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Verkehrsunfall mit Beteiligung von Kindern – unaufmerksam überquerende Kinder

LG Erfurt – Az.: 2 S 262/11 – Urteil vom 25.05.2012

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts Arnstadt – Zweigstelle Ilmenau – (Az: 3 C 398/08) wird zurückgewiesen.

2. Die Kosten des Berufungsverfahrens tragen die Beklagten.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Von der Darstellung des Tatbestands wird gemäß § 540 Abs. 2 i. V. m. § 313 a ZPO abgesehen.

Die gemäß §§ 517 ff ZPO zulässige Berufung der Beklagten hat in der Sache keinen Erfolg.

Der Klägerin steht ein Anspruch auf Erstattung von 30 % der ihr entstandenen Schäden zu, weil sich die Beklagten die Betriebsgefahr des von ihnen geführten bzw. bei ihnen haftpflichtversicherten Pkws anrechnen lassen müssen, nachdem es ihnen nicht gelungen ist, den Nachweis zu erbringen, dass sich die Beklagte zu 1. wie eine Idealfahrerin verhalten hat (§§ 7 Abs. 1, 11, 17 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG i. V. m. § 115 VVG).

Zwar trifft die zum Unfallzeitpunkt 12-jährige Klägerin das alleinige Verschulden an dem Verkehrsunfall, weil sie den Unfall dadurch verursacht hat, dass sie verdeckt durch den auf der … Straße in … haltenden VW Kleintransporter T 5 über die Straße gerannt ist, ohne sich zuvor vergewissert zu haben, ob aus der entgegen gesetzten Fahrtrichtung ein Fahrzeug herangefahren kam (§ 25 Abs. 3 StVO). Infolge dessen wurde die Klägerin von dem Fahrzeug der Beklagten erfasst, so dass sie erhebliche Verletzungen erlitten hat, deren Umfang mit der Berufung nicht (mehr) angegriffen wird.

Ein Verschulden der Beklagten zu 1. ist indessen nicht festzustellen. Zutreffend hat bereits das Amtsgericht ausgeführt, dass ein Verstoß gegen § 20 Abs. 1 StVO (vorsichtiges Vorbeifahren an öffentlichen Verkehrsmitteln und Schulbussen) nicht ersichtlich ist. Denn bei dem VW Kleintransporter T 5, mit welchem die Klägerin nach Hause gefahren worden ist, handelt es sich weder um ein öffentliches Verkehrsmittel, noch um einen als solchen gekennzeichneten Schulbus, so dass der Schutzbereich der Norm hier nicht einschlägig ist.

Auch ein Geschwindigkeitsverstoß (§ 3 Abs. 3 StVO) der Beklagten zu 1. ist nicht erwiesen. So konnte die Behauptung der Beklagten, dass die Beklagte zu 1. die innerörtliche Höchstgeschwindigkeit mit gefahrenen ca. 50 km/h eingehalten habe, durch den Sachverständigen … nicht widerlegt werden. Vielmehr lag die Ausgangs- und Kollisionsgeschwindigkeit des Beklagtenfahrzeugs nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen zwischen 40 – 58 km/h, weshalb eine Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit nicht festgestellt werden kann.

Verkehrsunfall mit Beteiligung von Kindern - unaufmerksam überquerende Kinder
Symbolfoto: Von granata68/Shutterstock.com

Ebenso wenig ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ein Verschulden der Beklagten zu 1. gemäß § 3 a Abs. 2 a StVO erwiesen. Denn zum einen ist bereits fraglich, ob die seinerzeit 12-jährige Klägerin noch eindeutig in den Kreis der hilfsbedürftigen Personen im Sinne dieser Vorschrift fällt. Dies kann aber letztlich offen bleiben. Denn ein Vorwurf könnte der Beklagten zu 1. nur dann gemacht werden, wenn sich ihr erkennbar eine Situation geboten hätte, die auf Grund des Verhaltens der Klägerin und der konkreten Verkehrsituation den Eintritt einer Gefahr befürchten lässt. Dies ist vorliegend indessen nicht erwiesen, nachdem die Behauptung der Beklagten, dass die Klägerin völlig unerwartet und somit als hilfsbedürftige Person gar nicht rechtzeitig erkennbar über die Straße gelaufen ist, nicht widerlegt worden ist.

Auch ein Verstoß der Beklagten zu 1. gegen §§ 3 Abs. 1 S. 2, 1 S. 2 StVO steht mit der erforderlichen Gewissheit im Sinne des § 286 ZPO fest. Insbesondere kann nach Durchführung der Beweisaufnahme nicht sicher festgestellt werden, dass die Beklagte zu 1. das Aussteigen der Klägerin aus dem VW Kleintransporter sowie deren Absicht, über die Straße zu laufen, hätte erkennen können und müssen.

