LG Nürnberg-Fürth – Az.: 8 O 7410/21 – Endurteil vom 20.07.2023
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Leitsätze:
1. 70.000 EUR Schmerzensgeld für schweres Schädel-Hirn-Trauma und leichter Hemiparese eines Kindes.
2. Der Umstand, dass eine Regulierung unter Hinweis auf ein im Strafverfahren eingeholtes Gutachten verweigert wird, obgleich dies erkennbar dem strafrechtlichen „in dubio“-Grundsatz folgte, kann zu einer Erhöhung des Schmerzensgeldes wegen anstößigen Regulierungsverhaltens führen.
I. Die Beklagten zahlen gesamtschuldnerisch an den Kläger ein weiteres Schmerzensgeld in Höhe von 64.500,00 € zzgl. Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem Basiszinssatz seit 30.03.2022.
II. Es wird festgestellt, dass die Beklagten gesamtschuldnerisch verpflichtet sind, an den Kläger zwei Drittel der materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, die dem Kläger aus dem Unfall vom …2018 in der … Straße N. entstanden sind und künftig noch entstehen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte aus gesetzlichen Gründen übergegangen sind bzw. noch übergehen werden.
III. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
IV. Die Widerklage wird abgewiesen.
V. Die Beklagten tragen gesamtschuldnerisch die Kosten des Rechtsstreits.
VI. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages.
Tatbestand
Die Parteien streiten über Schadensersatzansprüche im Zusammenhang mit einem Verkehrsunfall, welcher sich am …2018 auf der … Straße in N. ereignete.
Am Unfalltag befuhr die damals 87-jährige Beklagte zu 1) gegen 13:00 Uhr mit dem bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten Pkw RRR (amtl. Kennz.: …) die … Straße in N.. Sie erfasste dabei den am …2007 geborenen Kläger, der zum gleichen Zeitpunkt die … Straße als Fußgänger überqueren wollte. Der Kläger wurde hierdurch schwer verletzt: Er erlitt ein schweres Schädel-Hirn-Trauma, eine diffuse axonale Schädigung, eine Kalottenfraktur temporal links mit Einstrahlung in die Schädelbasis, eine kleine Parenchymblutung linksfrontal kortikal unmittelbar parafazial, ein Subduralhämatom links, ein extrakranielles Hämatom parietal beidseits, eine Fraktur des ventralen Kieferhöhlenwand links mit Einstrahlung in Orbitalboden links sowie eine Platzwunde ca. 3 cm occipital rechts. Der Kläger befand sich bis 08.11.2018 auf den Stationen CU14 (Intensiv) und CU12 des Klinikums Nürnberg. Bis 01.02.2019 befand sich der Kläger sodann in stationärer Behandlung im neurologischen Krankenhaus und Rehabilitationszentrum für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene der H.-J. GmbH in G.. Wegen der Einzelheiten zu den diagnostizierten Verletzungen und dem Behandlungsverlauf wird auf die Anlagen K1 und K2 umfassend Bezug genommen.
Vorgerichtlich zahlte die Beklagte zu 2) einen Vorschuss in Höhe von 5.000,00 € „auf mögliche Ansprüche“ des Klägers und 500,00 € „auf mögliche Rechtsanwaltskosten“. In dem Abrechnungsschreiben erklärte sie, dass die Zahlungen „unter dem ausdrücklichen Vorbehalt der Verrechnung auch den Gesamtschaden bzw. – sofern sich keine Eintrittspflicht seitens der Beklagten ergeben sollte – unter Rückforderungsvorbehalt“ geleistet würden. Wegen der Einzelheiten wird auf das Abrechnungsschreiben der Beklagten zu 2) vom 09.04.2019 umfassend Bezug genommen (Anlage K5). Mit Schreiben vom 18.12.2019 (Anlage K6) teilte die Beklagte auszugsweise mit:
……………….
