Oberlandesgericht Schleswig-Holstein – Az.: 7 U 149/20 – Urteil vom 23.02.2021
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 7.000,00 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 06.04.2019 zu zahlen.
2. Die Beklagte wird ferner verurteilt, die Klägerin von außergerichtlichen Rechtsverfolgungskosten in Höhe von 650,34 € freizustellen.
3. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreites in beiden Rechtszügen.
4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
5. Die Revision wird zugelassen
Gründe
I.
Die Klägerin beansprucht von der Beklagten die Zahlung eines Hinterbliebenengeldes in Höhe von mindestens 10.000,00 €.
Am Donnerstag, den 13.12.2018 gegen 16:45 Uhr kam es auf der B 77 zwischen K. und R. zu einem schweren Verkehrsunfall, in dessen Folge der Vater der Klägerin, Herr D. (geb. am … 1937), tödlich verunglückte. Der Fahrer des bei der Beklagten versicherten Fahrzeugs (SUV Ford Kuga, amtl. Kennzeichen: …), der Rentner Q., hatte bei der Ausfahrt vom Parkplatz H. den in Fahrtrichtung R. fahrenden, vorfahrtsberechtigten Pkw des Vaters der Klägerin übersehen. Es kam zum Zusammenstoß beider Fahrzeuge, an denen jeweils wirtschaftlicher Totalschaden entstand. Der Vater der Klägerin verstarb noch am Unfallort.
Erst eine Woche später, am Abend des 20.12.2018, wurde die Klägerin per WhatsApp von ihrer Schwester S. (geb. … 1966), über den Tod des Vaters informiert. Die Polizei hatte zunächst keine Informationen über etwaige Angehörige und konnte erst spät über das Standesamt K. die Adresse der Schwester der Klägerin ermitteln. Der Verstorbene war Witwer und hatte zwei Kinder, die Klägerin und ihre ältere Schwester S.. Die Klägerin, die seit dem … 2019 mit ihrem vormaligen Lebenspartner, T. A., verheiratet ist, hat einen heute 21-jährigen Sohn aus erster Ehe.
Zum Unfallzeitpunkt befand sich die Klägerin noch in der Probezeit. Sie hatte zum 01.09.2018 eine neue Stelle als „Leiterin Einkauf“ bei … in B. angenommen. Zu ihrem Vater bestand ein gutes Verhältnis. Die Klägerin verfügte über sämtliche Vollmachten ihres Vaters (Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht und Generalvollmacht), außerdem war sie erste Ansprechpartnerin, wenn es für ihren Vater „etwas zu regeln“ gab. Nach dem Unfalltod kümmerte sich die Klägerin zusammen mit ihrer Schwester um die Haushaltsauflösung und die Beerdigung ihres Vaters (wunschgemäß eine anonyme Seebestattung). Bis zum heutigen Tag leidet die Klägerin unter Schlafproblemen. In ärztliche Behandlung hat sie sich nicht begeben. Sie versucht, das Problem mit „Baldrian“ in den Griff zu bekommen. Von dem Hinterbliebenengeld soll einen Teil ihr Sohn bekommen, im Übrigen möchte sie – sobald die derzeitigen Coronabeschränkungen es wieder zulassen – mit ihrer Familie einen Urlaub an der Nordsee machen.
Mit rechtskräftigem Strafbefehl des Amtsgerichts S. (Az.: …) wurde der Unfallverursacher Q. wegen fahrlässiger Tötung (§ 222 Abs. 1 StGB) auf Bewährung unter Strafvorbehalt zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen verurteilt. Die Bewährungszeit wurde auf 1 Jahr festgesetzt und dem Verurteilten auferlegt, einen Geldbetrag von 1.000,00 € an den Bund gegen Alkohol und Drogen im Straßenverkehr e.V. zu zahlen. Nach Ablauf der Bewährungszeit wurde mit Beschluss vom 21.10.2020 festgestellt, dass es mit der Verwarnung sein Bewenden hat, die verhängte Geldstrafe musste mithin nicht gezahlt werden.
