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Verkehrsunfall – Schmerzensgeldbemessung bei Querschnittslähmung

OLG Zweibrücken – Az.: 1 U 20/20 – Urteil vom 23.06.2021

1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Landgerichts Frankenthal (Pfalz) vom 10.01.2020, Az. 4 O 494/15, in den Ziffern 1. und 2. abgeändert und die Klage abgewiesen, soweit die Beklagte zu einem weiteren Schmerzensgeld von mehr als 150.000 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 15.11.2018 sowie zur Zahlung von Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus einem Betrag von mehr als 250.000 € in der Zeit vom 04.09.2015 bis 22.06.2016 und aus einem Betrag von mehr als 200.000 € in der Zeit vom 23.06.2016 bis 14.11.2018 verurteilt worden ist.

2. Von den Kosten des ersten Rechtszugs haben die Beklagte 93% und der Kläger 7% zu tragen. Die Kosten des zweiten Rechtszuges hat die Beklagte zu 79% und der Kläger zu 21% zu tragen.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Jede Partei kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die andere Partei vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 120% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

4. Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.

Gründe

I.

Verkehrsunfall - Schmerzensgeldbemessung bei Querschnittslähmung
(Symbolfoto: Minerva Studio/Shutterstock.com)

Der Kläger wurde bei einem Verkehrsunfall am … morgens gegen 04.40 Uhr auf der … in Fahrtrichtung … als Beifahrer eines PKW schwer verletzt und ist seither ab einer Handbreit unter der Brust querschnittsgelähmt. Er begehrt Schmerzensgeld und will die Einstandspflicht der Beklagten für weitere materielle wie immaterielle Schäden festgestellt wissen.

Fahrer des Fahrzeugs war der Zeuge …; das Fahrzeug war bei der Beklagten haftpflichtversichert. Der Zeuge … kam in einer Rechtskurve von der Straße ab und kollidierte mit einem Sandstein und einer Laterne. Eine bei ihm um 06.10 Uhr durchgeführte Blutalkoholentnahme ergab eine Blutalkoholkonzentration von 1,04‰. Der den Unfall aufnehmende Polizeibeamte stellte einen intensiven Alkoholgeruch in der Atemluft des Zeugen … fest. Vor dem Unfallereignis hatten sich der Kläger, der Zeuge … und weitere Beteiligte in …in der Wohnung des Zeugen … getroffen, um gemeinsam eine BigFM – Party in dem gleich neben der Wohnung gelegenen Billardcafé zu besuchen, wobei der Verlauf des Abends im Einzelnen zwischen den Parteien streitig ist. Der Zeuge … ist mit Urteil des Amtsgerichts Ludwigshafen am Rhein vom 20.02.2013 wegen fahrlässiger Körperverletzung in Tateinheit mit fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs zu einer Jugendstrafe von 1 Jahr 3 Monaten verurteilt worden, die zur Bewährung ausgesetzt worden ist.

Infolge des Unfalls erlitt der Kläger im Wesentlichen eine Trümmerfraktur des 6. BWK mit sekundärer Rückenmarksschädigung mit einer sensomotorischen Querschnittslähmung unterhalb TH 5/TH 6. Wegen der Unfallverletzungen im Einzelnen wird auf das von den Parteien eingeholte Gutachten des Sachverständigen Dr. … vom 25.05.2018 (Bl. 264 ff. d.A.) Bezug genommen. Darüber hinaus leidet er aufgrund des Unfallgeschehens auch unter psychischen Problemen. Er befand sich wegen einer rezidivierenden depressiven Störung und einer Anpassungsstörung nach akut aufgetretener Aggressivität und Suizidalität in der Zeit vom 26.08.2018 bis 28.09.2018 in stationärer psychiatrischer Behandlung in der … Klinik . in . Wegen der Einzelheiten wird auf den Befundbericht der behandelnden Ärztin Dr. … vom 29.10.2018 (Bl. 341 ff. d.A.) Bezug genommen.