Die weitere außergerichtliche Korrespondenz der Parteien verblieb ohne Ergebnis. Mit Schreiben vom 29.01.2021 (Anlage K9) lehnte die Beklagte ihre Haftung endgültig ab. Sie erklärte in dem Schreiben ferner: „Sollte es zu einer gerichtlichen Geltendmachung von Schadensersatzforderungen kommen, behalten wir uns die Rückforderung des unter diesem Vorbehalt gezahlten Betrages vom 09.04.2019 ausdrücklich vor.“
Der Kläger behauptet im Wesentlichen, dass sich die Beklagte zu 1) der Unfallstelle mit einer Geschwindigkeit von 50 km/h genähert habe. Der spätere Unfallbereich sei gut einsehbar gewesen, die Beklagte zu 1) hätte daher den Kläger von weitem erkennen können und damit rechnen und sich darauf einstellen müssen, dass die Straße im dortigen Bereich überquert würde. Unfallbedingt sei der Kläger dauerhaft beeinträchtigt: Er leide an motorischer Unruhe und einer Vigilanzminderung. Motorisch sei der Kläger linksseitig erheblich beeinträchtigt. Es bestehe eine linksseitige Hemiparese. Darüber hinaus bestünden massive Aufmerksamkeits- und Partizipationsbeeinträchtigungen, neuropsychologische Teilleistungsstörungen, eine Belastungsminderung, eine Hyperopie und ein Astigmatismus.
Der Kläger beantragt daher:
I. Die Beklagten werden gesamtschuldnerisch verurteilt, ein in dem Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld, mindestens jedoch einen Betrag in Höhe von weiteren 50.000,00 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5%-Punkten über den jeweiligen Basiszinssatz seit 19.12.2019 zu bezahlen.
II. Es wird festgestellt, dass die Beklagten gesamtschuldnerisch verpflichtet sind, dem Kläger sämtliche materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen die dem Kläger aus dem Unfall vom 27.10.2018 in der … Straße in N. entstanden sind und künftig noch entstehen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind bzw. übergehen.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Die Beklagten sind der Ansicht, dass die Beklagte zu 1) eine Mithaftung an dem Unfall nicht treffe. Diese habe sich der Unfallörtlichkeit mit einer Geschwindigkeit zwischen 46,5 km/h und 50,4 km/h angenähert und keine Möglichkeit gehabt, den Unfall zu vermeiden. Die Beklagte zu 1) habe aufgrund parkender Autos den Kläger erst 0,77 bis 1,09 Sekunden vor der Kollision bemerken können. Der Kläger hätte vor Betreten der Straße das herannahende Beklagtenfahrzeug als Gefahr erkennen und passieren lassen können. Die Beklagte zu 2 ist darüber hinaus der Ansicht, dass sie die außergerichtlich unter Vorbehalt bezahlten 5.500,00 € zurückverlangen könne und beantragt daher im Rahmen der Widerklage:
Der Kläger wird auf die Widerklage hin verurteilt, an die Beklagte zu 2) 5.500,00 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 27. März 2020 zu bezahlen.
Der Kläger beantragt, die Widerklage abzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze samt Anlagen umfassend Bezug genommen.
Das Gericht hat die Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft N.-F. mit dem Az. 703 Js 115546/18 beigezogen. Im dortigen Verfahren war seitens der Staatsanwaltschaft ein unfallanalytisches Gutachten beim Sachverständigen HH eingeholt worden. Dieses Gutachten wurde im hiesigen Verfahren nicht nach § 411a ZPO verwertet.
Im Termin am 20.10.2022 wurde der Vater des Klägers informatorisch angehört. Ferner wurden BB und GG uneidlich als Zeugen vernommen. In dem Termin war auch die vom Gericht bestellte Sachverständige Dipl.-Ing. (Univ.) AV anwesend. Im Nachgang zum Termin erstattet sie unter dem 16.01.2023 ein unfallanalytisches Gutachten. Wegen der Einzelheiten wird auf die Sitzungsniederschriften vom 20.10.2022 (Bl. 102-109 d.A.), die im Termin in Augenschein genommenen Fotos (Bl. 112 d.A.) sowie das schriftliche Gutachten der Sachverständigen vom 16.01.2023 (Bl. 113-124 d.A.) Bezug genommen. Im Termin am 16.05.2023 wurde der Kläger sowie dessen Eltern informatorisch angehört. Auf die Sitzungsniederschrift vom 16.05.2023 (Bl. 142-148 d.A.) wird umfassend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
I.
Die zulässige Klage ist weitgehend begründet.
Unter Berücksichtigung der außergerichtlich bezahlten 5.500,00 € hat der Kläger Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von weiteren 64.500,00 € gegen die Beklagte zu 1) aus §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG und gegen die Beklagte zu 2) aus § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG jeweils in Verbindung mit §§ 249 ff. BGB.
