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Verkehrsunfall rechts überholendes Motorrad mit Linksabbieger aus Gegenrichtung

Eine Autofahrerin biegt links ab und übersieht dabei einen entgegenkommenden Motorradfahrer – es kommt zur folgenschweren Kollision. Doch trägt der Biker, der zuvor rechts an einem verbotswidrig abbiegenden Fahrzeug vorbeigefahren war, eine Mitschuld? Das Oberlandesgericht Dresden hat nun ein bemerkenswertes Urteil gefällt.

➔ Zum vorliegenden Urteil Az.: 8 U 901/22 | Schlüsselerkenntnis | FAQ  | Hilfe anfordern


✔ Der Fall: Kurz und knapp

  • Das Urteil betrifft einen Verkehrsunfall zwischen einem Motorrad, das rechts überholte, und einem Linksabbieger aus der Gegenrichtung.
  • Das Gericht musste klären, wer für den Unfall verantwortlich ist und welche Sorgfaltspflichten verletzt wurden.
  • Eine Schwierigkeit liegt in der Bewertung der gegenseitigen Sorgfaltspflichten von Motorradfahrern beim Rechtsüberholen und Linksabbiegern.
  • Das Gericht entschied, dass die Berufung der Beklagten zurückgewiesen wird und sie die Kosten des Verfahrens tragen müssen.
  • Die Entscheidung basiert darauf, dass die Beklagten ihre Sorgfaltspflichten verletzt haben und der Kläger durch den Unfall Schadenersatz- und Schmerzensgeldansprüche hat.
  • Die Auswirkungen des Urteils zeigen, dass sowohl Motorradfahrer als auch Linksabbieger ihre jeweilige Verantwortung im Straßenverkehr sehr ernst nehmen müssen.
  • Das Urteil verdeutlicht, dass das Rechtsüberholen durch Motorradfahrer nur unter Berücksichtigung höchster Vorsicht zulässig ist und Linksabbieger den Gegenverkehr genau beobachten müssen.
  • Weiterhin betont das Urteil die Bedeutung der gegenseitigen Sorgfalt im Straßenverkehr zur Vermeidung von Unfällen.
  • Die Revision gegen das Urteil wurde nicht zugelassen, was die Rechtskraft der Entscheidung unterstreicht und signalisiert, dass ähnliche Fälle ähnlich entschieden werden könnten.

Schwer verletzter Motorradfahrer: OLG spricht Linksabbieger alleinige Haftung zu

Verkehrsunfälle zwischen Kraftfahrzeugen sind leider nach wie vor ein häufiges Phänomen auf unseren Straßen. Eines der komplexeren Szenarien ist der Zusammenstoß zwischen einem Motorrad, das einen anderen Verkehrsteilnehmer rechts überholt, und einem Linksabbieger aus der Gegenrichtung. In solchen Fällen spielen rechtliche Fragen eine entscheidende Rolle bei der Klärung der Verantwortlichkeiten und Haftungsfragen. Grundsätzlich haben Motorradfahrer zwar das Recht zum Rechtsüberholen, müssen dabei aber stets die Sicherheit aller anderen im Blick haben. Gleichzeitig tragen auch Linksabbieger eine Mitverantwortung, da sie beim Abbiegen die Situation im Gegenverkehr sorgfältig prüfen müssen. Wie diese gegenseitigen Sorgfaltspflichten in der Praxis ausgelegt und gewichtet werden, zeigt ein konkreter Gerichtsfall, den wir im Folgenden näher betrachten werden.

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✔ Der Fall vor dem Oberlandesgericht Dresden


Schwerer Verkehrsunfall bei Linksabbiegervorgang – OLG Dresden spricht Motorradfahrer alleinige Haftung zu

Das Oberlandesgericht Dresden hat in einem Berufungsurteil entschieden, dass die Autofahrerin, die beim Linksabbiegen den Vorrang eines entgegenkommenden Motorradfahrers missachtet hat, alleine für die Unfallfolgen haften muss. Dem Motorradfahrer, der rechts an einem verbotswidrig links abbiegenden Kastenwagen vorbeigefahren war, wurde kein Mitverschulden angelastet.

Nach Ansicht des Gerichts traf die linksabbiegende Autofahrerin die volle Schuld an der Kollision, da sie gegen ihre Wartepflicht nach § 9 Abs. 3 Satz 1 StVO verstoßen hatte. Aufgrund eines entgegenkommenden Fahrzeugs, das verbotswidrig nach links abbiegen wollte und die Sicht auf den nachfolgenden Verkehr verdeckte, wäre die Autofahrerin gehalten gewesen, mit dem Einfahren in den Kreuzungsbereich abzuwarten bis sie wieder freie Sicht auf den Gegenverkehr hatte.

Das unvorsichtige Hineintasten in die Gegenfahrbahn trotz massiver Sichtbehinderung durch den stehenden Kastenwagen stellte nach Überzeugung des OLG eine schwerwiegende Verletzung der Sorgfaltspflichten eines Linksabbiegers dar. An diesem gravierenden Verschulden änderte auch die geringe Geschwindigkeit des abbiegenden Pkw im Kollisionszeitpunkt nichts.

Kein Verstoß des Motorradfahrers gegen Überholverbote

Einen unfallursächlichen Verkehrsverstoß des Motorradfahrers konnte das Gericht nicht feststellen. Insbesondere habe dieser nicht gegen Überholverbote verstoßen, als er rechts an dem verbotswidrig links abbiegenden Kastenwagen vorbeifuhr.

Da der Kastenwagen eindeutig nach links eingeordnet war und dies durch Betätigung des Blinkers signalisiert hatte, war ein Rechtsüberholen nach § 5 Abs. 7 Satz 1 StVO ausdrücklich erlaubt. Dass der Fahrer des Kastenwagens seinerseits gegen ein Abbiegeverbot verstieß, führt nicht dazu, dass der nachfolgende Verkehr generell nicht mehr rechts vorbeifahren darf.

Auch aus § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO ergab sich kein Überholverbot für den Motorradfahrer, da aus seiner Sicht keine unklare Verkehrslage vorlag. Er durfte grundsätzlich darauf vertrauen, dass der entgegenkommende Querverkehr die Vorfahrt beachten wird. Konkrete Anzeichen dafür, dass die Autofahrerin die Vorfahrt missachten und in seine Fahrspur einbiegen könnte, gab es nicht.

Motorradfahrer musste Geschwindigkeit nicht reduzieren

Schließlich war der Motorradfahrer auch nicht verpflichtet, seine zulässige Geschwindigkeit von knapp 50 km/h zu verringern. Aufgrund des vorschriftsmäßigen Einordnens des Kastenwagens nach links bei gleichzeitigem Blinken bestand für den Kradfahrer keine unklare Verkehrssituation, die eine Geschwindigkeitsanpassung erfordert hätte. Zwar wäre die Kollision vermeidbar gewesen, wenn der Motorradfahrer langsamer gefahren wäre. Einen Anlass für eine erhebliche Reduzierung der Geschwindigkeit sah das OLG aber nicht.

Da der Motorradfahrer somit keinen relevanten Verkehrsverstoß beging, der unfallursächlich oder mitursächlich war, sah das Berufungsgericht keinen Anlass für ein Mitverschulden. Der gravierende Verstoß der Autofahrerin gegen die Vorfahrt des Gegenverkehrs überwiegt so sehr, dass sogar deren Betriebsgefahr als Linksabbiegerin zurücktritt und eine Alleinhaftung gerechtfertigt ist.

✔ Die Schlüsselerkenntnisse in diesem Fall


Das Urteil verdeutlicht, dass Linksabbieger eine besonders hohe Sorgfaltspflicht trifft und sie bei unklarer Verkehrslage das Einfahren in den Kreuzungsbereich unterlassen müssen, bis freie Sicht auf den Gegenverkehr besteht. Selbst wenn andere Verkehrsteilnehmer Verbote missachten, entbindet dies den Linksabbieger nicht von seiner Wartepflicht. Ein regelkonformes Rechtsüberholen ist trotz verbotswidrigen Verhaltens des Überholten erlaubt, sofern keine konkreten Anzeichen für eine drohende Vorfahrtsverletzung erkennbar sind.


✔ FAQ – Häufige Fragen

Das Thema: Verkehrsunfall Motorrad und Linksabbieger wirft bei vielen Lesern Fragen auf. Unsere FAQ-Sektion bietet Ihnen wertvolle Insights und Hintergrundinformationen, um Ihr Verständnis für dieses Thema zu vertiefen. Weiterhin finden Sie in der Folge einige der Rechtsgrundlagen, die für dieses Urteil wichtig waren.


Welche Wartepflichten hat ein Linksabbieger gemäß der Straßenverkehrsordnung (StVO)?

Ein Linksabbieger hat gemäß der Straßenverkehrsordnung (StVO) mehrere Wartepflichten, die darauf abzielen, die Sicherheit im Straßenverkehr zu gewährleisten und Unfälle zu vermeiden. Diese Pflichten sind in § 9 StVO geregelt.

Ein Linksabbieger muss sein Abbiegevorhaben rechtzeitig und deutlich ankündigen. Dies geschieht durch das Setzen des Blinkers. Vor dem Einordnen und nochmals vor dem Abbiegen ist auf den nachfolgenden Verkehr zu achten. Diese doppelte Rückschaupflicht soll sicherstellen, dass der Linksabbieger keine anderen Verkehrsteilnehmer gefährdet.

Beim Abbiegen muss der Linksabbieger entgegenkommende Fahrzeuge durchfahren lassen. Das bedeutet, dass er warten muss, bis der Gegenverkehr die Kreuzung oder Einmündung passiert hat. Diese Regel gilt auch für Schienenfahrzeuge, Fahrräder und Elektrokleinstfahrzeuge, die in der gleichen Richtung fahren.

Ein Beispiel verdeutlicht die Situation: Ein Autofahrer möchte nach links in eine Einfahrt abbiegen. Er muss zunächst den Blinker setzen und sich links einordnen. Bevor er abbiegt, muss er sicherstellen, dass kein Gegenverkehr kommt. Wenn ein Motorrad aus der Gegenrichtung kommt, muss der Autofahrer warten, bis das Motorrad vorbeigefahren ist, bevor er abbiegt.