Die Beklagte hat auf das Schmerzensgeld vorgerichtlich Vorschüsse in Höhe von insgesamt 100.000 € gezahlt und – während des Rechtsstreits in 1. Instanz – am 21.06.2016 und 13.11.2018 jeweils weitere 50.000 €. Hinsichtlich der Schmerzensgeldzahlungen vom 21.06.2016 und vom 13.11.2018 über zusammen 100.000 € haben die Parteien den Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt erklärt.

Die grundsätzliche Einstandspflicht der Beklagten steht zwischen den Parteien nicht im Streit. Der Kläger hält – eingedenk der Schwere der Verletzungen und des vom ihm als verzögernd empfundenen Regulierungsverhaltens der Beklagten – ein Schmerzensgeld in Höhe von 400.000 € für angemessen.

Der Kläger hat erstinstanzlich beantragt,

1. die Beklagte zu verurteilen, an ihn ein angemessenes Schmerzensgeld nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz nach § 247 BGB ab dem 04.09.2015 zu zahlen,

2. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihm sämtliche weiteren immateriellen und materiellen Schäden aus Anlass des Verkehrsunfalls vom … zu ersetzen, soweit kein Leistungsübergang auf Drittleistungsträger erfolgt ist.

Die Beklagte hat erstinstanzlich beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie hat erstinstanzlich Mitverschuldenseinwände erhoben und behauptet, der Kläger sei zum einen nicht angeschnallt gewesen, und zum anderen habe er Kenntnis davon gehabt, dass der Zeuge … in erheblichem Maß alkoholische Getränke zu sich genommen habe. Der Kläger und der Zeuge … seien den ganzen Abend zusammen gewesen und hätten gemeinsam in der Wohnung des Zeugen … Alkohol konsumiert, im Billardcafé zusammen Tequila und Jägermeister getrunken und später in der Wohnung des Zeugen … weitere alkoholische Getränke zu sich genommen. Die erhebliche Alkoholisierung des Zeugen …, die Ursache für den Unfall gewesen sei, sei für Jedermann und auch für den Kläger deutlich erkennbar gewesen.

Das Landgericht hat nach Erhebung von Zeugen- und Sachverständigenbeweis die Beklagte zur Zahlung eines weiteren Schmerzensgeldes von 200.000 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten gestaffelt aus unterschiedlichen Beträgen für verschiedene Zeiträume verurteilt und festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger sämtliche materiellen sowie alle weiteren immateriellen Schäden aus Anlass des Verkehrsunfalls vom … zu ersetzen, soweit kein Leistungsübergang auf Drittleistungsträger erfolgt ist.

Die Beklagte hafte dem Kläger für die unfallbedingten Verletzungen zu 100%. Den Nachweis einer Mithaftung des Klägers habe die Beklagte nicht erbracht. Dass der Kläger im Zeitpunkt des Unfalls nicht angeschnallt gewesen sei, habe das hierzu eingeholte Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. … nicht ergeben. Auch dass der Kläger die Alkoholisierung des Zeugen … kannte oder habe kennen müssen, sei nicht bewiesen. Die hierzu durchgeführte Beweisaufnahme habe ergeben, dass man sich mit weiteren Personen zunächst in der Wohnung des Zeugen … getroffen habe, wo Alkohol konsumiert worden sei. Zu einer nicht mehr aufklärbaren späteren Zeit sei man in das benachbarte Billard-Café zu einer sog. BigFM – Party gegangen. Auch hier sei von den Beteiligten Alkohol getrunken worden. Danach habe sich das Geschehen erneut in die Wohnung … verlagert, wobei der Zeuge … alkoholbedingte Ausfallerscheinungen gezeigt habe. Dieser sei dann mit dem Fahrzeug nach … und wieder zurückgefahren, während der Kläger die Zeugin … zu Fuß zur Bushaltestelle begleitet und ihr erklärt habe, er wolle noch einmal in die Wohnung … gehen. Trotz der umfangreichen Beweisaufnahme über das 4 Jahre zurückliegende Geschehen habe nicht zur sicheren Überzeugung des Gerichts festgestellt werden können, ob der Kläger mitbekommen habe, in welchem Ausmaß der Zeuge … zu welchen Zeitpunkten Alkohol konsumiert habe, ob und welche Zeit der Kläger und der Zeuge … an dem Abend zusammen verbracht hatten, wann der Zeuge … welche Ausfallerscheinungen gezeigt habe und ob der Kläger diese habe erkennen können und auf welche Art und Weise der Kläger schließlich in das Fahrzeug des Zeugen … gelangt sei.