Dabei geht das Gericht von einer Mithaftungsquote des Klägers von 1/3 aus.
Im Einzelnen:
1. Zur Überzeugung des Gerichts hat sich der Unfall wie folgt zugetragen:
Der zum Unfallzeitpunkt 10-jährige Kläger sucht am Nachmittag des 27.10.2018 den Al.-Markt in der … Straße Nr. … in N. auf. Mit seinen Eltern und Geschwistern bewohnt er eine Wohnung in der nahe gelegenen YYYstraße 1 in N.. Gegen 13:00 Uhr verließ er mit mindestens einer großen Cola-Flasche in der Hand das Gelände des Al.-Marktes über eine Treppe und bewegte sich in Richtung der … Straße, die er überqueren wollte. In diesem Bereich besteht die … Straße aus zwei Fahrspuren und einem farblich markierten Fahrradstreifen. Neben dem Fahrradstreifen befindet sich ein Parkstreifen für Kraftfahrzeuge und daneben der Bürgersteig. Auf die Lichtbilder der Anlage III des Gutachtens der Sachverständigen AV wird insofern Bezug genommen. Im Bereich des Treppenaufgangs waren zum Unfallzeitpunkt mehrere Kraftfahrzeuge geparkt, unter anderem ein silberner VW Lupo, ein weißer Opel Kastenwagen und ein dunkler VW Golf. Der Kläger betrat zwischen dem Opel Kastenwagen und dem VW Lupo zunächst den Radweg und dann die Fahrspur der … Straße, ohne sich jedoch zuvor davon überzeugt zu haben, dass von links kein Fahrzeug kommt. Er wurde sodann vom Beklagten-Pkw erfasst, welches sich der Unfallstelle mit einer Geschwindigkeit von ca. 50 km/h näherte und bis zur Kollision auf etwa 40 km/h abgebremst wurde. Das Gericht geht davon aus, dass sich der Kläger bis zum Unfall mit normaler Gehgeschwindigkeit von etwa 5 km/h fortbewegt hatte und den Fahrradstreifen etwa 1,8 Sekunden vor der Kollision betrat. Hätte die Beklagte zu 1) zu diesem Zeitpunkt reagiert – sie befand sich rund 24 Meter vor dem Laufkorridor des Klägers entfernt – und eine Vollbremsung aus 50 km/h vollzogen, hätte sie den Kläger mit 15 km/h anstatt mit 40 km/h erfasst. Die Verletzungen des Klägers wären hierdurch erheblich geringer ausgefallen.
Der Kläger erlitt ein schweres Schädel-Hirn-Trauma, eine diffuse axonale Schädigung, eine Kalottenfraktur temporal links mit Einstrahlung in die Schädelbasis, eine kleine Parenchymblutung linksfrontal kortikal unmittelbar parafazial, ein Subduralhämatom links, ein extrakranielles Hämatom parietal beidseits, eine Fraktur des ventralen Kieferhöhlenwand links mit Einstrahlung in Orbitalboden links sowie eine Platzwunde ca. 3 cm occipital rechts. Er leidet bis heute an den Unfallfolgen: Er wurde am 10. Tag nach dem Unfallereignis in die Rehabilitation des Fachklinikums in G. verlegt und wurde am 01.02.2019 in einem stabilen Allgemeinzustand entlassen, zeigte aber eine milde Hemiparese links, eine motorische Koordinationsstörung, neuropsychologische Defizite und Sprachstörungen. Seit Februar 2019 besucht er die BS-Schule, derzeit in der 8. Klasse. Zuvor besuchte er eine Realschule, auf welche er von der Grundschule mit einem Notendurchschnitt von 1,7 gewechselt hatte. Auf der Realschule war er ein sehr guter Schüler. Nach dem Unfall hat sich der Zustand des Klägers positiv weiterentwickelt. Er zeigt allerdings nach wie vor eine dezente Hemiparese links (armbetont). Die Gelenke sind allseits frei beweglich, der Kläger hat eine gute Kraft, trotzdem fällt im Alltag eine Minderbewegung und ein Mindereinsatz des linken Armes und der linken Hand auf, die den Kläger subjektiv jedoch nicht stören. Beim Kläger wurde ab dem 12.10.2021 ein Grad der Behinderung von 40% festgestellt.