Besondere Vorsicht ist geboten, wenn ein Motorradfahrer aus der Gegenrichtung überholt. In solchen Fällen muss der Linksabbieger besonders aufmerksam sein und sicherstellen, dass er den Überholvorgang nicht behindert. Ein Verstoß gegen diese Wartepflicht kann zu schweren Unfällen führen und hat rechtliche Konsequenzen. Der Linksabbieger haftet in der Regel für den entstandenen Schaden, da er gegen die Sorgfaltspflichten verstoßen hat.

Ein Gerichtsurteil verdeutlicht dies: Ein Linksabbieger kollidierte mit einem überholenden Motorrad. Das Gericht entschied, dass der Linksabbieger seine Wartepflicht verletzt hatte und daher für den Unfall haftet. Auch wenn der Motorradfahrer möglicherweise zu schnell war, entbindet dies den Linksabbieger nicht von seiner Pflicht, den Gegenverkehr durchfahren zu lassen.

Diese Regelungen sollen sicherstellen, dass alle Verkehrsteilnehmer sicher und ohne unnötige Gefährdung abbiegen können. Ein Verstoß gegen die Wartepflichten kann nicht nur zu Unfällen führen, sondern auch rechtliche Konsequenzen wie Bußgelder und Punkte im Fahreignungsregister nach sich ziehen.


Wann ist das Rechtsüberholen im Straßenverkehr erlaubt?

Das Rechtsüberholen im Straßenverkehr ist grundsätzlich verboten, jedoch gibt es einige Ausnahmen, in denen es erlaubt ist. Diese Ausnahmen sind in der Straßenverkehrsordnung (StVO) geregelt und dienen dazu, den Verkehrsfluss zu verbessern und gefährliche Situationen zu vermeiden.

Innerorts darf rechts überholt werden, wenn mehrere markierte Fahrstreifen für eine Richtung vorhanden sind. Dies gilt für Fahrzeuge bis zu einem zulässigen Gesamtgewicht von 3,5 Tonnen. Auch wenn ein vorausfahrendes Fahrzeug links abbiegt und sich entsprechend weit links eingeordnet hat, dürfen nachfolgende Fahrzeuge vorsichtig rechts vorbeifahren, sofern die Fahrbahn breit genug ist.

Auf Autobahnen und autobahnähnlichen Straßen ist das Rechtsüberholen nur in bestimmten Situationen erlaubt. Bei zähfließendem Verkehr oder Stau darf rechts überholt werden, wenn die linke Spur höchstens 60 km/h fährt und die überholenden Fahrzeuge nicht mehr als 20 km/h schneller fahren. Dies bedeutet, dass bei einer Geschwindigkeit von 60 km/h auf der linken Spur rechts mit maximal 80 km/h überholt werden darf.

Ein Beispiel verdeutlicht dies: Auf einer Autobahn hat sich ein Stau gebildet, und die Fahrzeuge auf der linken Spur fahren mit etwa 50 km/h. In diesem Fall dürfen Fahrzeuge auf der rechten Spur mit bis zu 70 km/h vorbeifahren. Wichtig ist, dass dies nur bei dichtem Verkehr und unter Beachtung der maximalen Geschwindigkeitsdifferenz von 20 km/h erlaubt ist.

Auf Beschleunigungsstreifen, die zum Einfädeln auf die Autobahn dienen, ist das Rechtsüberholen ebenfalls erlaubt, um die Geschwindigkeit an die der auf der Autobahn fahrenden Fahrzeuge anzupassen. Auf Verzögerungsstreifen, die zum Abfahren von der Autobahn genutzt werden, ist das Rechtsüberholen hingegen nicht gestattet.

Ein weiteres Beispiel betrifft innerstädtische Situationen: Wenn sich an einer Ampel eine Linksabbiegerspur gebildet hat und die Fahrzeuge auf dieser Spur stehen, dürfen Fahrzeuge auf der rechten Spur, die geradeaus fahren oder rechts abbiegen wollen, an den stehenden Fahrzeugen vorbeifahren.

Ein Verstoß gegen das Rechtsüberholverbot kann zu Bußgeldern und Punkten im Fahreignungsregister führen. Innerorts beträgt das Bußgeld 30 Euro, außerorts auf Autobahnen und Landstraßen 100 Euro und einen Punkt in Flensburg. Bei Gefährdung oder Sachbeschädigung erhöhen sich die Strafen entsprechend.

Diese Regelungen sollen sicherstellen, dass der Verkehr geordnet und sicher abläuft. Verkehrsteilnehmer sollten sich stets bewusst sein, wann das Rechtsüberholen erlaubt ist, um Unfälle und rechtliche Konsequenzen zu vermeiden.


Welche Maßnahmen muss ein Verkehrsteilnehmer ergreifen, wenn die Sicht durch ein anderes Fahrzeug behindert wird?

Wenn die Sicht eines Verkehrsteilnehmers durch ein anderes Fahrzeug behindert wird, muss er bestimmte Maßnahmen ergreifen, um die Verkehrssicherheit zu gewährleisten und rechtliche Konsequenzen zu vermeiden. Diese Maßnahmen sind in der Straßenverkehrsordnung (StVO) und durch Gerichtsurteile festgelegt.

Ein Verkehrsteilnehmer muss seine Geschwindigkeit anpassen und besonders vorsichtig fahren, wenn seine Sicht eingeschränkt ist. Dies bedeutet, dass er langsamer fahren und jederzeit bremsbereit sein muss. Eine eingeschränkte Sicht erhöht das Risiko, andere Verkehrsteilnehmer, wie Fußgänger oder Radfahrer, zu übersehen. Daher ist es wichtig, die Geschwindigkeit so weit zu reduzieren, dass jederzeit sicher angehalten werden kann.

Ein Beispiel verdeutlicht dies: Ein Autofahrer fährt auf einer Straße, auf der ein großes Fahrzeug, wie ein Lkw oder Wohnmobil, die Sicht auf eine Kreuzung oder Einmündung versperrt. Der Autofahrer muss in diesem Fall seine Geschwindigkeit reduzieren und sich vorsichtig an die Kreuzung herantasten, um sicherzustellen, dass er keine anderen Verkehrsteilnehmer gefährdet.

Das Parken an Stellen, die die Sicht anderer Verkehrsteilnehmer behindern, ist ebenfalls verboten. Dies gilt insbesondere für scharfe Kurven, Einmündungen und Kreuzungen. Fahrzeuge, die an solchen Stellen parken, können die Sicht auf den fließenden Verkehr erheblich einschränken und somit Unfälle verursachen. Ein Gerichtsurteil des Verwaltungsgerichts München bestätigt, dass das Parken in scharfen Kurven wegen der dort immer gefährlichen Sichtbehinderung unzulässig ist.

Ein weiteres Beispiel betrifft das Parken vor Grundstückseinfahrten. Wenn ein Fahrzeug so parkt, dass es die Sicht auf die Straße behindert, kann dies zu gefährlichen Situationen führen, insbesondere wenn andere Fahrzeuge oder Fußgänger die Einfahrt passieren wollen. In solchen Fällen kann der Halter des parkenden Fahrzeugs für Unfälle mitverantwortlich gemacht werden, da er gegen die Parkvorschriften verstoßen hat.

Verkehrsteilnehmer müssen auch darauf achten, dass sie beim Abbiegen oder Einfahren in den fließenden Verkehr keine anderen Verkehrsteilnehmer gefährden. Wenn die Sicht durch parkende Fahrzeuge oder andere Hindernisse eingeschränkt ist, muss der Fahrer besonders vorsichtig sein und gegebenenfalls auf das Abbiegen oder Einfahren verzichten, bis die Sicht frei ist.

Ein Beispiel verdeutlicht dies: Ein Autofahrer möchte aus einer Grundstückseinfahrt auf die Straße fahren, aber ein parkendes Fahrzeug versperrt die Sicht. Der Autofahrer muss in diesem Fall warten, bis die Sicht frei ist, um sicherzustellen, dass er keine anderen Verkehrsteilnehmer gefährdet.

Diese Maßnahmen sollen sicherstellen, dass alle Verkehrsteilnehmer sicher und ohne unnötige Gefährdung am Straßenverkehr teilnehmen können. Ein Verstoß gegen diese Vorschriften kann zu Bußgeldern, Punkten im Fahreignungsregister und im Falle eines Unfalls zu einer Mithaftung führen.


Welche Rolle spielt die Geschwindigkeit bei der Beurteilung eines Verkehrsunfalls?

Die Geschwindigkeit spielt eine zentrale Rolle bei der Beurteilung von Verkehrsunfällen, da sie maßgeblich die Unfallursache und die Schwere der Folgen beeinflusst. Gemäß § 3 der Straßenverkehrsordnung (StVO) muss die Geschwindigkeit stets den Straßen-, Verkehrs-, Sicht- und Wetterverhältnissen angepasst werden. Dies bedeutet, dass ein Fahrzeugführer nur so schnell fahren darf, dass er sein Fahrzeug jederzeit sicher beherrschen kann.

Bei der Beurteilung eines Verkehrsunfalls wird geprüft, ob die gefahrene Geschwindigkeit den jeweiligen Bedingungen angemessen war. Eine nicht angepasste Geschwindigkeit ist eine der häufigsten Unfallursachen und kann zu einer Mithaftung führen, selbst wenn die zulässige Höchstgeschwindigkeit nicht überschritten wurde. Beispielsweise muss bei schlechter Sicht durch Nebel, Regen oder Schneefall die Geschwindigkeit so weit reduziert werden, dass die Sichtweite von 50 Metern nicht überschritten wird. In solchen Fällen beträgt die zulässige Höchstgeschwindigkeit 50 km/h.