Nach Art und Schwere der erlittenen Verletzungen und der ganz erheblichen, dauernden Beeinträchtigungen, welche die Lebensqualität des noch jungen Klägers erheblich minderten, und unter Berücksichtigung des vergleichbaren aktuellen Falls des OLG Hamm (Urteil vom 15.02.2019, Az. 11 U 136/16, BeckRS 2019, 8485) sei ein Gesamtschmerzensgeld in Höhe von 400.000 € erforderlich und angemessen. Ein verzögertes Regulierungsverhalten der Beklagten sei nicht zu berücksichtigen. Die Beklagte habe bereits vorgerichtlich erhebliche Vorschüsse (100.000 €) auf das Schmerzensgeld gezahlt. Unter Berücksichtigung dieser Zahlungen und der im Laufe des Rechtsstreits erfolgten weiteren Zahlungen auf das Schmerzensgeld in Höhe weiterer 100.000 € bestehe noch ein restlicher Schmerzensgeldanspruch des Klägers in Höhe von 200.000 €. Verzugszinsen könne der Kläger gestaffelt unter Berücksichtigung der jeweiligen Zahlungen seit dem 04.09.2015 gem. § 286 BGB verlangen. Auch der Feststellungsantrag sei wie tenoriert begründet.

Wegen der weiteren Einzelheiten der tatsächlichen Feststellungen und der rechtlichen Begründung wird auf Tatbestand und Gründe der angefochtenen Entscheidung Bezug genommen.

Mit ihrer Berufung hat die Beklagte das erstinstanzliche Urteil zunächst insoweit angegriffen, als ihre Verurteilung über eine Haftung von 2/3 hinausgeht. Dementsprechend hat sie nach dem erstinstanzlichen Urteil weitere 70.000 € nebst Zinsen an den Kläger gezahlt. Den Mitverschuldenseinwand hat die Beklagte nur noch insofern weiterverfolgt, dass der Kläger sich als Beifahrer dem infolge von Alkoholgenuss nicht verkehrssicheren Zeugen … anvertraut habe, obwohl er dessen Alkoholisierung bei zutreffender Würdigung der erstinstanzlich erhobenen Beweise habe erkennen können und müssen. Diese Alkoholisierung habe sich auch unfallursächlich ausgewirkt, da der Zeuge alkoholbedingt von der Straße abgekommen und verunfallt sei. Wegen der Einzelheiten der gegen die erstrichterliche Beweiswürdigung vorgebrachten Einwände wird auf die Berufungsbegründung vom 26.03.2020 (Bl. 456 ff. d.A.) Bezug genommen. Zudem sei selbst unter Zugrundelegung einer 100%-igen Haftung der Beklagten das ausgeurteilte Schmerzensgeld zu hoch.

Die Beklagte hat ihren ursprünglichen Berufungsantrag nach einem Hinweis des Senats geändert, den Mitverschuldenseinwand aufgegeben, zwischenzeitlich weitere 80.000 € nebst Zinsen an den Kläger gezahlt und ein Schmerzensgeld in Höhe von 350.000 € (die insgesamt bereits bezahlt sind) zugestanden. Sie beantragt nach Teilberufungsrücknahme nunmehr sinngemäß,

die Klage unter Abänderung des Urteils des Landgerichts Frankenthal vom 10.01.2020 – 4 O 494/15 – abzuweisen, soweit eine Verurteilung der Beklagten zu einem Schmerzensgeld von mehr als 150.000 € zzgl. Zinsen erfolgt ist.

Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das erstinstanzliche Urteil. Er hält die Angriffe gegen die Höhe des Schmerzensgeldes für unbegründet und ist der Auffassung, dass jedenfalls ein verzögertes Regulierungsverhalten der Beklagten schmerzensgelderhöhend zu berücksichtigen sei. Die Beklagte sei bereits durch Schreiben vom 26.06.2012 über die Verletzungsfolgen informiert und vorgerichtlich mehrfach aufgefordert worden, mindestens Abschlagszahlungen auf das Schmerzensgeld zu leisten. Gleichwohl habe sie in den ersten 3 Jahren pauschal nur Vorschusszahlungen von insgesamt 100.000 € gezahlt. Auch das geforderte Haftungsanerkenntnis sei vorprozessual nicht abgegeben worden. Stattdessen habe die Beklagte Mitverschuldenseinwände erhoben.

Wegen der Einzelheiten des Vortrags der Parteien wird auf die in beiden Instanzen gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.

II.

Die zulässige Berufung ist – nach erfolgter Teilrücknahme – in der Sache begründet.

1. Auf die übereinstimmenden Erledigungserklärungen der Parteien im Hinblick auf die am 26.05.2021 erfolgte Teilzahlung in Höhe weiterer 80.000 € nebst Zinsen kam es nicht (mehr) an, denn die Beklagte hatte bereits vorher, nämlich mit Schriftsatz vom 17.05.2021 (Bl. 508 d.A.), ihre Berufung teilweise zurückgenommen. Nach den vorausgegangenen Hinweisen des Senats hat sie den Mitverschuldenseinwand insgesamt fallen gelassen und ein Schmerzensgeld in Höhe von insgesamt 350.000 € hingenommen; ihre Berufung zielt damit nur (noch) ab auf die ein Schmerzensgeld von 350.000 € übersteigende Verurteilung. Dieser Antrag war nach dem eindeutigen Willen der Beklagten zudem auszulegen, da erstinstanzlich lediglich die Verurteilung zur Zahlung weiterer 200.000 € erfolgt ist; die Beklagte begehrt dementsprechend die Abänderung der angefochtenen Entscheidung, soweit sie zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von mehr als 150.000 € verurteilt worden ist.

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2. In diesem Umfang ist die Berufung der Beklagten begründet. Angesichts der bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung bereits entstandenen immateriellen Unfallfolgen hält der Senat unter Zugrundelegung einer Alleinhaftung der Beklagten ein Gesamtschmerzensgeld von 350.000 € für angemessen.

a) Die Bemessung des dem Kläger nach §§ 7 Abs. 1, § 11 Satz 2 StVG, §§ 823 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB zustehenden Schmerzensgeldes orientiert sich an dessen Funktion, Ausgleich für die Schädigung immaterieller Rechtsgüter zu schaffen. Der Verletzte soll durch das Schmerzensgeld in die Lage versetzt werden, sich Erleichterungen und Annehmlichkeiten zu verschaffen, deren Genuss ihm durch die Verletzung unmöglich gemacht worden sind (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 21.12.2010, Az. 21 U 14/08, Juris). Bei der Höhe des Schmerzensgeldes sind alle in Betracht kommenden Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen. Als wesentliche Bemessungsfaktoren stehen der Umfang und die Dauer der Schmerzen, verbleibende Behinderungen und Leiden sowie die durch die unfallbedingten Dauerschäden verursachte Beeinträchtigung der Lebensführung im Vordergrund (vgl. BGH, Urteil vom 29.11.1994, Az. VI ZR 93/94, Juris). Zudem ist – worauf die Beklagte zutreffend abhebt – ein allgemeines „Schmerzensgeldgefüge“ zu berücksichtigen (vgl. Senatsurteile vom 15.10.2014, Az. 1 U 17/14, und vom 02.09.2015, Az. 1 U 192/14). Aus Gründen der rechtlichen Gleichbehandlung soll die Größenordnung dem Betragsrahmen entsprechen, der in vergleichbaren Fällen zugrunde gelegt worden ist. Auch ein etwaiges Mitverschulden des Geschädigten ist bei der Bemessung des Schmerzensgeldes zu berücksichtigen. Die Genugtuung, die der Schädiger dem Geschädigten schuldet, kann gleichfalls ein Faktor sein, der die Höhe des Schmerzensgeldes beeinflusst (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 21.12.2010, Az. 21 U 14/08, Juris).