2. Das Unfallgeschehen wie unter Ziff. 1 dargestellt steht zur Überzeugung des Gerichts fest aufgrund der unstreitigen Sachvortrags, der Angaben der Zeugen BB und GG sowie der Sachverständigen Dipl.-Ing. AV, die dem Gericht seit Jahren als kompetente und zuverlässige Expertin im Bereich der Unfallanalyse bekannt ist.
Letztlich unstreitig ist zwischen den Parteien, dass sich der Kläger vor Betreten der … Straße nicht davon überzeugt hatte, dass sich keine Fahrzeuge von links näherten.
Zur Überzeugung des Gerichts steht fest, dass sich der Kläger maximal mit normaler Gehgeschwindigkeit der Straße genähert hatte. Zur Gehgeschwindigkeit konnten die Zeugen BB und GG, die den Unfall aus dem einer nahe gelegenen Wohnung zufällig beobachtet hatten, keine belastbaren Angaben treffen. Die Zeugin BB gab zwar bei ihrer polizeilichen Vernehmung am 27.10.2018 an:
„Ich kann nicht genau sagen, wie schnell er [gemeint ist der Kläger, Anmerkung des Unterzeichners] unterwegs war aber meiner Meinung nach war es eher eilig als gemütlich“.
Im Rahmen der mündlichen Vernehmung im hiesigen Prozess erklärte sie, sich an die Gehgeschwindigkeit nicht mehr zu erinnern. Wenn sie es damals so gesagt habe, habe es jedoch gestimmt. Der Zeuge GG hatte bereits im Rahmen seiner polizeilichen Vernehmung zur Geschwindigkeit des Klägers nichts sagen können. Aufgrund einer Gesamtschau geht das Gericht jedoch davon aus, dass der Kläger maximal mit normaler Gehgeschwindigkeit von 5 km/h unterwegs war: Hierfür spricht, dass der Kläger sowohl nach den Angaben der Zeugin BB als auch des Zeugen K. den Al.-Markt mit einer Cola-Flasche verlassen hatte. Die Colaflasche war so groß, dass sie von beiden Zeugen aus ihrer Beobachtungsposition, welche sich den Feststellungen der Sachverständigen zufolge etwa 38 Meter vom Unfallort entfernt befand, hat erkannt werden können. Es darf als unwahrscheinlich angesehen werden, dass jemand, der eine große Cola-Flasche trägt, damit rennt. Die Cola würde damit zumindest für längere Zeit praktisch ungenießbar sein. Unabhängig davon hat die Zeugin GG bereits im Rahmen ihrer polizeilichen Vernehmung eine Unsicherheit zum Ausdruck gebracht und lediglich angegeben, dass der Kläger „eher eilig“ als gemütlich unterwegs gewesen sei. Vor dem Hintergrund das sich die Zeugin 38 Meter von der Unfallstelle entfernt befand, vermag diese Angabe für das Gericht nicht davon zu überzeugen, dass der mit mindestens einer Cola Flasche beladene 10-jährige Kläger schneller als 5 km/h unterwegs war.
Unter Zugrundelegung dieser Annäherungsgeschwindigkeit war der Kläger nach Angaben der Sachverständigen für die Beklagte bereits 1,8 Sekunden vor dem Unfall auf dem seitlichen Fahrradstreifen erkennbar. Hätte sie zu diesem Zeitpunkt bereits eine Vollbremsung vorgenommen, wäre der Kläger lediglich mit 15 km/h von ihrem Fahrzeug erfasst worden. Die Unfallfolgen wären gegenüber der tatsächlich eingetretenen Kollision von 40 km/h deutlich geringer ausgefallen.
Die erlittenen Primärverletzungen sind zwischen den Parteien unstreitig. Die Feststellung des Gerichts zum heutigen Zustand des Klägers beruhen einerseits auf den eigenen Angaben des Klägers und seines Vaters in den Terminen vom 20.10.2022 und vom 16.05.2023 sowie auf den Ausführungen im Arztschreiben des Universitätsklinikums Er. vom 09.11.2021 (Anlage K10). Die Feststellung zum Grad der Behinderung beruht auf dem Bescheid des Zentrums Bayern Familie und Soziales vom 10.01.2022 (Anlage K11).