Ein Beispiel verdeutlicht dies: Ein Motorradfahrer überholt ein Fahrzeug auf einer Landstraße und kollidiert mit einem Linksabbieger aus der Gegenrichtung. Wenn der Motorradfahrer mit überhöhter Geschwindigkeit unterwegs war, kann dies seine Reaktionszeit verkürzen und die Bremswege verlängern, was zur Unfallverursachung beiträgt. Das Gericht wird in diesem Fall prüfen, ob der Motorradfahrer seine Geschwindigkeit den Verkehrsverhältnissen angepasst hat und ob er möglicherweise gegen die StVO verstoßen hat.

Die Geschwindigkeit beeinflusst auch die kinetische Energie, die bei einem Aufprall freigesetzt wird. Diese Energie steigt quadratisch mit der Geschwindigkeit, was bedeutet, dass ein Unfall bei höherer Geschwindigkeit deutlich schwerwiegendere Folgen haben kann. Ein Aufprall bei 50 km/h entspricht einer Fallhöhe von etwa 9,8 Metern, was die Schwere der Verletzungen erheblich erhöht.

Ein weiteres Beispiel betrifft innerstädtische Unfälle: Ein Autofahrer fährt mit 60 km/h in einer 50er-Zone und erfasst einen Fußgänger. Die erhöhte Geschwindigkeit kann dazu führen, dass der Autofahrer den Fußgänger nicht rechtzeitig sieht oder nicht rechtzeitig bremsen kann. In diesem Fall wird das Gericht die Geschwindigkeitsüberschreitung als wesentlichen Faktor für die Unfallverursachung und die Schwere der Verletzungen bewerten.

Die Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit ist daher nicht nur eine gesetzliche Pflicht, sondern auch ein wesentlicher Beitrag zur Verkehrssicherheit. Verkehrsteilnehmer müssen ihre Geschwindigkeit stets den aktuellen Bedingungen anpassen, um Unfälle zu vermeiden und die Sicherheit aller Verkehrsteilnehmer zu gewährleisten. Ein Verstoß gegen diese Regelungen kann zu Bußgeldern, Punkten im Fahreignungsregister und im Falle eines Unfalls zu einer Mithaftung führen.


Wer trägt die Schuld bei einem Zusammenstoß zwischen einem Linksabbieger und einem entgegenkommenden Fahrzeug?

Bei einem Zusammenstoß zwischen einem Linksabbieger und einem entgegenkommenden Fahrzeug trägt in der Regel der Linksabbieger die Hauptschuld. Dies liegt daran, dass der Linksabbieger gemäß § 9 Abs. 3 StVO eine besondere Wartepflicht hat. Er muss sicherstellen, dass kein entgegenkommendes Fahrzeug gefährdet wird, bevor er abbiegt. Diese Pflicht umfasst die sogenannte doppelte Rückschaupflicht, bei der der Linksabbieger sowohl vor dem Einordnen als auch unmittelbar vor dem Abbiegen den nachfolgenden Verkehr beobachten muss.

Der Beweis des ersten Anscheins spricht in solchen Fällen meist für ein Verschulden des Linksabbiegers. Das bedeutet, dass zunächst davon ausgegangen wird, dass der Linksabbieger den Unfall verursacht hat, es sei denn, er kann nachweisen, dass er alle erforderlichen Sorgfaltspflichten beachtet hat und der Unfall dennoch nicht vermeidbar war.

Es gibt jedoch Ausnahmen, in denen die Haftung zwischen den beteiligten Parteien aufgeteilt werden kann. Wenn das entgegenkommende Fahrzeug beispielsweise deutlich zu schnell unterwegs war, kann dies zu einer Haftungsminderung für den Linksabbieger führen. In einem Fall sah das Kammergericht Berlin eine Haftungsquote von 2/3 zu Lasten des entgegenkommenden Fahrzeugs und 1/3 zu Lasten des Linksabbiegers, weil das entgegenkommende Fahrzeug innerorts mit 80 km/h statt der erlaubten 50 km/h fuhr.

Ein weiteres Beispiel betrifft die Situation, in der der Linksabbieger seine doppelte Rückschaupflicht erfüllt hat, aber der Überholer dennoch verkehrswidrig gehandelt hat. In solchen Fällen kann die Haftung des Überholers höher ausfallen. Wenn der Überholer beispielsweise bei unklarer Verkehrslage überholt hat, kann dies zu einer Mithaftung des Überholers führen.

Ein konkreter Fall verdeutlicht dies: Ein Motorradfahrer überholt ein Fahrzeug auf einer zweispurigen Straße und kollidiert mit einem Linksabbieger. Das Gericht stellte fest, dass der Motorradfahrer bei unklarer Verkehrslage überholt hatte und daher eine Mithaftung von 2/3 trug, während der Linksabbieger zu 1/3 haftete, weil er seine Rückschaupflicht nicht ausreichend erfüllt hatte.

Die genaue Haftungsverteilung hängt immer von den spezifischen Umständen des Unfalls ab. Faktoren wie die Geschwindigkeit der beteiligten Fahrzeuge, die Einhaltung der Rückschaupflicht und das Verhalten der Verkehrsteilnehmer spielen eine entscheidende Rolle bei der rechtlichen Bewertung. Es ist daher wichtig, dass alle Verkehrsteilnehmer ihre Sorgfaltspflichten beachten, um Unfälle zu vermeiden und die Sicherheit im Straßenverkehr zu gewährleisten.


§ Relevante Rechtsgrundlagen des Urteils


  • § 5 StVO – Überholen: Das Rechtsüberholen ist grundsätzlich verboten, außer in bestimmten Ausnahmefällen, etwa wenn der Verkehr durch Ampeln geregelt ist oder wenn der Verkehr auf Streifen für eine Richtung fahren darf. Der Motorradfahrer hat hier möglicherweise gegen das Verbot des Rechtsüberholens verstoßen.
  • § 9 StVO – Abbiegen, Wenden und Rückwärtsfahren: Fahrzeugführer, die abbiegen wollen, müssen besonders darauf achten, dass sie weder entgegenkommenden Verkehr noch nachfolgende Verkehrsteilnehmer gefährden. Die Beklagte hätte sich vor dem Linksabbiegen vergewissern müssen, dass kein Gegenverkehr, einschließlich rechts überholender Fahrzeuge, kommt.
  • § 41 StVO – Verkehrszeichen und Weisungen: Verkehrszeichen wie das Zeichen 214 (Rechts vorbeifahren) und das Verbot des Linksabbiegens müssen beachtet werden. Der Mercedes Sprinter hat das Linksabbiegeverbot missachtet, was zur Sichtbehinderung und damit zur Unfallursache beigetragen hat.
  • § 3 StVO – Geschwindigkeit: Geschwindigkeit ist stets sooft anzupassen, dass das Fahrzeug stets beherrscht wird und rechtzeitig angehalten werden kann. Dies wäre relevant, falls der Motorradfahrer nicht rechtzeitig auf die Situation hätte reagieren können, weil er zu schnell fuhr.
  • § 17 StVG – Schadenersatzpflicht: Bei Verkehrsunfällen haften die Beteiligten nach Maßgabe des StVG. In diesem Fall haften die Beklagten, da sie ihre Pflichten gemäß der StVO verletzt haben.
  • § 18 StVG – Haftung des Fahrzeugführers: Der Fahrer eines Kfz haftet für den entstandenen Schaden, wenn er den Unfall verursacht hat. Hier wird die Fahrerin des Pkw haftbar gemacht, weil sie beim Abbiegen keine ausreichende Vorsicht walten ließ.
  • § 823 BGB – Unerlaubte Handlung: Der Anspruch auf Schmerzensgeld basiert oftmals auf § 823 BGB, der eine Schadensersatzpflicht bei unerlaubten Handlungen wie der Verletzung von Verkehrspflichten vorsieht.
  • § 254 BGB – Mitverschulden: Sofern ein Mitverschulden des Geschädigten vorliegt, wird dies bei den Schadensersatzansprüchen berücksichtigt. Die Frage, ob der Motorradfahrer durch rechtswidriges Überholen ein Mitverschulden trägt, wäre hier relevant.


⇓ Das vorliegende Urteil vom Oberlandesgericht Dresden

OLG Dresden – Az.: 8 U 901/22 – Urteil vom 05.01.2023

1. Die Berufung der Beklagten 1) bis 3) gegen das Teilend- und Teilgrundurteil des Landgerichts Dresden vom 29.04.2022 – 9 O 620/20 – wird zurückgewiesen.

2. Die Beklagten 1) bis 3) tragen als Gesamtschuldner die Kosten des Berufungsverfahrens.

3. Das Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagten 1) bis 3) können die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor Beginn der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.

4. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

A.

Die Parteien streiten um Schadenersatz- und Schmerzensgeldansprüche im Zusammenhang mit einem Verkehrsunfall, der sich am 19.09.2018 gegen 11.00 Uhr in D. im Kreuzungsbereich der G.straße und der D.straße ereignete.

Auf der vorfahrtsberechtigten G.straße verlaufen mittig jeweils Straßenbahnschienen, die auch durch den Kraftfahrzeugverkehr befahren werden. Die Beklagte 1) fuhr mit dem PKW Opel Insigna (amtliches Kennzeichen xx-x 0000), dessen Halterin die Beklagte 2) ist und der bei der Beklagten 3) haftpflichtversichert ist, auf der G.straße vom S. Platz kommend in Richtung S…platz. Sie beabsichtigte, an der Kreuzung D.straße nach links abzubiegen und ordnete sich daher in die vorgesehene Linksabbiegespur ein. Auf der Gegenfahrbahn fuhr vom S…platz kommend in Richtung S. Platz ein grüner Mercedes Sprinter (Kastenwagen) und hinter diesem der Kläger mit seinem Motorrad Harley Davidson (amtliches Kennzeichen xx-xx 00). Obwohl in dieser Fahrtrichtung im Bereich der D.straße ein Linksabbiegen untersagt ist (Zeichen 214), ordnete sich der vorausfahrende Mercedes Sprinter links auf den Schienen zum Zwecke des Linksabbiegens ein und beeinträchtigte damit zugleich das Sichtfeld der Beklagten 1) auf den Gegenverkehr. Der Kläger fuhr rechts an dem sich links einordnenden Mercedes Sprinter vorbei und kollidierte mit dem sich gerade im Linksabbiegevorgang befindlichen PKW Opel. Beide Fahrzeuge wurden infolge des Aufpralls erheblich beschädigt. Der Kläger geriet mit dem Motorrad zu Sturz und erlitt schwere Verletzungen, die mehrere Operationen zur Folge hatten. Mit der Behauptung, die Beklagte 1) habe ihre Sorgfaltspflichten beim Linksabbiegen verletzt, begehrte der Kläger zuletzt Schadenersatz in Höhe von 163.848,41 Euro, wobei der Betrag eine Schmerzensgeldforderung im Umfang von zumindest 75.000,00 Euro umfasst, sowie die Feststellung, dass die Beklagten zum Ersatz sämtlicher weiterer materieller und immaterieller Schäden verpflichtet seien. Hinsichtlich der Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf den Tatbestand des landgerichtlichen Urteils sowie die von den Parteien erstinstanzlich gewechselten Schriftsätze verwiesen.