Mit anwaltlichem Schreiben vom 27.03.2019 (Anlage K 3) forderte die Klägerin u.a. die Zahlung eines Hinterbliebenengeldes in Höhe von 10.000,00 € unter Fristsetzung bis zum 05.04.2019. Mit Schreiben vom 01.07.2019 erklärte sich die Beklagte bereit, für die Klägerin und ihre Schwester jeweils ein Hinterbliebenengeld von 3.000,00 € (insgesamt 6.000,00 €) zu zahlen. Dieser Betrag wurde in der Folgezeit unstreitig gezahlt.
Die Klägerin hat behauptet, zwischen ihr und ihrem Vater habe ein inniges Vater-Tochter-Verhältnis bestanden. Sie sei seine Notfallkontaktperson gewesen und trotz der Entfernung zwischen den jeweiligen Wohnorten (H. und K.) von 135 km sei es mehrmals im Jahr zu Besuchen gekommen. Nachdem sie vom Tod ihres Vaters erfahren habe, habe sie die ganze Nacht durch geweint. Sie sei noch am nächsten Tag (Freitag, den 21.12.2018) zur Arbeit gegangen, weil sie sich wegen der Probezeit und ihrer Führungsposition in der Pflicht sah. Allerdings habe sie bereits gegen 09:00 Uhr ihren Arbeitsplatz wieder verlassen müssen. In der Folgezeit habe sie nur noch funktioniert. Professionelle Hilfe (z.B. ärztliche oder psychotherapeutische Behandlung) habe sie u.a. auch wegen des Arbeitsdrucks nicht in Anspruch genommen und stattdessen versucht, ihre Trauer mit Hilfe von Familie und Freunden zu verarbeiten. Durch das Ausräumen der Wohnung ihres Vaters, die Regelung des Nachlasses und die Organisation der Beerdigung sei die Trauer nochmal verstärkt worden. Nach dem Tod ihres Vaters habe es schließlich auch noch Probleme am neuen Arbeitsplatz (bei … in B.) gegeben, sodass sie zum 01.01.2020 erneut den Arbeitsplatz (nunmehr bei … in E.) gewechselt habe. Auch dieser Umstand habe sie sehr belastet. Ihr verstorbener Vater war von Beruf selbstständigen Gartenbautechniker, bis zum Tod der Mutter (04.02.2011) sei er Segler mit eigenem Boot gewesen. Dieses Hobby habe sie zwar nicht mit ihrem Vater geteilt, allerdings habe ihr Vater auch einen Hund gehabt, den sie bei seiner Abwesenheit versorgt habe. Sie trauere bis heute um ihren Vater. Es belaste sie insbesondere nicht zu wissen, ob er noch habe leiden müssen.
Die Klägerin hat beantragt, die Beklagte zu verurteilen,
1. an sie ein Hinterbliebenengeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, einen Betrag in Höhe von 7.000,00 € aber nicht unterschreiten sollte, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 06.04.2019 zu zahlen,
2. sie von außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 650,34 € freizustellen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie hält ein Hinterbliebenengeld in Höhe der bereits gezahlten 3.000,00 € für angemessen und ausreichend. Die Höhe des Hinterbliebenengeldes müsse grundsätzlich geringer ausfallen als Fälle eines pathologisch nachweisbaren Schockschadens. Die Klägerin habe nicht hinreichend dargelegt, wie intensiv bzw. in welchem Umfang sie seelisches Leid durch den Tod ihres Vaters erfahren habe.
Das Landgericht hat mit dem angefochtenen Urteil der Klage in Höhe von weiteren 3.500,00 € stattgegeben. Dieser Betrag sei – so das Landgericht – ausreichend, da es sich um eine „normale“ Vater-Tochter-Beziehung gehandelt habe. Besondere Umstände des Versterbens lägen nicht vor. Bei der Höhe sei berücksichtigt, dass die Klägerin erste Ansprechpartnerin für ihren verstorbenen Vater gewesen sei und ihre emotionale Betroffenheit noch bis heute andauere.