3. Die Beklagte zu 1) haftet grundsätzlich nach § 7 Abs. 1 StVG, wonach der Halter verpflichtet ist, dem Verletzten den Schaden zu ersetzen, den dieser beim Betrieb eines Kraftfahrzeugs erleidet. Ausgeschlossen ist die Ersatzpflicht nach § 7 Abs. 2 StVG nur, wenn der Unfall durch höhere Gewalt verursacht wurde, was vorliegen nicht der Fall ist. Der Gesetzgeber hat sich mit dem Abstellen auf die höhere Gewalt vom Ausschlusstatbestand des unabwendbaren Ereignisses nach § 7 Abs. 2 StVG a. F., das vorliegt, wenn der Unfall auch durch äußerste Sorgfalt nicht abgewendet werden konnte, verabschiedet. Damit sollte gerade im Bereich der Kinderunfälle das als unbillig empfundene Ergebnis vermieden werden, dass Kindern im Falle eines unabwendbaren Ereignisses kein Ersatzanspruch zustand. Ziel der Änderung war es, die Position von nicht motorisierten Verkehrsteilnehmern zu stärken, was neben Kindern älteren Menschen und sonstigen hilfsbedürftigen Personen zugutekommt (Burmann in: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 27. Aufl. 2022, § 7 Rn. 12 m. w. N.). Die Ansicht der Beklagten, wonach es auf die technische Unvermeidbarkeit des Unfalls ankommt (vgl. Bekl.-Schriftsatz vom 06.03.2023) ist mit der aktuellen Gesetzeslage daher nicht in Einklang zu bringen.
Jugendliche über 10 und unter 18 Jahren müssen sich aber nach §§ 828 Abs. 3, 254 BGB eine Anspruchskürzung gefallen lassen, wenn sie ein Mitverschulden trifft, es sei denn, sie hatten bei der Begehung der schädigenden Handlung noch nicht die erforderliche Einsicht. Das Mitverschulden muss der Schädiger nachweisen; es kommt insoweit auf das Wissen und Können der Altersgruppe an, der der Jugendliche angehört (Gruppenfahrlässigkeit). Die fehlende Einsichtsfähigkeit muss der Jugendliche nachweisen. Bei der Abwägung muss berücksichtigt werden, dass ein Fehlverhalten im Straßenverkehr insbesondere bei jüngeren Jugendlichen weniger schwer wiegt als bei einem Erwachsenen. Auf Seiten des Kraftfahrers kann die Betriebsgefahr durch Verschulden erhöht sein. Es kann deshalb zu bejahen sein, weil er die besonderen Sorgfaltsanforderungen des § 3 Abs. 2a StVO nicht beachtet hat. Danach hat sich der Kraftfahrer u. a. gegenüber Kindern durch Verminderung der Fahrgeschwindigkeit und durch Bremsbereitschaft so zu verhalten, dass eine Gefährdung der Kinder ausgeschlossen ist. Die Grenze liegt bei ca. 14 Jahren; für den Kraftfahrer muss erkennbar gewesen sein, dass der Verletzte dieser Altersgruppe angehört. Zwar kann das Verschulden des Jugendlichen so schwer wiegen, dass dahinter die einfache Betriebsgefahr des Kraftfahrzeugs zurücktritt; in der Regel wird sie aber, insbesondere bei jüngeren Jugendlichen, nicht voll zurücktreten (Heß, a. a. O., § 9 StVG, Rn. 14 ff. m.w.N.).
Aufgrund einer umfassend Abwägung der unstreitigen und festgestellten Umstände des Unfalles geht das Gericht von einer gesamtschuldnerischen Haftung der Beklagten von 2/3 aus:
Die Beklagte zu 1) befuhr die … Straße mit einer Geschwindigkeit von ca. 50 km/h. Etwa 24 Meter vor dem Laufkorridor des Klägers hätte sie diesen erkennen können und müssen, als der Kläger den sich neben ihrer Fahrbahn befindlichen Fahrradweg zu Fuß betrat. Zu diesem Zeitpunkt hätte die Beklagte zu 1) sofort eine Vollbremsung vornehmen müssen, da der Kläger, welcher damals gerade einmal 10 Jahre alt war, für sie deutlich als Kind und damit als besonders schützenswerte Person (§ 3 Abs. 2a StVO) erkennbar war. Sie musste damit rechnen, dass ein Kind, das auf einem Fahrradstreifen direkt neben einer Straße steht, beabsichtigt, die Straße zu überqueren. Damit war die Geschwindigkeit der Beklagten zu 1) im Kollisionszeitpunkt deutlich überhöht. Unter Berücksichtigung von Reaktions- und Bremsschwellzeiten hätte bei Vollbremsung die Geschwindigkeit des Beklagten-Pkw im Kollisionsmoment bei 15 km/h (statt tatsächlich 40 km/h) liegen müssen.