Mit der angegriffenen Entscheidung vom 29.04.2022 hat das Landgericht ein Teilend- und Teilgrundurteil erlassen. Es hat die bezifferte Schadensersatzklage, einschließlich des Klageantrags 2) zu den vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten und des Schmerzensgelds, für dem Grunde nach gerechtfertigt erklärt. Darüber hinaus hat es festgestellt, dass die Beklagten gesamtschuldnerisch verpflichtet sind, dem Kläger sämtliche weiteren materiellen Schäden aus dem Verkehrsunfall ungekürzt zu ersetzen. Im Hinblick auf weitere immaterielle Schäden hat es das Feststellungsbegehren abgewiesen. Zur Begründung hat das Landgericht ausgeführt, dem Kläger stehe gemäß § 7 Abs. 1, § 18 Abs. 1 StVG, § 823 Abs. 1 BGB, § 11 Abs. 2 StVG, § 253 Abs. 2 BGB und § 115 Abs. 1 VVG ein unter dem Gesichtspunkt der Mithaftung ungekürzter Schadenersatzanspruch sowie ein ohne Berücksichtigung eines Mitverschuldens zu bemessender Schmerzensgeldanspruch zu. Im Ergebnis der Beweisaufnahme stehe dem der Beklagten 1) vorwerfbaren Verstoß gegen § 9 Abs. 3 Satz 3 StVO, d.h. der Missachtung des Vorrangs des Geradeausverkehrs, kein in gleicher Weise für die Kollision ursächlicher Verkehrsverstoß des Klägers gegenüber. Ein unfallursächliches Mitverschulden des Klägers wegen verbotswidrigen Überholens komme nicht in Betracht. Ebenso wenig sei nach der Beweisaufnahme ein klägerseitiger Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO anzunehmen. Da sich der Einwand der Beklagten, wonach der Kläger bereits dem Grunde nach keinen Ersatzanspruch habe, als unberechtigt erweise, sei auch die Feststellung auszusprechen, dass ihm sämtliche weiteren materiellen Schäden zu ersetzen seien. Soweit das Schmerzensgeld alle Folgen erfasse, die bereits eingetreten oder objektiv erkennbar seien, komme hingegen ein Feststellungsausspruch zu weiteren immateriellen Schäden nicht in Betracht. Eine Verurteilung der Beklagten hinsichtlich einzelner Schadenersatzpositionen unter gleichzeitiger Beschränkung des Grundurteils sei angesichts offener Verrechnungsfragen derzeit nicht möglich. Auf die Entscheidungsgründe des landgerichtlichen Urteils, das den Beklagten am 05.05.2022 zugestellt worden ist, wird Bezug genommen.

Mit ihrer am 10.05.2022 beim Landgericht eingelegten Berufung, die dem Oberlandesgericht mit Eingang am 12.05.2022 zugeleitet wurde, wenden sich die Beklagten gegen ihre Verurteilung. In der nach entsprechender Fristverlängerung am 11.07.2022 eingereichten Berufungsbegründung rügen sie, das Landgericht habe zu Unrecht den Klageanträgen uneingeschränkt dem Grunde nach stattgegeben.

Zwar habe der Geradeausverkehr gemäß § 9 Abs. 3 Satz 1 StVO grundsätzlich Vorrang. Das Landgericht lasse jedoch die im Urteil des Bundesgerichtshofs vom 11.01.2005 (VI ZR 352/03) angesprochenen „Besonderheiten“ des vorliegenden Falls außer Betracht und berücksichtige die gutachterlichen Feststellungen nicht. Der Sachverständige habe bestätigt, dass die Beklagte 1) im Kollisionszeitpunkt gestanden habe, was eine entsprechende Besonderheit darstelle. Es habe der Beklagten 1) nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung und dem Urteil des Oberlandesgerichts Celle vom 16.12.1993 (5 U 232/92) auch zugestanden, sich in die Kreuzung hineinzutasten, was sich ebenfalls aus § 8 Abs. 2 Satz 3 StVO erschließe. Die Beklagte 1) habe sich daher völlig regelkonform verhalten.

Hinsichtlich der Mitverursachungs- bzw. Mitverschuldensanteile des Klägers beachte das Landgericht nicht, dass er rechts an dem verbotswidrig linksabbiegenden Mercedes Sprinter vorbeigefahren sei und insoweit gegen das Rechtsüberholverbot des § 5 Abs. 7 StVO verstoßen habe. Das Gesetz gehe davon aus, dass ein „korrekter“ Linksabbieger rechts überholt werden dürfe, nicht aber ein verbotswidrig abbiegender Linksabbieger. Da dem Mercedes Sprinter ein Linksabbiegen verboten gewesen sei, hätten die Voraussetzungen für ein Rechtsüberholen nicht vorgelegen. Allenfalls entsprechend § 7 Abs. 2a StVO wäre es denkbar gewesen, dass der Kläger rechts überhole. Allerdings sei dies nur mit geringfügig höherer Geschwindigkeit und unter Beachtung der äußersten Vorsicht erlaubt. Der Kläger hätte allenfalls mit einer unter 25 km/h liegenden Geschwindigkeit an dem Mercedes Sprinter rechts vorbeifahren dürfen; dann wäre die Kollision nach den gutachterlichen Berechnungen auch vermeidbar gewesen. Tatsächlich sei der Kläger nach den Feststellungen des Sachverständigen mit 48 bis 50 km/h vorbeigefahren. Rechtsfehlerhaft sei das Landgericht davon ausgegangen, dass der Kläger nicht zu einer Geschwindigkeitsverringerung verpflichtet gewesen sei. Das „blinde Einfahren“ in eine Kreuzung, wenn ein Verkehrsteilnehmer sich nicht regelkonform verhalte, sei sorgfaltswidrig. Gerade in der hier vorliegenden Situation habe der Kläger damit rechnen müssen, dass sich ein Dritter in die Kreuzung hineintaste.

Jedenfalls liege eine Verletzung der allgemeinen Rücksichtnahmepflichten aus § 1 Abs. 2 StVO und ein Verstoß gegen das Sichtfahrgebot vor. Der Kläger habe die vor ihm liegende Strecke, insbesondere den Kreuzungsbereich, nicht uneingeschränkt einsehen können.

Ferner nehme das Landgericht rechtsfehlerhaft an, dass keine unklare Verkehrslage im Sinne des § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO bestanden habe und die betreffende Vorschrift nur für den links überholenden Verkehr gelte. Der Kläger habe wahrgenommen, dass das vor ihm fahrende Fahrzeug verbotswidrig links abbiegen wolle und zudem die Sicht auf die Kreuzung verdecke. Selbst wenn der Schutzzweck des § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO auf den gleichgerichteten Verkehr beschränkt wäre, sei jedoch auch der Querverkehr hiervon mitgeschützt.

Soweit das Landgericht im Kern die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 11.01.2005 (VI ZR 352/03) zugrunde lege, übersehe es wesentliche Sachverhaltsunterschiede. Anders als im dortigen Fall sei die Beklagte 1) nicht ohne anzuhalten nach links abgebogen und es habe keine per se unübersichtliche oder schwierige Örtlichkeit vorgelegen. Im Übrigen gebe es hier keine Anhaltspunkte für eine „doppelte“ Betriebsgefahr des PKW Opel.

Soweit das Landgericht in den Entscheidungsgründen ausführe, dass die Kosten für Chefarztbehandlungen grundsätzlich erstattungsfähig seien, stelle sich auch dies als rechtsfehlerhaft dar.

Die Beklagten 1) bis 3) beantragen, das am 29.04.2022 verkündete Urteil des Landgerichts Dresden, Az.: 9 O 620/20, aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das angegriffene Urteil unter Wiederholung und Vertiefung seines erstinstanzlichen Vorbringens.

Auf die von den Parteien gewechselten Schriftsätze wird ergänzend Bezug genommen. Ferner wird auf die Sitzungsniederschrift der mündlichen Verhandlung des Senats vom 15.12.2022 verwiesen. Die Parteien haben klargestellt, dass unstreitig ist, dass der sich nach links einordnende Mercedes Sprinter den linken Fahrtrichtungsanzeiger betätigt hatte.

B.

Die zulässige Berufung der Beklagten 1) bis 3) erweist sich als unbegründet. Das Landgericht hat berechtigt durch Teilend- und Teilgrundurteil entschieden und in der Sache im Ergebnis zu Recht angenommen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner vollumfänglich für die dem Kläger entstandenen Schäden einstandspflichtig sind.