b) Zunächst ist – was zwischen den Parteien nunmehr nicht mehr im Streit steht – kein Mitverschulden des Klägers zu berücksichtigen. Die Genugtuungsfunktion spielt hier mit Blick auf die strafrechtliche Verurteilung des Zeugen … wegen fahrlässiger Körperverletzung in Tateinheit mit fahrlässiger Straßenverkehrsgefährdung zu einer zur Bewährung ausgesetzten Jugendstrafe von 1 Jahr und 3 Monaten allenfalls eine untergeordnete Rolle. Soweit nach herkömmlicher Rechtsprechung die Alkoholisierung des Schädigers zu berücksichtigen ist, muss diese – wie im Streitfall eher weniger – ganz erheblich sein (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 14.06.2000, Az. 13 U 19/00, Juris); zudem hat sie der Senat im vorgenannten Zusammenhang bereits berücksichtigt.

c) Der Vorderrichter hat die unfallbedingten Verletzungen des Klägers unter Bezugnahme auf das vorgelegte und von beiden Parteien akzeptierte schriftliche Gutachten Dr. … vom 25.05.2018 (Bl. 264 ff. d.A.) zutreffend dargestellt. Danach erlitt der Kläger durch den Unfall eine Polytraumatisierung mit einer Trümmerfraktur des BWK 6 mit sekundärer Rückenmarksschädigung, eine sensomotorische Paraplegie unterhalb TH 5/TH 6, Dornfortsatzfrakturen TH 1 bis TH 4 sowie C 6 und C 7, ein Thoraxtrauma mit Hämatopneumothorax beidseits, eine Lungenkontusion beidseits mit Dys- und Atelektasen und eine laterale Clavikulafraktur links. Er litt ferner an Blutungsanämie, einer Gerinnungsstörung, einer sog. Crush-Niere bei erhöhten Myoglobinwerten, einem posttraumatischen Delir und einer Sinustachykardie. Die Erstbehandlung erfolgte in der … …klinik …, wo der Kläger während der ersten 2 Monate intensivmedizinisch behandelt und beatmet werden musste. Im weiteren Verlauf entwickelten sich als Folge des Unfalls ein Diabetes mellitus Typ 2, eine Wundinfektion inguinal, skrotal und an der Oberschenkelinnenseite, eine Hypokaliämie, eine Exsikkose, Adipositas per Magna, ein Steinbeinulcus Grad III, Nagelmykosen beidseits, eine Urosepsis mit Keimnachweis von Candida albicans, eine Pilzpneumonie, eine Stauungsniere mit Nephrolithiasis und Doppel-J-Einlage, eine Nierenvenenthrombose links, Pseudomonas Aeruginosa/4-MRGN im Rektalabstrich sowie ein sakraler Dekubitus Grad II. Der Kläger musste mehrere Operationen über sich ergehen lassen. Diese Feststellungen sind gem. § 529 Abs. 1 ZPO für den Senat bindend. Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit dieser Feststellungen sind nicht erkennbar und werden von der Berufung auch nicht geltend gemacht.

d) Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes steht für den Senat im Vordergrund, dass der zum Unfallzeitpunkt 21-jährige Kläger durch den Unfall schwere Verletzungen mit unumkehrbaren Folgen erlitten hat, die sein Leben massiv und nachhaltig beeinträchtigen. Er ist ab einer Handbreit unter der Brust querschnittsgelähmt. Der Rumpf ist instabil. Dies führt zu einem erheblichen Hilfebedarf: Bis auf die teilweise Übernahme von Tätigkeiten der Körperpflege (Waschen des Oberkörpers, Zähne putzen, rasieren) ist er in allen wesentlichen Belangen auf fremde Hilfe angewiesen. Die irreversible Paraplegie ab dem 6. Brustwirbelkörper führt zu einer vollständigen Lähmung der unteren Gliedmaßen, einem kompletten Verlust der Sensibilität sowie zu Impotenz. Die Querschnittslähmung bedingt zudem eine Blasen- und Mastdarmlähmung, die zu Inkontinenz führt. Der Kläger ist dauerhaft katheterisiert und muss zum Abführen einen Anus praeter benutzen.