Auf der anderen Seite ist zusehen, dass der Kläger das Vorfahrtsrecht der Beklagten zu 1) verletzt hat. Er betrat die Straße, ohne sich zuvor vergewissert zu haben, dass sich keine Fahrzeuge von links nähern.
Nach Abwägung sämtlicher unstreitiger und bewiesener Umstände des Einzelfalles haben die Beklagten die überwiegende Haftung für das Unfallgeschehen zu tragen. Aufgrund ihrer verzögerten Bremsbereitschaft und Bremsung war die Beklagte zu 1) im Kollisionsmoment mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit (40 km/h statt 15 km/h) unterwegs. Der Kläger war zum Unfallzeitpunkt gerade einmal 10 Jahre alt. Er befand sich damit an der Grenze zu einem nicht verantwortlichen Kind gem. § 828 Abs. 1 BGB. Vor dem Hintergrund des verschuldeten Verkehrsverstoßes der Beklagten zu 1 und der Betriebsgefahr ihres Fahrzeuges ist daher eine Haftung von 2/3 auf Beklagtenseite anzunehmen.
4. Dem Kläger war ein Schmerzensgeld in Höhe von 70.000,00 € abzüglich vorgerichtlich bezahlter 5.500,00 € zuzusprechen.
Bei der Festsetzung der konkreten Entschädigung dürfen und müssen grundsätzlich alle in Betracht kommenden Umstände des Falles berücksichtigt werden (Pardey in: Geigel, Haftpflichtprozess, 28. Aufl. 2020, Kap. 6, Rn. 35). Das Gericht hat bei der Betrachtung der den Schadensfall prägenden Umstände unter Einbeziehung der absehbaren künftigen Entwicklung des Schadensbilds in erster Linie die Ausgleichsfunktion des Schadensersatzes zu beachten. Insoweit kommt es auf die Höhe und das Maß der Lebensbeeinträchtigung an. Maßgeblich sind Größe, Heftigkeit und Dauer der Schmerzen, Leiden, Entstellungen und psychische Beeinträchtigungen, wobei Leiden und Schmerzen wiederum durch die Art der Primärverletzung, die Zahl und Schwere der Operationen, die Dauer der stationären und der ambulanten Heilbehandlung, den Zeitraum der Arbeitsunfähigkeit und die Höhe des Dauerschadens bestimmt werden (vgl. zum Vorstehenden nur OLG Nürnberg, Urteil v. 23.12.2015, Az.: 12 U 1263/14, veröffentlicht in NJW-RR 2016, 593 m.w.N.; Jaeger, VersR 2022, 921).
Zu sehen ist, dass der Kläger äußerst schwer verletzt wurde, der Unfall eine 10tägige stationäre Behandlung und eine mehrmonatige Reha-Maßnahme zur Folge hatte. Das Gericht verkennt dabei nicht, dass der Genesungsverlauf angesichts der schweren Verletzungen ärztlicherseits als sehr erfreulich bewertet wird, der Kläger heute in einer regulären Fußballmannschaft mitspielen kann und als direkte körperliche Unfallfolge derzeit im Wesentlichen nur eine dezente Hemiparese links zu diagnostizieren ist. Nichtsdestotrotz musste der erfolgreiche Schulweg – der Kläger hatte mit einem Notendurchschnitt von 1,7 auf die Realschule gewechselt und war dort ein sehr gute Schüler – abgebrochen werden musste und der Kläger nunmehr eine Förderschule besuchen muss. Die Noten des Klägers sind heute nicht besonders gut und er fürchtet, dass er die geplante Erzieherausbildung nicht wird aufnehmen können. Darüber hinaus steht zu befürchten, dass die erlittenen schweren Kopfverletzungen Spätfolgen haben können. Der Kläger ist trotz seiner 15 Jahre heute erst in der 8. Klasse. Unfallbedingt hat der Kläger ein Schuljahr „verloren“.