I. Die Berufung der Beklagten ist zulässig. Insbesondere wurde das Rechtsmittel wirksam eingelegt. Nach § 519 Abs. 1 ZPO ist die Berufungsschrift bei dem Rechtsmittelgericht einzureichen; dies hat binnen Monatsfrist gemäß § 517 ZPO zu erfolgen. Für die Berufungseinlegung ist nicht entscheidend, welche Gerichtsanschrift verwendet wird; maßgebend ist, dass der Berufungsschriftsatz in die Verfügungsgewalt des Rechtsmittelgerichts gelangt (BGH, NJW-RR 1997, 892; Zöller/Heßler, ZPO, 34. Aufl., § 519 Rn. 13). Wird die Rechtsmittelschrift bei einem unzuständigen Gericht eingereicht, ist dieses Gericht grundsätzlich zu einer Weiterleitung an das Berufungsgericht gehalten. Hiermit kann ein rechtzeitiger und wirksamer Berufungseingang im Sinne § 519 Abs. 1 ZPO bewirkt werden (vgl. Zöller/Heßler, ZPO, 34. Aufl., § 519 Rn. 14). So liegt der Fall hier. Das Landgericht hat den Berufungsschriftsatz der Beklagten vom 10.05.2022 am 12.05.2022 und damit innerhalb der Frist des § 517 ZPO an das Oberlandesgericht weitergeleitet. Es bestehen keine greifbaren Zweifel daran, dass der Schriftsatz auf die Führung eines Rechtsmittels vor dem zuständigen Berufungsgericht gerichtet war.

II. Das beklagtenseitige Rechtsmittel stellt sich aber als unbegründet dar, weil das Landgericht im Ergebnis beanstandungsfrei von einer vollumfänglichen Einstandspflicht der Beklagten nach § 7 Abs. 1, § 18 Abs. 1 und 3, § 17 Abs. 2 und 1 sowie § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Satz 4 VVG ausgegangen ist.

1. Das Landgericht hat zulässig im Wege eines Teilend- und Teilgrundurteils entschieden. Nach § 304 Abs. 1 ZPO kann das Gericht vorab über den Haftungsgrund befinden, wenn der Anspruch nach Grund und Höhe streitig ist und eine Entscheidungsreife zum Grund, nicht aber zur Höhe gegeben ist (Zöller/Feskorn, ZPO, 34. Aufl., § 304 Rn. 2 ff.). Dies ist vorliegend der Fall. Soweit in Bezug auf ein Feststellungsbegehren, etwa die Feststellung einer Einstandspflicht für weitere bzw. künftige Schäden, ein Grundurteil nicht ergehen kann, ist es zulässig, insofern im Wege eines Teilendurteils zu entscheiden (Zöller/Feskorn, ZPO, 34. Aufl., § 304 Rn. 3); hiervon hat das Landgericht Gebrauch gemacht.

Dem Erlass eines Teilgrundurteils steht auch nicht entgegen, dass einzelne Schadenspositionen endgültig entscheidungsreif wären. Das Landgericht hat darauf abgestellt, dass einerseits weitere Beweiserhebungen zu den geltend gemachten materiellen und immateriellen Schadenspositionen erforderlich sind und andererseits eine abschließende Entscheidung deswegen nicht ergehen kann, weil erst nach dem Betragsverfahren abschließend über die anteilige Verrechnung der von der Beklagten 3) bereits gezahlten Teilbeträge befunden werden kann. Hiergegen ist nichts zu erinnern; die Parteien haben hierzu auch keine Einwände geäußert. Auf die landgerichtlichen Erwägungen kann verwiesen werden. Sein Ermessen hat das Landgericht in nicht zu beanstandender Weise ausgeübt.

Soweit die Beklagten mit ihrem Angriff, das Landgericht habe zu Unrecht eine Erstattungsfähigkeit der von der privaten Krankenkasse des Klägers nicht übernommenen Kosten für Chefarztbehandlungen dem Grunde nach anerkannt, geltend zu machen beabsichtigen, in diesem Punkt hätte durch klageabweisendes Teilendurteil entschieden werden müssen, ist dem nicht zu folgen. Das Landgericht hat gestützt auf den detaillierten Vortrag des Klägers zu Art und Folgen der Verletzungen sowie zu Gegenstand und Aufwand der Operationen nebst deren Komplexität, insbesondere unter Berücksichtigung der klägerseitig geschilderten Situation einer drohenden Beinamputation, gerechtfertigt angenommen, dass die Inanspruchnahme besonders qualifizierter/spezialisierter medizinischer Fachkräfte erforderlich war (vgl. Luckey, Personenschaden, 3. Aufl., Rn. 895 ff.). Die Beklagten sind den auch aus den verschiedenen Arzt- und Entlassungsberichten resultierenden Erkenntnissen nicht substantiell entgegengetreten, sodass kein Anlass dafür besteht, grundlegend an der Notwendigkeit der betreffenden Heilbehandlungen im Sinne des § 249 Abs. 1 BGB zu zweifeln. Der in der Berufungsbegründung angesprochene Gesichtspunkt, dass der Kläger mit seiner privaten Krankenkasse keine Vereinbarung in Bezug auf Chefarztbehandlungen getroffen habe, stellt den Rückschluss auf deren Erforderlichkeit nicht rechtserheblich in Frage.

2. Das Landgericht hat in der Sache berechtigt eine gesamtschuldnerische Einstandspflicht der Beklagten 1) als Kraftfahrzeugführerin nach § 18 Abs. 1 StVG, der Beklagten 2) als Halterin gemäß § 7 Abs. 1 StVG und der Beklagten 3) als Haftpflichtversicherung nach § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Satz 4 VVG befürwortet. Die betreffenden Haftungsvoraussetzungen sind jeweils erfüllt. Hinsichtlich der Beklagten 1) ist aus den nachfolgenden Erwägungen auch davon auszugehen, dass sie ein fehlendes Verschulden an der Unfallverursachung im Sinne des § 18 Abs. 1 Satz 2 StVG nicht nachgewiesen hat.

3. Für die nach § 17 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 bzw. § 18 Abs. 3, § 17 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 StVG vorzunehmende Bestimmung des Umfangs der Einstandspflicht ist eine Abwägung der wechselseitigen Mitverursachungs- und Mitverschuldensbeiträge der unfallbeteiligten Fahrzeugführer angezeigt. Die Abwägung ist aufgrund aller festgestellten, d.h. unstreitigen, zugestandenen oder nach § 286 ZPO bewiesenen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, die sich auf den Unfall ausgewirkt haben. In erster Linie ist hierbei das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben. Ein Faktor bei der Abwägung ist dabei das jeweilige Verschulden (BGH, NJW 2022, 1810).

Dies zugrunde gelegt hat das Landgericht im Rahmen einer einzelfallbezogenen Abwägung angenommen, dass die von der Beklagten 1) herrührenden Mitverursachungs- und Mitverschuldensbeiträge derart schwerwiegend ausfallen, dass eine Alleinhaftung der Beklagten für die Folgen des Unfallereignisses vom 19.09.2018 anzuerkennen ist. Dem schließt sich der Senat im Ergebnis an.

a) Im Ausgangspunkt hat das Landgericht konsequent zugrunde gelegt, dass neben der Betriebsgefahr des unfallbeteiligten PKW Opel ein gewichtiger Verkehrspflichtverstoß der Beklagten 1) in die Abwägung einzustellen ist. Die Beklagte 1) hat gegen die Sorgfaltspflichten als Linksabbieger nach § 9 Abs. 3 Satz 1 StVO in schwerwiegender Weise verstoßen.

aa) Gemäß § 9 Abs. 3 Satz 1 StVO hat derjenige, der links abbiegen will, entgegenkommende Fahrzeuge durchfahren zu lassen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs trifft den Linksabbieger eine Wartepflicht. Genügt er dieser nicht und kommt es deshalb zu einem Unfall, hat er in der Regel, wenn keine Besonderheiten vorliegen, in vollem Umfang oder doch zumindest zum größten Teil für die Unfallfolgen zu haften (BGH, NJW 2005, 1351; NJW-RR 2007, 1077). Das Vorrecht des Geradeausfahrenden muss für den Wartepflichtigen allerdings in zumutbaren Grenzen erkennbar und seine Verletzung vermeidbar gewesen sein (BGH, NJW 2005, 1351). Es entspricht ständiger Rechtsprechung, dass an eine Verletzung des Vorfahrtrechts des Geradeausfahrenden durch den Linksabbieger ein schwerer Schuldvorwurf anknüpft. Dabei greift für das Verschulden des Linksabbiegers ein Anscheinsbeweis ein (BGH, NJW 2005, 1351; NJW-RR 2007, 1077; OLG Hamm, Urteil vom 25.07.2022 – 7 U 4/22, juris Rn. 14). Der Geradeausfahrende darf, sofern nicht Anzeichen für eine bevorstehende Vorfahrtsverletzung bestehen, darauf vertrauen, dass sein Vorrecht beachtet wird (vgl. BGH, NJW 2005, 1351).

Abhängig von den Umständen des Einzelfalls kann es im Rahmen der grundsätzlichen Wartepflicht unter besonderen Umständen gerechtfertigt sein, dass sich der Linksabbieger in die zu kreuzende Gegenfahrbahn, die er nicht oder nicht ausreichend einsehen kann, vorsichtig hineintastet, um dem Vorrecht des Gegenverkehrs Rechnung zu tragen und einen Zusammenstoß mit einem entgegenkommenden Fahrzeug zu vermeiden. Die Gestattung eines vorsichtigen Hineintastens gilt insbesondere bei dauerhaften oder sonst langfristenden Sichtbeeinträchtigungen, etwa infolge von Bewuchs oder anderen sichtbeschränkenden örtlichen Gegebenheiten (BGH, NJW 2005, 1351; OLG Hamm, RuS 2003, 479). Steht lediglich ein kurzfristiges Sichthindernis in Rede, etwa weil ein anderes Fahrzeug kurz anhält oder sonst die Sicht versperrt, kann die grundlegende Wartepflicht bedingen, selbst von einem tastenden Einfahren in die nicht einsehbare Gegenfahrbahn abzusehen (BayObLG, VRS 19, 312; OLG Köln, Urteil vom 01.02.2018 – 3 U 114/17, juris Rn. 7; Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, StVR, 27. Aufl., § 9 StVO Rn. 29; vgl. auch KG, VM 1985, Nr. 21; OLG Hamm, RuS 2003, 479; a.A. wohl OLG Celle, NZV 1994, 193). Aus § 8 Abs. 2 Satz 3 StVO ergibt sich nichts Gegenteiliges, insbesondere keine von der Verkehrssituation unabhängige Befugnis, sich in einen Gefahrenbereich hineinzutasten. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 11.01.2005 (NJW 2005, 1351) stellt die zitierte Rechtsprechung nicht in Frage, wonach einzelfallabhängig bereits ein Hineintasten in die Gegenfahrbahn unzulässig sein kann.

bb) Gemessen an diesen Maßstäben ist der Beklagten 1) ein schuldhafter Verkehrsverstoß anzulasten. Der zu ihren Lasten eingreifende Anscheinsbeweis ist von den Beklagten nicht widerlegt; dessen ungeachtet stellt sich vorliegend bereits das Hineintasten in die Gegenfahrbahn als sorgfaltswidrig dar.