Auf den Inhalt des angefochtenen Urteils wird vollumfänglich Bezug genommen.
Dagegen richtet sich die Berufung der Klägerin. Sie meint, ihr stünde ein Hinterbliebenengeld von mindestens insgesamt 10.000,– € zu. Wegen ihrer Probezeit habe sie unmittelbar nach dem Tod ihres Vaters wieder arbeiten müssen, um keine Kündigung zu riskieren. Ihre Trauer habe sich sogar dahingehend ausgewirkt, dass sie nicht mehr für ihren Sohn und Ehemann hinreichend ansprechbar gewesen sei. Familiären Körperkontakt habe sie nicht mehr ertragen können. Sie leide bis heute unter Schlafstörungen (Wachphasen ca. 1 – 3 Stunden pro Nacht). Gedanken über die letzten Sekunden ihres Vaters quälten sie noch immer. Jedes Mal, wenn von Verkehrsunfällen berichtet werde, werde sie an den Tod ihres Vaters erinnert. Die Führung eines Kraftfahrzeugs oder das Mitfahren darin sei für sie seither immer mit Angst verbunden. Diese Verlustangst erstrecke sich auch auf ihren Sohn und Ehemann. Bedingt durch den Tod habe sich bei ihr ein Aberglaube manifestiert. Dieser resultiere aus dem Umstand, dass sie bereits bei dem Tod der Mutter (04.02.2011) kurz zuvor ihren Job gewechselt habe. Das sei jetzt auch bei dem Unfalltod ihres Vaters der Fall gewesen, sodass sie nunmehr das Gefühl habe, bei einem erneuten Jobwechsel werde wieder ein Familienmitglied sterben.
Die Klägerin beantragt, das angefochtene Urteil zu ändern und
1. die Beklagte zu verurteilen, an sie ein Hinterbliebenengeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, einen Betrag in Höhe von insgesamt 7.000,00 € aber nicht unterschreiten sollte, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 06.04.2019 zu zahlen;
2. die Beklagte zu verurteilen, die Klägerin von außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 650,34 € freizustellen sowie
Vorsorglich die Revision zuzulassen.
Die Beklagte beantragt, die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
Sie verteidigt das angefochtene Urteil und hält bereits das gezahlte Hinterbliebenengeld von 3.000,00 € für ausreichend und angemessen. Die Schlafprobleme der Klägerin könnten auch andere Ursachen gehabt haben, wie z.B. Probleme am Arbeitsplatz.
Der Senat hat die Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft F., Az.: …, zu Informationszwecken beigezogen und die Klägerin im Termin am 26.01.2021 ergänzend persönlich angehört.
II.
Die Berufung der Klägerin hat Erfolg.
Unstreitig schuldet die beklagte Haftpflichtversicherung gem. §§ 10 Abs. 3 StVG i.V.m. § 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG der Klägerin dem Grunde nach ein Hinterbliebenengeld. Die Höhe des Hinterbliebenengeldes bemisst der Senat auf insgesamt 10.000,00 €, sodass abzüglich der bereits vorgerichtlich gezahlten 3.000,00 € noch ein weiterer Betrag in Höhe von 7.000,00 € zu zahlen ist.
Gemäß § 10 Abs. 3 StVG (entsprechend § 844 Abs. 3 BGB) schuldet der Ersatzpflichtige dem Hinterbliebenen, der mit dem Getöteten in einem besonderen persönlichen Näheverhältnis stand, für das zugefügte seelische Leid eine angemessene Entschädigung in Geld. Diese Regelung gilt für alle Schäden die nach dem 22.07.2017 eingetreten sind. Gemäß der Gesetzesnovellierung (Art. 8 S. 6 Drucksache 18/11397) wurde für die Gefährdungshaftung nach dem StVG der mit dem § 844 Abs. 3 BGB identische und speziellere § 10 Abs. 3 StVG in das Straßenverkehrsgesetz eingefügt. Beide Anspruchsgrundlagen unterscheiden sich tatbestandlich lediglich darin, dass – wie hier – § 10 Abs. 3 StVG die grundlegende Haftung nach §§ 7 Abs. 1, 18 StVG voraussetzt, wohingegen § 844 Abs. 3 BGB alle übrigen Fälle einer deliktischen Haftung nach § 823 ff. BGB umfasst.
1. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 10 Abs. 3 StVG liegen vor. Unstreitig bestand zwischen der Klägerin und ihrem tödlich verunglückten Vater ein „besonderes Näheverhältnis“. Dies wird nach § 10 Abs. 3 S. 2 StVG vermutet, wenn der Hinterbliebene ein Kind des Getöteten war.
Unstreitig hat die Klägerin durch den Unfalltod ihres Vaters auch „seelisches Leid“ erlitten. Zwar gibt es noch keine genaue Definition für „seelisches Leid“. Leid bezeichnet als Sammelbegriff zunächst einmal all das, was einen Menschen körperlich und seelisch belastet. Insbesondere der Verlust von nahestehenden Menschen wird als Leid empfunden. Körper und Seele sind in diesem Zusammenhang als Einheit zu verstehen. Es ist allgemein anerkannt, dass sowohl seelische als auch körperliche Erkrankungen bei einem Menschen subjektives Leid auslösen können, das seelisch und/oder körperlich spürbar ist. Insoweit sind auch Wechselwirkungen denkbar. Eine anhaltende seelische Störung kann z.B. zu einer erhöhten Anfälligkeit für körperliche und psychische Erkrankungen führen und umgekehrt. Ursache und Wirkung sind hier häufig nicht immer klar auseinander zu halten. Im Unterschied zu körperlichem Leid, das in der Regel diagnostisch fassbar und medizinisch therapierbar ist, kann seelisches Leid auch oftmals ein ganzes Leben lang andauern.
Aus der Gesetzesbegründung (BT Drucksache 2017, 18/11397) ergibt sich, dass mit dem Hinterbliebenengeld der Trauerschaden abgegolten werden sollte, sofern kein Nachweis für eine physische oder psychische Erkrankung geführt kann bzw. die Schwelle zum pathologischen Befund nicht überschritten wurde. „Seelisches Leid“ soll dann vorliegen, wenn zwar die Trauer in ihrer Intensität hinter einer pathologisch ermittelbaren Gesundheitsbeeinträchtigung als ersatzfähiger Schockschaden zurückbleibt, gleichwohl aber die durch den Tod des nahen Angehörigen erlittenen seelischen Beeinträchtigungen eine gewisse Intensität und Nachhaltigkeit erfahren haben.
Diese Voraussetzungen liegen bei der Klägerin dem Grunde nach unstreitig vor. Sie hat glaubhaft vorgetragen, noch bis heute unter dem plötzlichen Unfalltod ihres Vaters zu leiden. Dazu gehören u.a. Tränen und Schlafstörungen. Die Beklagte hat dies dem Grunde nach auch anerkannt und deshalb vorgerichtlich bereits 3000,– € Hinterbliebenengeld gezahlt.
2. Bemessung des Hinterbliebenengeldes
a) Für das zugefügte seelische Leid ist eine „angemessene Entschädigung in Geld“ zu leisten. Konkrete Vorgaben enthalten weder das Gesetz (§§ 10 Abs. 3 StVG, 844 Abs. 3 BGB) noch die Gesetzesbegründung. Maßstab dürfte die konkrete Beeinträchtigung (seelisches Leid) sein. Entsprechende, allgemeingültige Bemessungskriterien dürften jedoch nur sehr schwer zu finden sein, zumal schon die Beurteilung und Bewertung bei körperlichen und psychischen Schäden im Zusammenhang mit der Schmerzensgeldmessung (§§ 11 S. 2 StVG, 253 Abs. 2 BGB) mit vielen Schwierigkeiten verbunden ist. Es ist unverkennbar, dass durch den Verlust naher Angehöriger seelische Beeinträchtigungen von besonderer Komplexität verursacht werden können. Die Dauer von seelischem Leid ist nicht prognostizierbar. Deshalb wäre es falsch, lediglich schematische Bemessungen z.B. nach der Art des Verwandtschaftsverhältnisses oder ähnlichen objektiven Kriterien zu entwickeln, ohne den konkreten Einzelfall zu berücksichtigen.