e) Über diese mit einer Querschnittslähmung regelmäßig verbundenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinaus ist der Verlauf der Querschnittslähmung beim Kläger verkompliziert durch (ca. alle 2 Monate) wiederkehrende Infektionen der Harnwege bei Steinbildung in der linken Niere. Außerdem ist eine Zuckerstoffwechselstörung aufgetreten. Infolge der Lähmung kam es beim Kläger ferner zu einer skoliotischen Abweichung des Rumpfes – die Rumpfwirbelsäule zeigt einen linksbogigen Verlauf – und einer teilkontrakten Stellung der unteren Gliedmaßen sowie zur Ausbildung einer spastischen Spitzfußstellung beidseits. Die Oberschenkel weichen nach links und die Unterschenkel nach rechts aus. Hierdurch wird sowohl die Lagerung im Bett als auch die Positionierung im Rollstuhl erschwert. Der Kläger leidet unter neuropathischen Schmerzen, die in Höhe des Brustkorbs ihren Ausgang nehmen und sowohl die Schulterblätter als auch die gesamte Wirbelsäule betreffen. Diese Schmerzen schränken die Mobilisierung im Rollstuhl ein. Zur Behandlung der Schmerzen nimmt der Kläger zusätzlich Metazimol. Der instabile Rumpf des Klägers, seine Körperproportionen mit Übergewicht, die Spastik an den unteren Gliedmaßen, die lähmungsbedingte Wirbelsäulenverbiegung und die dadurch bedingte Sitzposition im Rollstuhl, die verstärkt wird durch die Torsion, lokale Schmerzen in Höhe der Schulterblätter und neuropathische Schmerzen führen nach den Ausführungen des Gutachters Dr. … zu einem höheren Bedarf an Unterstützung, als dies aufgrund der Lähmungshöhe beim Kläger zu erwarten wäre. Daran ändert auch die regelrechte Handfunktion nichts. Bei dem Kläger haben sich zudem multiple Dekubituswunden ausgebildet, die chirurgisch versorgt werden mussten.

Aufgrund des Pflegebedarfs, den die Mutter des Klägers nicht mehr leisten konnte, lebt der Kläger inzwischen in einem Pflegeheim. Zum Zeitpunkt des Unfalls stand der Kläger kurz vor dem Abschluss seiner Ausbildung zum Maler und Lackierer; ein Beruf, den er aufgrund der Unfallfolgen niemals wird ausüben können. Für eine andere praktische Berufstätigkeit besteht ebenso wie für einen administrativen Beruf nach Ansicht des Gutachters Dr. … wohl keine ausreichende Leistungsfähigkeit mehr.

Der Kläger leidet auch in psychischer Hinsicht unter den Unfallfolgen. Er befand sich in der Zeit vom 26.08.2018 bis 28.09.2018 wegen einer akuten schweren Episode einer unfallbedingten rezidivierenden depressiven Störung mit Suizidalität in stationärer psychotherapeutischer Behandlung in der … Klinik … in … (vgl. Entlassbericht der behandelnden Ärztin Dr. … vom 29.10.2018, Bl. 341 ff. d.A.). Im Rahmen seiner mündlichen Anhörung in erster Instanz hat der Kläger geschildert, dass er nur ca. 3 bis 4 Stunden am Tag im Rollstuhl sitzen könne und den Rest des Tages im Bett verbringen müsse. Besonders belaste es ihn, dass er nicht mehr wie früher mit seinen Freunden weggehen könne. Den Kontakt zu seinen Freunden habe er bis auf einige Wenige verloren, seit er im Rollstuhl sitze.

f) Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes hat sich der Erstrichter zu Unrecht an der Entscheidung des OLG Hamm vom 15.02.2019 (Az. 11 U 136/16, Juris) orientiert. Bei dem dort zu entscheidenden Fall war die 18-jährige, durch den Verkehrsunfall querschnittsgelähmte Frau mit immer wieder über lange Phasen auftretender Harninkontinenz zusätzlich durch ein Kurzdarmsyndrom und einen künstlichen Darmausgang beeinträchtigt. Das OLG Hamm hat ein Schmerzensgeld in Höhe von 400.000 € für angemessen erachtet. Hiermit ist der Streitfall indes nicht vergleichbar. Das OLG Hamm ist zutreffend davon ausgegangen, dass in Fällen einer Querschnittslähmung obergerichtlich aktuell Schmerzensgeldbeträge zwischen (jeweils indexiert) 204.500 € bis 287.000 € zugesprochen worden sind. Im dort zu entscheidenden Fall hat das Oberlandesgericht ein weiteres Schmerzensgeld von 90.000 € im Hinblick auf das Kurzdarmsyndrom (bei Erhaltung des natürlichen Darmausgangs) für gerechtfertigt gehalten, das bei einem künstlichen Darmausgang noch zu erhöhen sei. Eine derartige (gravierende) Folge ist beim Kläger indes nicht aufgetreten. Nicht vergleichbar damit ist, dass der Kläger zusätzlich zur Querschnittlähmung psychische Probleme hat und an einer Anpassungsstörung und rezidivierenden depressiven Störung leidet (im Jahr 2018 schwer ausgeprägt mit Suizidgedanken).

Die Vergleichsjudikatur zeigt, dass in Fällen einer Querschnittlähmung bei jungen Menschen Schmerzensgeldbeträge in der Größenordnung bis 400.000 € zugesprochen werden, wenn bei dem Betroffenen eine Lähmung sämtlicher Extremitäten, also eine Tetraplegie, vorliegt (vgl. Hacks/Wellner/Häcker/Offenloch, Schmerzensgeldbeträge 39. Aufl. 2021, lfd. Nrn. 1961, 1962). Die von der Beklagten zitierten Entscheidungen des OLG Nürnberg (Urteil vom 27.04.2001, Az. 6 U 1812/00, Juris); des OLG Hamm (Urteil vom 07.07.2004, Az. 3 U 264/03, Juris) und des OLG Koblenz (Urteil vom 26.01.2004, Az. 12 U 1439/02, Juris) betreffen – ähnlich wie beim Kläger – Querschnittslähmungen ab dem 6. oder 7. Brustwirbel, bei denen die Kläger (zwischen 25 und 37 Jahre) unter den regelmäßig mit einer derartigen Querschnittslähmung verbundenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen wie Blasen- und Darmlähmungen leiden und erheblichen Hilfebedarf aufweisen. Hier wurden Schmerzensgelder in der Größenordnung von (jeweils indexiert) 260.688 € bis 284.196 € ausgeurteilt. Berücksichtigt man für den Streitfall zusätzlich die beim Kläger vorliegende psychische Erkrankung und den Umstand, dass der Verlauf der Querschnittlähmung beim Kläger verkompliziert ist durch die (ca. alle 2 Monate) wiederkehrenden Infektionen der Harnwege bei Steinbildung in der linken Niere, die aufgetretene Zuckerstoffwechselstörung, die skoliotische Abweichung des Rumpfes und die teilkontrakte Stellung der unteren Gliedmaßen mit Ausbildung einer spastischen Spitzfußstellung beidseits, die zu erheblichen Schmerzen und einer geringeren Mobilisierung im Rollstuhl führt, erscheint ein Gesamtschmerzensgeld von 350.000 € als angemessen.

g) Das Regulierungsverhalten der Beklagten wirkt nicht schmerzensgelderhöhend. Die Beklagte hat die Regulierung nicht ohne erkennbaren Grund unangemessen verzögert.

