig ungenügend ist (BGH NZM 2000, 143, 144). So liegt der Fall hier allerdings nicht. Das Landgericht hat hinsichtlich der Frage, ob sich die Zeugin V links eingeordnet und links geblinkt hat ausgeführt, dass die Angabe des Beklagten zu 1 in ihrem Wahrheitsgehalt nicht höher zu bewerten sind als die Angaben der Zeugin V. Es hat also die Angaben der Zeugin V einerseits und des Beklagten zu 1 andererseits in gleichem Maße als glaubwürdig beurteilt. Das Berufungsgericht ist jedoch nicht gehindert, den von der ersten Instanz festgestellten Sachverhalt rechtlich anders zu werten, ohne die Zeugen erneut vernommen zu haben (vgl. KG Berlin, Urt. v. 15.08.2005, Az. 12 U 41/05).

Nach der danach zugrunde zu legenden Beweislage ist von einer Haftungsquote zu 100 % zu Lasten der Zeugin V auszugehen. Im Rahmen der nach § 17 Abs. 1, Abs. 2 StVG zu treffenden Abwägung steht nämlich der grobe Verstoß der Zeugin V gegen die für sie sich aus § 9 Abs. 1 StVO ergebende besondere Sorgfaltspflicht im Vordergrund. Die bloße Betriebsgefahr des Fahrzeugs des Beklagten zu 1 tritt im Falle eines solchen Verstoßes gegen § 9 StVO grundsätzlich zurück (vgl. OLG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 12.12.2008, Az. 6 U 106/08, m.w.N.; KG Berlin, Urt. v. 01.02.1999, Az. 12 U 8772/97; KG Berlin NZV 2006, 309; OLG Nürnberg, NZV 2003, 89; OLG München, Urt. v. 23.01.2015, Az. 10 U 299/14; König, a.a.O., § 9 StVO Rn. 55).

Mangels der Zeugin V danach zustehender Ansprüche gegen die Beklagten aus dem Verkehrsunfallereignis konnten auch keine Ansprüche auf die Klägerin übergehen, weshalb die Klage als unbegründet abzuweisen und das erstinstanzliche Urteil entsprechend abzuändern ist. Auf die Frage der Anrechnung ersparter Eigenaufwendungen kommt es danach nicht mehr an.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO.

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.

Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 ZPO nicht vorliegen.

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