Schmerzensgelderhöhend ist auch das prozessuale Verhalten der Beklagten zu 2 zu sehen: Diese hat ihre Ablehnung letztlich auf ein von der Staatsanwaltschaft N.-F. eingeholtes unfallanalytisches Gutachten gestützt, welches dem strafprozessualen Beweismaßstab folgte und – wie der Beklagten zu 2 bekannt war – in weiten Teilen Zugunstenbetrachtungen bezüglich der Beklagten zu 1 anstellte. Da die Beklagte zu 2 Kenntnis vom gewährten Prozesskostenhilfeantrag hatte, wusste sie auch, dass sowohl der Kläger als auch seine Erziehungsberechtigten in finanziell angespannten Verhältnissen leben und die Rückforderung eines Betrages von 5.500,00 € für sie eine potenziell große Bedrohung darstellt. Hinzu kommt, dass die Beklagte zu 2 im Rahmen der Widerklage noch eine Verzinsung der vorab regulierten 5.500,00 € seit dem 24.03.2020 verlangt. Eine juristische Grundlage für diese Zinsforderung ist überhaupt nicht zu erkennen. Die Beklagte macht sich nicht einmal die Mühe, zu behaupten, dass sich der Kläger mit der Rückzahlung des vorab regulierten Betrages im Verzug befand. Vor diesem Hintergrund ist die Erhebung der Widerklage – auch wenn sie zuvor angekündigt worden war – als pietätlos zu bezeichnen.
Bei der konkreten Bemessung der Schadensersatzansprüche hat das Gericht folgende Entscheidungen berücksichtigt:
Landgericht Karlsruhe Urteil vom 17.2.2012 – 5 O 32/09 (= Nr. 4771 beck-online.SCHMERZENSGELD). Schmerzensgeld in Höhe von 90.000,00 € (0% Mithaftung):
Schädelhirntrauma, schweres […] mit Gehirnblutung. Der Kläger leidet dauerhaft unter einer Einschränkung seiner kongnitiven Leistungsfähigkeit insbesondere an Gedächtnisschwäche und Konzentrationsschwäche. Zudem erlitt der Kläger einen Tinnitus sowie diverse Prellungen, Schürfwunden und eine Kopfplatzwunde.
20j. Mann (Student). 7 Tage stationär, anschließend ambulante Heilbehandlung. MdE gut 8 Wochen 100%. Dauerschaden: Gedächtnisschwäche, Konzentrationsschwäche, migräneähnlich Kopfschmerzen sowie eine große Rückennarbe. [Anmerkung: Schmerzensgelderhöhend wurde gewertet: Das junge Alter des Klägers, das schuldhafte Verhalten des Beklagten, der den Kläger unversorgt an der Unfallstelle zurückgelassen hatte sowie die Regulierungsverzögerung des KH-Versicherers].
Landgericht Coburg, Urteil vom 19.01.2011 – 12 O 541/08 (BeckRS 2011, 2789 = Nr. 5910 beck-online.SCHMERZENSGELD). Schmerzensgeld in Höhe von 100.000,00 € (0% Mithaftung):
Auszugsweise heißt es im Urteil:
Im Rahmen der Ausgleichsfunktion ist neben der Schwere der erlittenen Verletzung (schweres Schädel-Hirntraume 3. Grades mit einer Impressionsfraktur links-temporal bis temporo-basal, Hirnkontusion links fronto-basal und links-tempoparietal sowie Orbitawandfraktur rechts, Dachfraktur des 7. Wirbelkörpers ohne Einengung des Wirbelkanals) auch die auf Dauer der durch das Unfallereignis verletzungsbedingten Beeinträchtigungen zu berücksichtigen. Es sind daneben die drei stationären Behandlungen (21.5.2000 bis Ende November 2000, 25.10. – 29.11.2001 und 13.07. – 04.08.2004) zu berücksichtigen. Nach den gutachterlichen Feststellungen des neuroradiologischen Gutachtens zeigt der Kläger ausgeprägte posttraumatische Residuen links, fronto-basal, unmittelbar dem Orbitadach anliegend. Des Weiteren liegen Hämosiderinresiduen links frontobasal, links frontolateral und links temporal vor. Nach der Einschätzung des Sachverständigen Prof. Dr. D. können diese Veränderungen kognitive Einschränkungen durchaus erklären (Blatt 104 ff der Akte). Nach dem wissenschaftlichen neuropsychologischen Zusatzgutachten (Blatt 106 ff der Akte) zeichnen sich beim Kläger kognitive Beeinträchtigungen ab. In der Wortfindung zeigt sich eine diskrete Neigung zu semantischen Paraphasien, die Wortflüssigkeit war deutlich reduziert. Das verbale Gedächtnis erweist sich als deutlich beeinträchtigt. Bei der Untersuchung von Planen, Handeln und problemlösendem Denken zeigte sich eine mittelgradige Beeinträchtigung. Die kognitive Verarbeitungsgeschwindigkeit sowie die Reaktionsgeschwindigkeiten waren deutlich reduziert. Die Gutachterin Dr. E. P. hat kognitive Beeinträchtigungen im Bereich der sprachgebundenen Gedächtnisfunktion und im Bereich der exekutiven Funktionen festgestellt. Daneben besteht beim Kläger eine allgemeine Verlangsamung, eine Störung höherer Aufmerksamkeitsfunktion und eine Antriebsminderung, sowie eine organische Wesensveränderung mit Reizbarkeit und Neigung zur Aggression. Diese Beeinträchtigungen sind nach den Ausführungen der Sachverständigen Dr. P. mit dem Schädel-Hirn-Trauma 3. Grades wissenschaftlich plausibel zu vereinbaren (Blatt 117 ff der Akte).