Dabei verkennt der Senat nicht, dass der Haftpflichtversicherer verpflichtet ist, die Schadensregulierung von sich aus zu fördern und angemessene Abschlagszahlungen zu leisten, sobald die Einstandspflicht bei verständig-lebensnaher, objektiver Betrachtungsweise erkennbar wird (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 15.02.2019, Az. 11 U 136/16, Juris). Auch der Senat bewertet ein zögerliches, kleinliches Regulierungsverhalten schmerzensgelderhöhend, verlangt aber – wie ersichtlich auch die übrige Rechtsprechung – insoweit ein vorwerfbares oder jedenfalls nicht nachvollziehbares Verhalten, etwa wenn sich der leistungsfähige Schuldner einem erkennbar begründeten Anspruch ohne schutzwürdiges Interesse widersetzt (vgl. auch OLG München, Urteil vom 21.03.2014, Az. 10 U 1750/13, Juris). Zu berücksichtigen ist insbesondere ein Verhalten, mit dem der ersatzpflichtige Versicherer seine wirtschaftliche Machtposition ausnutzt und durch die verzögerte Regulierung den Geschädigten und dessen durch die Verletzung herbeigeführte Situation herabwürdigt (vgl. OLG Nürnberg, Urteil vom 22.12.2006, Az. 5 U 1921/06, Juris). Eine verzögerte Regulierung kann nicht nur dann vorliegen, wenn trotz unzweifelhafter Haftung über Jahre hinweg keinerlei Zahlungen geleistet werden, sondern auch dann, wenn trotz eindeutiger Haftung dem Grunde nach nur ein unzureichender Betrag gezahlt wird (OLG München, Urteil vom 13.08.2010, Az. 10 U 3928/09, Juris). Demgegenüber scheidet ein verzögertes Regulierungsverhalten als schmerzensgelderhöhendes Kriterium dann aus, wenn der Versicherer berechtigte Zweifel an einer Haftung oder am Umfang seiner Haftung haben darf (OLG Saarbrücken, Urteil vom 27.07.2010, Az. 4 U 585/09, Juris).

Für den Streitfall ist von letzterem auszugehen. Zwar hatte der zunächst für den Kläger tätige Rechtsanwalt bereits im Jahr 2012 der Beklagten die ärztlichen Berichte der … …klinik … vom 22.03.2012 und vom 10.04.2012 (Anl. K 5 und K 6, Bl. 23 ff., Bl. 27 ff. d.A.) überlassen, wo der Kläger nach dem Unfall erstversorgt worden war. Die Beklagte hat indes bereits im Jahr 2012 an den Kläger Vorschusszahlungen in Höhe von insgesamt zunächst 20.000 € erbracht und sodann – nach erstmaliger Leistungsaufforderung durch seinen jetzigen Prozessbevollmächtigten mit Schreiben vom 19.08.2015 (Anl. K 9, Bl. 34 f. d.A.) – am 02.09.2015 einen weiteren Vorschuss von 80.000 € gezahlt. Gegen zögerliches und unangemessenes Regulierungsverhalten der Beklagten spricht zudem, dass sie nicht von der Hand zu weisende Mithaftungseinwände erhoben hatte, die erst im Laufe des Rechtsstreits geklärt wurden. Hinzu kommt vor allem, dass sich die Beklagte dem (fortschreitenden) Ergebnis der gerichtlichen Sachaufklärung nicht verschlossen hat. Sie hat während des Rechtsstreits in erster Instanz, nämlich am 21.06.2016 und am 13.11.2018, jeweils weitere 50.000 € auf das Schmerzensgeld gezahlt; nach dem erstinstanzlichen Urteil erfolgte die Zahlung weiterer 70.000 € nebst Zinsen in Höhe von … €. Auch in der Berufung hat die Beklagte umgehend auf den entsprechenden Hinweis des Senats reagiert, den Mitverschuldenseinwand fallen gelassen und weitere 80.000 € nebst Zinsen in Höhe von 8833,67 € gezahlt. Im Ergebnis wurden 350.000 € gezahlt.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 708 Nr. 10, § 711 Sätze 1 und 2 ZPO.

IV.

Die Zulassung der Revision ist nicht veranlasst, weil die Voraussetzungen hierfür (§ 543 Abs. 2 ZPO) nicht vorliegen. Es liegt eine Einzelfallentscheidung vor. Der Senat weicht nicht von obergerichtlicher oder höchstrichterlicher Rechtsprechung ab.

Beschluss

Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 240.000 € festgesetzt bis 16.05.2021 und auf 50.000 € seit dem 17.05.2021.

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