Allerdings tritt im vorliegenden Fall die Betriebsgefahr des Fahrzeugs der Beklagten zu 1. nicht hinter dem alleinigen Verschulden der geschädigten Klägerin zurück.

Grundsätzlich hat ein Fußgänger zwar für einen Unfallschaden allein einzustehen, wenn seinem groben Eigenverschulden die – nicht erhöhte – Betriebsgefahr des Kraftfahrzeugs des Unfallsgegners gegenüber steht (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 04.04.2011, Az: 12 U 105/10; Saarländisches OLG, Urteil vom 08.02.2011, Az: 4 U 200/10).

Die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs resultiert vorliegend daraus, dass die Beklagten nicht bewiesen haben, dass der Unfall für die Beklagten zu 1. nicht mehr zu vermeiden war und sich für sie mithin als unabwendbares Ereignis im Sinne von § 17 Abs. 3 StVG dargestellt hat. So sind nach den Ausführungen des Sachverständigen … mehrere Unfallverlaufskonstellationen denkbar, bei denen eine Vermeidbarkeit für die Beklagte zu 1. gegeben gewesen wäre. Denn sollte die Gehgeschwindigkeit der Klägerin, wozu es keine sicheren sachverständigen oder sonstigen Erkenntnisse gibt, nur 5 km/h betragen haben, so wäre der Beklagten zu 1. bei einer Annäherungsgeschwindigkeit von 40 km/h bzw. der örtlich zulässigen Geschwindigkeit von 50 km/h ein Anhalten noch vor dem Kollisionspunkt möglich gewesen (Seite 43 und Skizze 06 des Sachverständigengutachtens …). Aber auch bei einer höheren Bewegungsgeschwindigkeit der Klägerin von 7 km/h, einer möglichen Annäherungsgeschwindigkeit des Beklagtenfahrzeugs von 58 km/h und der Erwartungshaltung, dass die Beklagte zu 1. im Zeitpunkt der Reaktionsaufforderung mit der örtlich zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h fährt und optimal reagiert, hätte der Unfall in zeitlicher Hinsicht vermieden werden können, weil die Klägerin dann bei einem Zeitgewinn von 0,35 Sekunden eine weitere Wegstrecke von 0,68 cm hätte zurücklegen können und sie dann von dem Fahrzeug der Beklagten lediglich streifend im Rücken – oder Gesäßbereich – noch berührt worden wäre (vgl. BGH, Urteil vom 18.11.2003, Az: 6 ZR 31/02, Rz. 9). Darüber hinaus haben die Beklagten ihrerseits nicht zu beweisen vermocht, dass die Beklagte zu 1. die Klägerin beim Aussteigen aus dem VW Kleintransporter sowie deren Vorhaben, die Straße überqueren zu wollen, nicht hat erkennen können. Die Beklagte zu 1. hat sich lediglich dahingehend eingelassen, dass sie den auf der entgegen gesetzten Fahrspur stehenden Kleintransporter, der den rechten Blinker eingeschaltet hatte, bemerkt hat. Es ist aber zumindest wahrscheinlich, dass die Beklagte zu 1. – hätte sie sich wie eine Idealfahrerin verhalten – bei gehöriger Aufmerksamkeit eine Person auf der Fahrbahn hätte wahrnehmen können, um sich deshalb nur mit reduzierter Geschwindigkeit und unter gleichzeitiger Bremsbereitschaft der späteren Unfallstelle anzunähern. Anhaltspunkte dafür gab es genug: So war die Klägerin nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme durch die rechtsseitige Schiebetür aus dem Kleintransporter ausgestiegen und hat den Zeugen R. und H. noch zugewunken. Außerdem hielt nicht nur der Kleintransporter auf der ortsauswärtsführenden Fahrspur, sondern auch der Zeuge E. mit seinem dahinter wartenden Pkw, ohne dass die Beklagte zu 1. in Erwägung zog, dass sich deshalb eine oder mehrere Personen auf der Fahrbahn befinden könnten. Zudem lag der Schluss nahe, dass ein möglicherweise aus dem Kleinbus ausgestiegener Fahrgast – wenn auch unter gehöriger Beachtung des bevorrechtigten Straßenverkehrs – die Straße überqueren würde, weil es auf der Straßenseite, an der der Kleintransporter gehalten hatte, weder einen befestigten Gehweg noch eine Wohnbebauung gibt, sondern lediglich einen Grünstreifen und steil aufsteigendes Gelände mit Büschen und Bäumen.