(1) Im Ausgangspunkt kann in der streitgegenständlichen Verkehrssituation auf die Grundsätze des Anscheinsbeweises zurückgegriffen werden. Es steht ungeachtet der fraglichen Fahrweise des Mercedes Sprinter eine typische Linksabbiegesituation in Rede, in welcher die Vorgaben des § 9 Abs. 3 Satz 1 StVO und die hierzu entwickelten Verhaltensmaßstäbe durch die Beklagte 1) zu beachten waren. Im Verhältnis zu dem Verkehr auf der Gegenspur – also gegenüber dem Kläger – entfiel die Typizität der Gefahrenlage nicht deswegen, weil sich der Mercedes Sprinter verbotswidrig seinerseits zum Linksabbiegen einordnete. Anders als die Beklagten meinen, sind auch keine sonstigen Besonderheiten ersichtlich, welche die Annahme eines Anscheinsbeweises in Frage stellen könnten. Der beklagtenseitig angesprochene Aspekt, wonach die Beklagte 1) im Kollisionszeitpunkt angeblich gestanden habe, mag im Rahmen der Abwägung der Mitverursachungsbeiträge als Besonderheit zu berücksichtigen sein. Die beim Linksabbiegevorgang gefahrene Geschwindigkeit besagt jedoch nichts zu der vorgelagerten Frage des Eingreifens eines Anscheinsbeweises zulasten des Linksabbiegers.

(2) Aufgrund der tatsächlich erfolgten Kollision des von der Beklagten 1) geführten PKW Opel mit dem vorfahrtsberechtigten Motorrad des Klägers im unmittelbaren Kreuzungsbereich spricht eine Vermutung für ein ihr anzulastendes sorgfaltswidriges Linksabbiegeverhalten und damit für eine schuldhafte Missachtung des Vorrangs des Durchgangsverkehrs. Diesen Anscheinsbeweis haben die Beklagten im Rahmen der erstinstanzlichen Beweisaufnahme nicht entkräftet. Das Landgericht hat zu Recht angenommen, dass aufgrund der Angaben der unfallbeteiligten Parteien, der Aussage des Zeugen P. sowie des unfallanalytischen Gutachtens des Sachverständigen Dipl. Ing. S. schon nicht darauf geschlossen werden kann, dass sich die Beklagte 1) mit ausreichender Aufmerksamkeit und mit einer genügend vorsichtigen Fahrweise in den Kreuzungsbereich hineingetastet hat, die geeignet war, einen Zusammenstoß mit auf der Gegenfahrbahn fahrenden Fahrzeugen zu vermeiden. Die Kollisionsverursachung streitet gegen ein hinreichend gefahrvermeidendes Vortasten.

Obgleich die beklagtenseitige Behauptung, der linksabbiegende PKW Opel habe im Zeitpunkt des Zusammenstoßes gestanden, für sich schon nicht den mit der Kollision verknüpften Anschein eines sorgfaltswidrigen Abbiegeverhaltens entkräftet, ist ohnehin zu berücksichtigen, dass die Beklagten nicht nachgewiesen haben, dass der PKW Opel vor dem Zusammenstoß zum Stehen gekommen war. Der Kläger hat in seiner Anhörung angegeben, nach seinem Eindruck sei die Beklagte 1) gerade „rübergezogen“, als er an dem Mercedes Sprinter vorbeigefahren sei. Der Zeuge P. erwähnte zwar ein Losfahren und Stehenbleiben des PKW Opel, vermochte aber keine konkreten Abläufe detailliert zu beschreiben. Entgegen der Darstellung der Beklagten konnte der Sachverständige ebenso wenig bestätigen, dass der PKW Opel im Kollisionszeitpunkt zweifelsfrei gestanden habe. Als genauso möglich erachtete es der Sachverständige, dass die Beklagte 1) noch eine geringe Geschwindigkeit gefahren ist (S. 36 des Gutachtens; Anhörungsprotokoll vom 03.02.2022).

(3) Im vorliegenden Einzelfall bestand für die Beklagte 1) darüber hinaus Anlass, situationsbedingt von einem Hineintasten in die Gegenfahrbahn grundlegend abzusehen. Der sich im Gegenverkehr an der Kreuzung links einordnende Mercedes Sprinter verdeckte aufgrund seiner Abmessungen (Kastenwagen) für die Beklagte 1) erkennbar weitreichend den Blick auf den (nachfolgenden) Gegenverkehr. Der Sachverständige erläuterte in seinem Gutachten (S. 36 ff.) detailliert und nachvollziehbar die Sichtbeeinträchtigungen aus dem Blickwinkel der Beklagten 1). Da die Sichtbeeinträchtigung lediglich von einem Fahrzeug ausging (zum anders gelagerten Fall einer sichtbeeinträchtigenden Fahrzeugkolonne vgl. BGH, VersR 1969, 756; OLG Hamm, Beschluss vom 16.07.2019 – 7 U 85/18, juris; siehe auch LG Berlin, Urteil vom 10.10.1988 – 58 S 161/88, juris) und es sich aufgrund der Verkehrslage lediglich um ein kurzes, vorübergehendes Sichthindernis handelte, war die Beklagte 1) als Wartepflichtige aufgrund der aus ihrer Perspektive vollständig fehlenden Beobachtungsmöglichkeiten gehalten, von einem Hineintasten vorläufig Abstand zu nehmen. Es war geboten und ohne weiteres zumutbar, zunächst das Fahrverhalten des Mercedes Sprinter zu beobachten, sich ggf. mit dem betreffenden Fahrzeugführer zu verständigen und in die Gegenfahrbahn erst nach Auflösung der vorübergehenden Sichtbeeinträchtigung einzufahren. Dies gilt vorliegend umso mehr, als die Beklagte 1) nicht damit rechnen konnte, dass sie im Falle eines Hineintastens in den Kreuzungsbereich einen besseren Überblick über den Gegenverkehr gewinnen wird, ohne erheblich in den noch freien Bereich der Gegenfahrbahn einzufahren. Vor diesem Hintergrund kann der beklagtenseitigen Einschätzung nicht gefolgt werden, wonach sich die Beklagte 1) „völlig regelkonform“ verhalten habe. Das Gegenteil war der Fall. Die Beklagte 1) begab sich trotz einer lediglich vorübergehenden Sichtbeeinträchtigung mit ihrem, wenn auch langsamen Einfahren in eine erkennbar unkalkulierbare Gefahrensituation.

b) Entgegen der beklagtenseitigen Berufungsangriffe ist dem Kläger kein erheblicher, in die Abwägung maßgebend einzustellender Verkehrsverstoß anzulasten.

aa) Dem Kläger ist eine Missachtung der innerorts nach § 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h nicht vorzuwerfen. Auch wenn sich seine ursprüngliche Einschätzung, wonach er lediglich mit ca. 30 km/h an dem Mercedes Sprinter rechts vorbeigefahren sei, im Zuge der unfallanalytischen Begutachtung nicht bestätigt hat, ist nach den plausiblen Ableitungen des Sachverständigen anzunehmen, dass sich der Kläger mit der gefahrenen Geschwindigkeit von 48 bis 50 km/h an die gesetzlichen Vorgaben gehalten hat. Darauf, ob die Beklagte 1) ohnehin damit rechnen musste, dass der Gegenverkehr mit überhöhter Geschwindigkeit fährt, kommt es nicht rechtserheblich an (vgl. Hentschel/König/Dauer, StVR, 46. Aufl., § 9 StVO Rn. 39 a.E.).

bb) Ein Geschwindigkeitsverstoß des Klägers lässt sich nicht auf § 3 Abs. 1 Satz 3 StVO gründen, weil zum Unfallzeitpunkt keine sichtbeeinträchtigenden Umweltzustände herrschten. Ebenso wenig ist eine Verletzung des Sichtfahrgebots des § 3 Abs. 1 Satz 4 StVO gegeben. Dieses Gebot verpflichtet zu einer Fahrweise, die dem Fahrzeugführer ein Anhalten innerhalb einer übersehbaren Strecke ermöglicht. Der Sichtfahrgrundsatz soll vorrangig vor dem Auffahren auf vorausliegende Hindernisse schützen und betrifft grundsätzlich die Sicht „vor“ dem Fahrzeug (vgl. Hentschel/König/Dauer, StVR, 46. Aufl., § 3 StVO Rn. 14; Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, StVR, 27. Aufl., § 3 StVO Rn. 5 f.). Darüber hinaus wird das Sichtfahrgebot durch den Vertrauensgrundsatz beeinflusst (vgl. Hentschel/König/Dauer, StVR, 46. Aufl., § 3 StVO Rn. 14). Da die Voraussicht des Klägers auf die geradeaus führende Fahrbahn nicht beeinträchtigt war und er darauf vertrauen durfte, dass aus dem Gegenverkehr kommende Linksabbieger seinen Vorrang beachten, kann vorliegend nicht unter Verweis auf mit dem Mercedes Sprinter verbundene seitliche Sichtbeeinträchtigungen auf eine unangepasste Geschwindigkeit im Sinne des § 3 Abs. 1 Satz 4 StVO geschlossen werden.

cc) Der Kläger hat weder gegen ein Überholverbot noch gegen Verhaltensregeln beim Überholen in beachtlicher Weise verstoßen.