Aufgrund dieser Vorgutachten hat der gerichtlich beauftragte Sachverständige Prof. Dr. P. Sc. nach eigener Untersuchung festgestellt, dass der Kläger unter einem hirnorganischen Psychosyndrom leidet. Dieses findet Ausdruck in seiner verminderten psychischen und körperlichen Belastbarkeit, aber auch in einer erhöhten Affektlabilität mit zeitweise aggressiven Ausbrüchen. Die vom Kläger angegebene Kopfschmerzsymptomatik bei Belastung sei durchaus im Rahmen eines postraumatischen Symptomenkomplexes aufzufassen. Es handele sich hierbei eher um eine Spannungskompfschmerzsymptomatik bei Überlastungssituationen, ggf. auch im Rahmen des depressiven Syndroms (Blatt 156 ff der Akte). Die Antriebslosigkeit des Probanden sei durch die Aktenlage dokumentiert und lasse sich durch die frontale Schädigung gut herleiten und begründen. Darüber hinaus bestehe eine depressive Störung in erheblichem Ausmaß beim Kläger. Die Taubheit der Beine sowie die vom Kläger angegebene Stuhlinkontinenz konnte der Sachverständige Prof. Dr. Sc. nicht auf den Unfall zurückführen (Blatt 157 ff der Akte). Hinsichtlich der Minderung der Erwerbsfähigkeit kam der Sachverständige Prof. Dr. Sc. zum Ergebnis, dass eine Verminderung der Erwerbsfähigkeit von 80% vorläge (Blatt 159 der Akte). Die Fahrtauglichkeit sei beim Kläger nicht gegeben (Blatt 160 der Akte). Die nachvollziehbaren Ausführungen der Sachverständigen, die von den Parteien im Einzelnen nicht angegriffen wurden, macht sich das Gericht zu Eigen.
Das Gericht hat auch berücksichtigt, dass der Kläger im Alter von 19 Jahren durch den Unfall verletzt wurde und lebenslang unter den oben beschriebenen Folgen zu leiden haben wird.
Die dort ausgesprochenen Schmerzensgeldansprüche waren inflationsbedingt anzupassen.
Der tenorierte Betrag war seit Klagezustellung zu verzinsen. Ein anderes verzugsauslösendes Ereignis wurde nicht vorgetragen.
5. Der Feststellungsantrag ist in der tenorierten Fassung begründet, da Spätfolgen des Unfallereignisses zu befürchten sind. Der Kläger hat äußerst schwere Verletzungen erlitten, die bis heute nicht vollständig ausgeheilt sind.
II.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO. Da ein Mindestbetrag von 50.000,00 € eingeklagte wurde, dem Kläger aber letztlich ein Betrag in Höhe von weiteren 64.500,00 € zugesprochen wurde, tragen die Beklagten die Kosten des Rechtsstreits gesamtschuldnerisch auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die Klagepartei im Hinblick auf Ziffer 2 teilweise unterlegen ist.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 709 S. 1 und S. 2 ZPO.
Auf den Klageantrag Ziff. 1 entfiel ein Streitwert von 64.500,00 €, auf den Klageantrag Ziff. 2 ein Streitwert von weiteren 10.000,00 €.