Aus den weiteren Umständen ergibt sich nach Auffassung der Kammer kein derart grobes Eigenverschulden der Klägerin, dass deshalb ein Zurücktreten der vorbezeichneten dargestellten Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs gerechtfertigt wäre. Zwar ist das Verschulden der Klägerin – wie vorstehend ausgeführt – erheblich. Allerdings ist bei der Abwägung auch die konkrete Situation der Klägerin mit zu berücksichtigen. Insbesondere hinsichtlich des subjektiven Verschuldens der Klägerin erscheint der Kammer die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs nicht völlig untergeordnet. Dabei ist das Alter der Klägerin zu berücksichtigen. In der Regel ist ein Mitverschulden eines Kindes oder eines Jugendlichen geringer zu bewerten als dasjenige eines Erwachsenen; eine völlige Freistellung von der Gefährdungshaftung wegen eines grob verkehrswidrigen Verhaltens setzt bei Kindern und Jugendlichen deshalb voraus, dass der Sorgfaltsverstoß altersmäßig auch subjektiv besonders vorwerfbar ist (vgl. BGH, Urteil vom 18.11.2003, Az: 6 ZR 31/02, Rz. 11).

Ein derart grobes Eigenverschulden der Klägerin kann hier nicht festgestellt werden. Die zum Unfallzeitpunkt erst 12-jährige Klägerin war von dem Fahrer des Kleinbusses, dem Zeugen R., auf den unbefestigten Straßenrand der … Straße abgesetzt worden. Nachdem der Zeuge R. wegen des Verkehrs auf der Straße nicht stehen bleiben konnte und er auch das Warnblicklicht nicht eingeschaltet hatte, wurde die Klägerin von dem Zeugen aufgefordert, die Schiebetür nach ihrem Aussteigen wieder zuzumachen. Um aber einerseits auf dem unbefestigten, nicht sicheren Grünstreifen der Straße nicht stehen bleiben zu müssen, anderseits aber den hinter dem Kleintransporter mit seinem Pkw stehenden Zeugen E. nicht warten zu lassen (Zeuge E.: „Sie ist regelrecht losgerannt, weil sie merkte, dass ich ran war“), lief die Klägerin über die Straße. In dieser Situation bedachte die Klägerin nicht, dass auch aus der entgegengesetzten Fahrtrichtung ein Fahrzeug kommen könnte, so dass es deshalb zu dem Unfall gekommen ist. Bei dieser Sachlage ist das Verschulden der noch sehr jungen Klägerin, die ihrem Sicherheitsbedürfnis entsprechen und außerdem einen erwachsenen Fahrzeugführer nicht länger als notwendig warten lassen wollte, nicht als grob zu qualifizieren. Die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs tritt daher nicht hinter dem Verschulden der Klägerin zurück.

Zu Recht hat das Amtsgericht den aus der Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs resultierenden Mitverursachungsbeitrag mit einer Haftungsquote von 30 % angenommen, während es den Mitverursachungsbeitrag der Klägerin mit 70 % bemessen hat. Denn die von einem Kraftfahrzeug ausgehende Betriebsgefahr ist deutlich höher, wenn sie sich gegenüber einem Fußgänger (und nicht gegenüber einem anderen Fahrzeug, das seinen Insassen Schutz bietet) ausgewirkt hat.

Die Höhe des der Klägerin vom Amtsgericht zuerkannten Schmerzensgeldes ist nicht zu beanstanden. Auch unter Berücksichtigung der Haftungsquote der Beklagten (30 %) ist angesichts der Verletzungen der Klägerin (doppelter Oberarmbruch), der heute noch sichtbaren Narben und des Umstands, dass die Klägerin infolge des Verkehrsunfalls ihren Sport (Biathlon) nicht mehr ausüben kann, ein Schmerzensgeld in Höhe von 2.000,00 EUR gerechtfertigt.

Die von den Beklagten angegriffene Kostenentscheidung des Amtsgerichts lässt ebenfalls keinen Rechtsfehler erkennen (§ 92 Abs. 1 ZPO). Ausgehend von einem fiktiven Kostenstreitwert von 5.489,45 EUR (Schmerzensgeld in Höhe von 4.000,00 EUR, Feststellungsantrag geschätzt in Höhe von 1.000,00 EUR, Freistellung von vorgerichtlich entstandenen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 489,54 EUR) hat das Amtsgericht der Klägerin zu Recht ein Schmerzensgeld in Höhe von 2.000,00 EUR zuerkannt, das Feststellungsbegehren im Umfang von 300,00 EUR (30 %) für erwiesen erachtet und die Beklagten zur Zahlung außergerichtlicher Rechtsanwaltskosten in Höhe von 272,87 EUR verurteilt. Dies entspricht der erstinstanzlich ausgeurteilten Kostenquote der Klägerin, die daher richterweise mit 53 % (Klägerin) bzw. mit 47 % (Beklagte) angenommen worden ist.

Die Kostenentscheidung für das Berufungsverfahren folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.

Die prozessuale Nebenentscheidung hinsichtlich der vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.

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