(1) Das Vorbeifahren des Klägers rechts neben dem sich links auf den Straßenbahnschienen einordnenden Mercedes Sprinter stellt sich dem Grunde nach als Überholvorgang im Sinne des § 5 StVO dar. Überholen ist der tatsächliche, absichtslose Vorgang des Vorbeifahrens auf demselben Straßenteil an einem anderen Verkehrsteilnehmer, der sich in derselben Fahrtrichtung bewegt oder verkehrsbedingt wartet (Hentschel/König/Dauer, StVR, 46. Aufl., § 5 StVO Rn. 16; vgl. BGH, NJW 2016, 3462). Da sich das Motorrad rechts an dem verkehrsbedingt anhaltenden Mercedes Sprinter vorbeibewegte, hat der Kläger rechts überholt (vgl. OLG Saarbrücken, Urteil vom 26.03.2020 – 4 U 57/19, juris Rn. 21).

(2) Ein Rechtsüberholen ist nach den Maßgaben des § 5 Abs. 7 Satz 1 StVO zulässig, sofern ein vorausfahrendes Fahrzeug seine Absicht anzeigt, nach links abzubiegen, und wenn es sich entsprechend nach links eingeordnet hat. Nach dem Wortlaut setzt die Norm lediglich voraus, dass der Vorausfahrende den Fahrtrichtungsanzeiger links gesetzt und sich mit dem Fahrzeug zur Fahrbahnmitte hin bewegt hat (vgl. BayObLG, NZV 1990, 318; Hentschel/König/Dauer, StVR, 46. Aufl., § 5 StVO Rn. 67). Diese Anknüpfungen waren vorliegend erfüllt. Es ist zwischen den Parteien unstreitig, dass sich der Mercedes Sprinter in dem Bereich der Straßenbahnschienen vollständig eingeordnet hatte und erkennbar nach links abzubiegen beabsichtigte. Auch wenn dies von den Parteien zunächst nicht explizit ausgeführt wurde, ist dem Parteivorbringen zu entnehmen, dass der Fahrzeugführer des Mercedes Sprinter den Fahrtrichtungsanzeiger gesetzt hatte, weil anderenfalls weder die Beklagte 1) zu einem Hineintasten in den Kreuzungsbereich noch der Kläger zu einem Vorbeifahren Anlass gehabt hätte; in der mündlichen Verhandlung haben sie diese Tatsache außer Streit gestellt. Damit lag zugunsten des Klägers eine Berechtigung zum Rechtsüberholen tatbestandlich vor.

Das von den Beklagten angeführte Argument, wonach sich § 5 Abs. 7 Satz 1 StVO nur auf den „korrekten“ Linksabbieger beziehe (Hentschel/König/Dauer, StVR, 46. Aufl., § 5 StVO Rn. 67; vgl. OLG Köln, Urteil vom 01.02.2018 – 3 U 114/17, juris Rn. 8), führt zu keiner anderen Bewertung im vorliegenden Einzelfall. Diese Beschränkung erstreckt sich auf den Vorgang des ordnungsgemäßen und eindeutigen Einordnens nach links und die deutliche Anzeige des beabsichtigten Fahrtrichtungswechsels. Mit dieser Anknüpfung wird hingegen dem nachfolgenden Verkehr keine Verpflichtung auferlegt, umfassend die Rechtmäßigkeit des beabsichtigten Linksabbiegevorgangs zu prüfen. Eine solche Beurteilung ist nachfahrenden Fahrzeugführern im Rahmen des Verkehrsflusses in der Regel nicht möglich. Hinzu kommt, dass das Recht – und die korrespondierende Pflicht – zum Rechtsüberholen des sich nach links einordnenden Fahrzeugs gerade der Aufrechterhaltung des Verkehrsflusses dient (vgl. BayObLG, NZV 1990, 318 zur „Leichtigkeit des Verkehrs“). Müsste der nachfahrende Verkehr in jedem Fall einer fraglichen Linksabbiegeberechtigung des vorausfahrenden, sich ansonsten eindeutig links eingeordneten Fahrzeugs davon absehen, rechts vorbeizufahren, käme der Verkehrsfluss weitgehend zum Erliegen. Das entspricht weder dem Wortlaut noch Sinn und Zweck des § 5 Abs. 7 Satz 1 StVO. Dies gilt umso mehr, als andere Vorgaben – etwa § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO und § 1 Abs. 2 StVO – taugliche Verhaltensgebote für die in Rede stehende Situation vorsehen. Vor diesem Hintergrund besteht kein Anlass, allein aufgrund der Nichtbeachtung des Zeichens 214 durch den Fahrer des Mercedes Sprinter von einem generellen Verbot des Rechtsüberholens auszugehen.

(3) Der Kläger hat bei seiner Vorbeifahrt nicht gegen die beim Rechtsüberholen im Übrigen zu beachtenden Sorgfaltsanforderungen verstoßen. Es entspricht der Rechtsprechung, dass von einem Vorbeifahren auf der rechten Seite abzusehen ist, wenn sich die neben dem Linksabbieger verbleibende Fahrbahn als zu eng erweist (vgl. OLG Köln, Urteil vom 01.02.2018 – 3 U 113/17, juris Rn. 8; Hentschel/König/Dauer, StVR, 46. Aufl., § 5 StVO Rn. 67). Es ist ein angemessener Sicherheitsabstand zu dem sich auf der linken Fahrbahnseite einordnenden Fahrzeug zu wahren. Ein Rechtsüberholen ist darüber hinaus unzulässig, wenn die Fahrbahn verlassen werden muss oder gesperrte bzw. abgetrennte Verkehrsflächen überfahren werden müssen (Haus/Krumm/Quarch/Gutt, Gesamtes Verkehrsrecht, 3. Aufl., § 5 StVO Rn. 41; vgl. OLG Köln, Urteil vom 01.02.2018 – 3 U 113/17, juris Rn. 8; OLG Hamm NZV 2016, 336; OLG Schleswig, Beschluss vom 28.05.2020 – 7 U 232/19, juris Rn. 12).

Unter Berücksichtigung der zur Akte gereichten Lichtbilder, der Feststellungen des Sachverständigen zum Kollisionsort, der Spurenlage sowie der Angaben des Klägers und der Beklagten 1) ist davon auszugehen, dass für das Motorrad neben dem links auf den Straßenbahnschienen befindlichen Mercedes Sprinter aufgrund der erheblichen Breite der Fahrbahn genügend Platz verblieb, um sicher und mit ausreichendem Seitenabstand an diesem rechts vorbeizufahren. Der neben der betonierten Schienenfläche zur Verfügung stehende geteerte Streifen war erkennbar breit genug, um dem Kläger eine ungehinderte Fortsetzung seiner Fahrt zu ermöglichen. Das Vorbeifahren bedingte nicht einmal ein Ausweichen nach rechts, sondern ließ sich nach den glaubhaften Schilderungen des Klägers durch eine schlichte Geradeausfahrt realisieren. Es liegen mit Blick auf die gesicherten Unfallspuren und die gutachterlichen Feststellungen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger den rechts der Fahrbahn verlaufenden, mit einer durchgehenden weißen Fahrstreifenbegrenzungslinie abgetrennten Fahrradweg befahren musste bzw. benutzt hat. Der streitgegenständliche Zusammenstoß fand vielmehr im geteerten Fahrbahnbereich statt.

(4) Entgegen der Sichtweise der Beklagten gebot auch § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO kein Absehen vom dem Vorgang des Rechtsüberholens oder eine besondere Anpassung der Fahrweise, einschließlich einer Geschwindigkeitsreduzierung. Zwar trifft die Auffassung der Beklagten zu, wonach das Landgericht unberechtigt angenommen hat, dass die Norm nur für Links- nicht aber für Rechtsüberholer gelte. Die Beschränkungen des § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO sind grundsätzlich für alle Überholvorgänge maßgebend (vgl. BayObLG, NZV 1990, 318; Haus/Krumm/Quarch/Gutt, Gesamtes Verkehrsrecht, 3. Aufl., § 5 StVO Rn. 41; siehe auch Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, StVR, 27. Aufl., § 5 StVO Rn. 26 f.).

Allerdings kann im vorliegenden Einzelfall aus der Perspektive des Klägers eine unklare Verkehrslage nicht festgestellt werden, die ein Überholverzicht oder eine sonstige Anpassung der Fahrweise geboten hätte. Unklar ist eine Verkehrslage, wenn unter den gegebenen Umständen nicht mit einem gefahrlosen Überholen gerechnet werden kann (vgl. KG, NZV 2010, 506; OLG München, Urteil vom 21.10.2020 – 10 U 893/20, juris Rn. 12; Hentschel/König/Dauer, StVR, 46. Aufl., § 5 StVO Rn. 34). Anzunehmen ist dies insbesondere, wenn infolge des Überholens ein Wartepflichtiger gefährdet werden könnte oder sofern nicht verlässlich beurteilt werden kann, wie sich der Vorausfahrende verhalten wird (Hentschel/König/Dauer, StVR, 46. Aufl., § 5 StVO Rn. 34). Im Hinblick auf Wartepflichtige ergab sich aus der Sicht des Klägers keine Gefährdungslage. Unabhängig davon, ob der Kläger die Beklagte 1) überhaupt wahrnehmen konnte, was nach den gutachterlichen Feststellungen zweifelhaft ist (Gutachten S. 39), durfte er darauf vertrauen, dass das Vorrecht des Geradeausverkehrs von abbiegewilligen kreuzenden Fahrzeugführern beachtet wird; mit dem Rechtsüberholen musste der Kläger somit keine Gefährdung des wartepflichtigen – insbesondere von links kommenden – Querverkehrs verknüpfen. Das Einordnen des Mercedes Sprinter auf der Fahrbahn nach links und die Ankündigung einer Linksabbiegeabsicht begründeten ebenso wenig eine unklare Verkehrslage. Es entspricht der Rechtsprechung, dass eine Fahrweise des Vorausfahrenden im Sinne § 5 Abs. 7 Satz 1 StVO für sich keine unklare Situation schafft (Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, StVR, 27. Aufl., § 5 StVO Rn. 27; vgl. OLG München, Urteil vom 21.10.2020 – 10 U 893/20, juris Rn. 12). Im Falle eines eindeutigen Einordnens nach links und einer Betätigung des linken Fahrrichtungsanzeigers ergeben sich für den Nachfahrenden keine Unklarheiten zu den Fahrabsichten des Vorausfahrenden. Allein der Umstand, dass für den Mercedes Sprinter ein Linksabbiegen an der Kreuzung nicht gestattet war, bedingte für sich aufgrund der eindeutigen Fahrweise keine Ungewissheiten dazu, welche Fahrtrichtung dieser anstrebt. Ohne Hinzutreten zusätzlicher Anhaltspunkte, für die die Beklagten darlegungs- und beweispflichtig sind, erschließen sich greifbare Zweifel in Bezug auf die beabsichtigte Weiterfahrt nicht. Es ist weder dargetan noch ersichtlich, dass der Fahrer des Mercedes Sprinter in der konkreten Situation ein Verhalten an den Tag legte, der die Durchfahrt des Klägers hätte beeinträchtigen können. Dass dies abstrakt denkbar war, genügt für die Annahme einer unklaren Verkehrslage nicht (vgl. Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, StVR, 27. Aufl., § 5 StVO Rn. 27; siehe auch OLG Düsseldorf, NZV 1996, 119). Auch ein allgemein verkehrswidriges Verhalten löst unter Berücksichtigung des konkreten Zwecks des § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO die Begrenzung nicht aus. Der Kläger war mangels konkreter Unklarheitenanknüpfungen nicht gehalten, von einer Vorbeifahrt durch abruptes Abbremsen abzusehen oder die Fahrgeschwindigkeit des Motorrads nachhaltig zu reduzieren.