Wie beim Schmerzensgeld handelt es sich im Übrigen auch beim Hinterbliebenengeld um einen Anspruch wegen einer immateriellen Einbuße. In beiden Fällen sind sowohl die Ausgleichs- als auch die Genugtuungsfunktion (BGH, Beschluss vom 6.7.1955, GSZ1/55; BGH, Beschluss vom 16.9.2016, VGS 1/16) zu berücksichtigen (vgl. LG Tübingen, Urteil vom 17.05.2019, 3 O 108/18, NZV 2019, 626, 600 – 632). Zwar mag die Genugtuungsfunktion bei einer bloßen Gefährdungshaftung oder leichten Fahrlässigkeit in den Hintergrund treten. Dies bedeutet jedoch nicht, dass diese Funktion auch in allen übrigen Fällen bei der Bemessung des Hinterbliebenengeldes unberücksichtigt bleiben muss.
Der Senat geht ferner davon aus, dass der Betrag von 10.000,00 € – entsprechend der Gesetzesbegründung – nach dem Sinn und Zweck der neu eingefügten Regelungen (§§ 844 Abs. 3 BGB, 10 Abs. 3 StVG) keine „Obergrenze“, sondern einen „Anker“ bzw. eine „Orientierungshilfe“ für die Bemessung darstellt (so auch LG Tübingen, a.a.O.; OLG Koblenz, Beschluss vom 31.08.2020, 12 U 870/20, NJW 2021, 168 – 170, juris Rn. 12; LG Wiesbaden, Beschluss vom 23.10.2018, 3 O 219/18; LG München II, Urteil vom 17.05.2019, 12 O 4540/18, juris Rn. 34). Zwar findet sich die ausdrückliche Erwähnung des Betrages von 10.000,00 € lediglich in der Kostenschätzung des Regierungsentwurfes zum Gesetz zur Einführung eines Anspruches auf Hinterbliebenengeld (BT Drucksache 18/11397, S. 11), gleichwohl ist darin auch ein gewisser Anhaltspunkt für die Vorstellungen des Gesetzgebers zur Höhe des Hinterbliebenengeldes zu sehen. Zweck des Gesetzes sollte nämlich ein gewisser Ausgleich für das vom Hinterbliebenen erlittene seelische Leid sein. Es handelt sich dabei um eine – naturgemäß nie das Leid aufwiegende – Leistung zur Anerkennung von seelischem Leid beim Verlust besonders nahestehender Personen (vgl. BT Drucksache 18/11397, S. 10). Nach dem Willen des Gesetzgebers soll der Hinterbliebene mit der Entschädigung in die Lage versetzt werden, seine durch den Verlust verursachte Trauer und sein seelisches Leid zu lindern (vgl. BT Drucksache 18/11397, S. 8). Der Senat verkennt zwar nicht den in der Gesetzesbegründung bestehenden, gewissen Widerspruch zwischen „Orientierungshilfe“ für das Hinterbliebenengeld einerseits und der Erwähnung des Betrages von 10.000,00 € im Zusammenhang mit den Erfahrungen aus der Schockschadensrechtsprechung, wodurch man das Hinterbliebenengeld auch als Minus gegenüber dem Anspruch auf Ersatz eines Schockschadens interpretieren könnte. Diese Auslegung wird allerdings der Differenzierung zwischen körperlichem/psychischem Leid einerseits und seelischem Leid andererseits nicht gerecht. Die Einführung des Anspruches auf Hinterbliebenengeld hängt außerdem mit der Umsetzung der EGMR-Rechtsprechung für den Ausgleich des Todes naher Angehöriger bei staatlicher Mitverantwortung zusammen. Zudem muss sich die Bemessung des Hinterbliebenengeldes – worauf der Senat bereits mit der Ladungsverfügung vom 19.10.2020 hingewiesen hat – in das stimmige Gesamtgefüge der deutschen und europäischen Rechtsprechung zum Schmerzens-/Hinterbliebenengeld einfügen. Das europäische Entschädigungsniveau liegt in vergleichbaren Fällen deutlich höher (vgl. Huber, Hinterbliebenengeld – Wer kann wie viel verlangen?, VersR 2020, 385 – 393, S. 390 m.w.N.). Im Nachbarland Österreich werden z.B. nach der Rechtsprechung des OGH zwischen 10.000,00 € und 25.000,00 € Hinterbliebenengeld gezahlt. In der Schweiz bewegen sich die Entschädigungssummen vielfach im Bereich zwischen 20.000 und 40.000 sFr. In England ist der Betrag gesetzlich auf 12.980 Pfund für alle Angehörigen gesetzlich festgeschrieben (vgl. Gerhard Wagner, Schadenersatz in Todesfällen – Das neue Hinterbliebenengeld, NJW 2017, 2641- 2646).