(5) Aus § 7 Abs. 2a StVO lässt sich keine gegenteilige Bewertung ableiten. Die Norm betrifft die auf dem rechten Fahrstreifen gestattete Vorbeifahrt an einer auf dem linken Fahrstreifen auftretenden Fahrzeugschlange. Die Bildung einer Fahrzeugschlange begründet erweiterte Gefahrensituationen, wie anhaltende Sichtbeeinträchtigungen, ein Lückenspringen des Querverkehrs etc. Eine vergleichbare Situation besteht bei einem Rechtsüberholen lediglich eines im Kreuzungsbereich links eingeordneten Fahrzeugs nicht. Mangels Vergleichbarkeit der Ausgangslage kann vorliegend nicht auf eine Analogie zu § 7 Abs. 2a StVO zurückgegriffen werden.

dd) Das Landgericht hat darüber hinaus berechtigt entschieden, dass dem Kläger keine Verletzung der Pflichten nach § 1 Abs. 2 StVO anzulasten ist.

(1) Wie jeder andere Verkehrsteilnehmer hatte der Kläger im Zuge seines Rechtsüberholens nicht nur die Gebote der Vorsicht und Rücksichtnahme zu beachten, sondern seine Fahrweise nach der Grundregel des § 1 Abs. 2 StVO so zu gestalten, dass andere Verkehrsteilnehmer nicht geschädigt oder gefährdet werden. Zur Verhütung von Schäden ist durch eine vorsichtige Verhaltensweise dazu beizutragen, dass bei gefährlichen Verkehrsvorgängen oder Fehlern anderer Verkehrsteilnehmer ein drohender Unfall noch verhindert wird. Dies bedeutet aber nicht, dass der Fahrzeugführer mit jedem denkbaren verkehrswidrigen Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer rechnen und seine Fahrweise darauf einstellen muss. Er kann vielmehr grundsätzlich auf ein verkehrskonformes Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer vertrauen. Der Vertrauensgrundsatz greift nur dann nicht ein, wenn sich ein anderer Verkehrsteilnehmer erkennbar verkehrswidrig verhält (Hentschel/König/Dauer, StVR, 46. Aufl., § 1 StVO Rn. 20). Im Falle des Rechtsüberholens eines sich im Kreuzungsbereichs links einordnenden Fahrzeugs kann der Pflichtenstatus des § 1 Abs. 2 StVO somit einzelfallabhängig gefahrvermeidende Fahr- und Verhaltensweisen bedingen (BGH, VersR 1969, 1148; siehe auch LG Wuppertal, Urteil vom 12.07.2016 – 7 O 34/14, juris Rn. 34; OLG Düsseldorf, NJW-RR 2017, 922).

(2) Das Landgericht hat allerdings zu Recht angenommen, dass der Kläger einerseits im Verhältnis zur Beklagten 1) auf den durch § 9 Abs. 3 Satz 1 StVO gewährleisteten Vorrang des durchfahrenden Verkehrs vertrauen durfte und er andererseits keine erkennbaren Anhaltspunkte für die Annahme hatte, die Beklagte 1) werde entgegen ihrer Wartepflicht in den Gegenverkehr als Linksabbiegerin einfahren.

Zwar trifft zu, dass der Zusammenstoß nach den gutachterlichen Feststellungen vermeidbar war, wenn der Kläger lediglich mit einer Geschwindigkeit von 25 km/h an dem Mercedes Sprinter rechts vorbeigefahren wäre. Die Beklagten haben indes keine zureichenden tatsächlichen Anknüpfungen dafür vorgetragen und erst Recht nicht bewiesen, dass der Kläger erkennbar mit einem Einbiegen des PKW Opel rechnen und seine Fahrweise deswegen auf ein mögliches Kollisionsereignis durch eine nachhaltige Geschwindigkeitsreduzierung einstellen musste. In Auswertung der Spurenlage hat der Sachverständige ermittelt, dass der PKW Opel erst 10 m vor dem Zusammenstoß für den Kläger überhaupt wahrnehmbar wurde. Bis zum Sichtbarwerden durfte der Kläger darauf vertrauen, dass sein Durchfahrtsrecht durch etwaige Linksabbieger respektiert wird (vgl. OLG Hamm, RuS 2003, 479). Wie das Landgericht konsequent ausgeführt hat, mangelte es zuvor an der Erkennbarkeit einer sein Vorrecht in Frage stellenden Fahrweise anderer Verkehrsteilnehmer. Dabei wurde das Vorrecht des Klägers auch nicht allein durch das Einordnen des Mercedes Sprinter nach links greifbar in Frage gestellt. Die hierdurch gegebene Situation änderte nichts daran, dass er weiterhin davon ausgehen durfte, dass er auf der freigewordenen Fahrbahn seine Fahrt fortsetzen kann und seine Durchfahrt nicht durch von der Gegenfahrbahn kommende Linksabbieger beeinträchtigt wird. Auf die landgerichtlichen Erwägungen kann ergänzend verwiesen werden. Konkrete Berufungsangriffe gegen die Ablehnung eines Sorgfaltsverstoßes nach § 1 Abs. 2 StVO haben die Beklagten in der Berufungsbegründung nicht vorgebracht.

c) Ausgehend hiervon ist es gerechtfertigt, im Rahmen der Abwägung nach § 17 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 bzw. § 18 Abs. 3, § 17 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 StVG eine alleinige Einstandspflicht der Beklagten anzuerkennen. Da der Beklagten 1) aus den genannten Gründen ein schwerwiegender Verkehrsverstoß im Sinne des § 9 Abs. 3 Satz 1 StVO anzulasten ist und den Kläger kein erheblicher Vorwurf eines sorgfaltswidrigen Fahrverhaltens trifft, ist es ungeachtet einer Vermeidbarkeit gemäß § 17 Abs. 3 StVG angezeigt, auch die Betriebsgefahr des Motorrads vollständig zurücktreten zu lassen. Das nicht gestattete und auch sonst nicht gefahrvermeidende Hineintasten der Beklagten 1) in die Gegenfahrbahn stellt in der konkreten Verkehrssituation einen gravierenden Pflichtenverstoß dar, der eine Haftung der Beklagten im vollen Umfang zur Konsequenz hat (vgl. BGH, NJW 2005, 1351; OLG Hamm, RuS 2003, 479). Für dieses Ergebnis kommt es nicht entscheidend darauf an, ob von dem linksabbiegenden PKW Opel aufgrund des besonders gefahrenträchtigen Vorgangs eine höhere Betriebsgefahr als von dem geradeaus durchfahrenden Fahrzeug ausging (vgl. dazu BGH, NJW 2005, 1351). Denn maßgebend bleibt, dass infolge des schuldhaften Verhaltens der Beklagten 1) unabhängig von der Betriebsgefahreneinordnung eine Alleinhaftung sachgerecht ist.

Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass die Abwägung auch dann zu einer vollumfänglichen Haftung der Beklagten führt, wenn dem Kläger ein geringfügiger Sorgfaltsverstoß zur Last gelegt würde. Mit Blick auf das Gewicht der schuldhaften Verletzung der Pflichten eines Linksabbiegers ist in der vorliegenden Situation auch ein Zurücktreten geringfügiger Mitverursachungs- und Mitverschuldensbeiträge des Unfallgegners, einschließlich der Betriebsgefahr, gerechtfertigt (vgl. OLG Saarbrücken, Urteil vom 26.03.2020 – 4 U 57/19, juris Rn. 32; siehe auch OLG Köln, Urteil vom 01.02.2018 – 3 U 114/17, juris Rn. 8; OLG Hamm, Rus 2003, 479).

d) Im Ergebnis ist somit nichts dagegen zu erinnern, dass das Landgericht im Hinblick auf die der Höhe nach streitigen Zahlungsverlangen des Klägers ein im Haftungsumfang uneingeschränktes Teilgrundurteil erlassen und bezüglich weiterer, wahrscheinlicher materieller Schäden einen Feststellungsausspruch getroffen hat, wonach die Beklagten als Gesamtschuldner ungekürzt ersatzpflichtig sind.

C.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1, § 100 Abs. 4 Satz 1 ZPO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 708 Nr. 10, § 711 ZPO. Anlass für die Zulassung der Revision gemäß § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO besteht nicht; es handelt sich um die Bewertung eines Einzelfalls.

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