Der Senat geht deshalb davon aus, dass einerseits Schockschäden für psychisches Leid und andererseits Hinterbliebenengeld für seelisches Leid nicht in einem Stufenverhältnis zueinander stehen, sondern dass es sich primär um zwei unterschiedliche Ansprüche handelt. Zum einen geht es um die Abgeltung von psychischen Schmerzen und zum anderen beim Hinterbliebenengeld um die Abgeltung von Trauer und Betroffenheit der Seele. Häufig hängt es von den Umständen oder vom Zufall ab, ob pathologische, psychische Schmerzen zeitnah ärztlich diagnostiziert und dokumentiert werden. Andauernde seelische Schmerzen können ferner zumindest gleichwertige oder sogar – je nach Dauer und Intensität – höhere Betroffenheiten auslösen.
Nach alledem geht der Senat davon aus, dass der Betrag von 10.000,00 € nicht Obergrenze, sondern Ausgangspunkt, Richtschnur und Anker für die Bemessung des Hinterbliebenengeldes ist. Bei der konkreten Bemessung der Anspruchshöhe ist § 287 ZPO anwendbar
b) Unter Berücksichtigung der vorstehenden, generellen Erwägungen ist das Hinterbliebenengeld der Klägerin hier auf insgesamt 10.000,00 € zu bemessen.
Es handelt sich um eine Vater-Tochter-Beziehung mit – trotz der räumlichen Entfernung – regelmäßigen persönlichen und telefonischen Kontakten. Nach der intensiven persönlichen und glaubhaften Anhörung der Klägerin im Termin am 26.01.2021 ist der Senat davon überzeugt, dass die Klägerin durch den plötzlichen Unfalltod ihres Vaters „seelisches Leid“ erlitten hat, das – jedenfalls teilweise- bis heute noch andauert. Die Klägerin leidet seit dem Unfalltod ihres Vaters, mithin seit mehr als 2 Jahren, unter Schlafstörungen, die zumindest auch auf den plötzlichen Verlust zurückzuführen sind. Sie hat – glaubhaft – viele Tränen um ihren Vater vergossen. Von dem Unfalltod hatte sie erst eine Woche später kurz vor Weihnachten 2018 Kenntnis erlangt. Eigentlich wollte sie Weihnachten 2018 zusammen mit ihrem Vater verbringen. Wegen der Probezeit war ihr aus beruflichen Gründen eine Auszeit bzw. eine zeitnahe Verarbeitung des Geschehens nicht möglich. Zwischen der Klägerin und ihrem Vater bestand zwar keine Haushaltsgemeinschaft, gleichwohl bestand eine enge emotionale Verbundenheit. Neben ihrer Schwester handelte es sich bei ihr um die einzige Angehörige des Unfallopfers. Zwar war der Getötete zum Unfallzeitpunkt bereits 81 Jahre alt. Gleichwohl lebte er selbstständig in einem eigenen Haushalt und war noch gut mobil.
Bei der Bemessung hat der Senat auch die Genugtuungsfunktion berücksichtigt. Der Unfallverursacher ist zwar wegen fahrlässiger Tötung gem. § 222 Abs. 1 StGB rechtskräftig verurteilt worden, gleichwohl hatte es nach Ablauf der einjährigen Bewährungszeit mit der Zahlung von 1.000,00 € an eine gemeinnützige Einrichtung sein Bewenden. Es handelte sich um einen groben Verstoß gegen die Sorgfaltsanforderungen des § 10 StVO. Ein etwaiges Mitverschulden des Getöteten bei dem Unfall konnte nicht festgestellt werden.
Die Entschädigung soll den Hinterbliebenen in die Lage versetzen, seine durch den Verlust verursachte Trauer und sein seelisches Leid zu lindern. Dazu hält der Senat den Betrag von 10.000,00 € für angemessen, aber auch ausreichend. Der Betrag entspricht daher im Ergebnis dem gesetzgeberischen Anker. Es bleibt zu hoffen, dass die Klägerin mit der Zahlung und dem Abschluss des Verfahrens ihren seelischen Frieden findet.
Soweit die Beklagte auf die Entscheidung des OLG Koblenz (Beschluss vom 31.8.2020, 12 U 870/20, NJW 2021, 168 ff.) mit einem Hinterbliebenengeld von maximal 5000,– € verweist, ist der Fall nicht vergleichbar. Dort wurde ein 20-Jähriger, der mit seinem Fahrrad ohne Licht auf einer noch dunklen Landstraße unterwegs war, von einem Auto erfasst und verstarb noch am Unfallort. Die Gerichte gingen von einem hälftigen Mitverschulden aus. Zum Unfallzeitpunkt lebte der junge Mann bei seiner Mutter. Es ging in dem Fall jedoch um Ansprüche des getrenntlebenden Vaters.
3.
Die Zinsforderung folgt aus §§ 286 Abs. 2, 288 Abs. 1 BGB.
Die Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten beruht auf §§ 10 Abs. 3 StVG, 249 ff. BGB. Die vorgerichtliche Einschaltung eines Rechtsanwalts war für die Verfolgung des Schadenersatzanspruchs notwendig und erforderlich. Es ist schwierig, die Intensität von Trauer und Leid sowie die innere Bindung an den Verstorbenen von laienhaften Anspruchstellern in Worte zu fassen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass es bislang für die Bemessung des Hinterbliebenengeldes nur wenig Rechtsprechung gibt und ein rechtsunkundiger Anspruchsteller mit der Durchsetzung seiner Ansprüche gegen die gegnerische Haftpflichtversicherung überfordert wäre.
Die Höhe der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten errechnet sich wie folgt:
- VV RVG 2300 (1,3 Gebühr) 526,50 €
- Auslagenpauschale: 20,00 €
- Zwischensumme 546,50 €
- + 19 % Mehrwertsteuer 103,84 €
- Summe = 650,34 €
Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 91, 97, 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.
Die Ausführungen der Beklagten aus dem nicht nachgelassenen Schriftsatz vom 27.01.2021 geben dem Senat keine Veranlassung, die Wiedereröffnung der Verhandlung nach § 156 ZPO anzuordnen.
Die Revision ist gem. § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen. Im Hinblick auf das neue Gesetz ist insbesondere höchstrichterlich zu klären, ob die im Gesetzesentwurf genannte Durchschnittshöhe von 10.000 € als Orientierungshilfe oder als Obergrenze für die Bemessung des Hinterbliebenengeldes anzusehen ist und ggf. welche weiteren Kriterien für die Bemessung im Einzelfall von Bedeutung sind. Im Hinblick auf die Vielzahl bundesweiter gerichtlicher und außergerichtlicher Fälle und die damit verbundene wirtschaftliche Bedeutung für die Versicherungswirtschaft hält der Senat eine entsprechende Leitentscheidung des BGH für erforderlich.