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Verkehrsunfall – Überqueren einer Straße durch 11-Jährigen – Mitverschulden

OLG Celle – Az.: 14 U 129/20 – Urteil vom  19.05.2021

Auf die Berufung der Klägerin wird das am 3. Juli 2020 verkündete Urteil der 1. Zivilkammer des Landgerichts Verden – 1 O 31/17 – teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:

1. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin ein weiteres angemessenes Schmerzensgeld in Höhe von 27.500,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 %Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz

– auf einen Betrag in Höhe von 35.000,00 € vom 10.10.2014 bis zum 13.5.2018 sowie

– auf einen Betrag in Höhe von 27.500,00 € seit dem 14.5.2018

zu zahlen.

2. Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin sämtliche zukünftige Schäden aus dem Verkehrsunfall vom 21.12.2012 auf der ….straße in 3…. St. zur Quote von 100% zu ersetzen soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger und sonstige Dritte übergegangen sind.

3. Die Kosten des Rechtsstreits beider Instanzen tragen die Beklagten als Gesamtschuldner.

4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

5. Die Revision wird nicht zugelassen.

6. Der Streitwert des Berufungsverfahrens beträgt 16.250,00 €.

Gründe

(abgekürzt gem. §§ 540 Abs. 2, 313 a Abs. 1 S. 1 ZPO)

I.

Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist begründet.

Die Klägerin hat einen Anspruch gegen die Beklagten gem. §§ 7 Abs. 1, 9, 18 Abs. 1 StVG, §§ 253, 254 BGB, § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG als Gesamtschuldner gem. § 421 BGB, § 115 Abs. 1 Satz 4 VVG auf Zahlung von weiterem Schmerzensgeld in Höhe von 27.500,00 € sowie die Feststellung gem. § 256 Abs. 1 ZPO, dass die Beklagten in Höhe von 100 % für das Unfallereignis haften.

1. Die Frage der Unabwendbarkeit stellt sich vorliegend bereits nicht, weil es sich nicht gem. § 17 Abs. 1, 2 StVG um einen Unfall zwischen mehreren Kraftfahrzeugen gehandelt hat, sondern um einen Unfall zwischen einem Kind und einem Kraftfahrzeug. Ein Fall von höherer Gewalt gem. § 7 Abs. 2 StVG liegt ebenfalls nicht vor.

2. In die gemäß § 9 StVG, § 254 Abs. 1 BGB vorzunehmende Abwägung ist lediglich auf Beklagtenseite ein Verstoß gegen § 3 Abs. 2a, Abs. 3 Nr. 1 StVO einzustellen. Der Beklagte zu 1 hat durch seine Fahrweise weder eine Gefährdung von Kindern ausgeschlossen (a), noch hat er sich an die zulässige Höchstgeschwindigkeit gehalten, was sich unfallkausal ausgewirkt hat (b). Die Klägerin hat zwar gegen § 25 Abs. 3 Satz 1 StVO verstoßen, weil das Beklagtenfahrzeug auf der Fahrbahn grundsätzlich Vorrang genießt. Dieser Verstoß begründet aber aufgrund des Alters der Klägerin und der Gesamtsituation, in der sich die Klägerin befand, kein Verschulden (c).

Verkehrsunfall - Überqueren einer Straße durch 11-Jährigen - Mitverschulden
(Symbolfoto: Von granata68/Shutterstock.com)

a) Gemäß § 3 Abs. 2a StVO gilt, dass derjenige, der ein Fahrzeug führt, sich gegenüber Kindern, hilfsbedürftigen und älteren Menschen, insbesondere durch Verminderung der Fahrgeschwindigkeit und durch Bremsbereitschaft, so verhalten muss, dass eine Gefährdung dieser Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Geboten im Sinne des § 3 Abs. 2a StVO sind insbesondere erhöhte Aufmerksamkeit (BGH VRS 62, 166), Beobachtung auch der angrenzenden Straßenteile (KG VRS 74, 257), insbesondere am Fahrbahnrand stehender Kinder (OLG Schleswig ZfS 1988, 380 = VRS 75, 282) und vorsichtige Fahrweise (BGH VRS 26, 348), auch rechtzeitige erhebliche Verminderung der sonst zulässigen Geschwindigkeit (BGH VRS 62, 166; OLG Düsseldorf VRS 63, 257), wenn diese nach den Umständen nicht schon gering genug ist, insbesondere der überhöhten (KG VRS 74, 257) unter Umständen bis auf Schrittgeschwindigkeit (OLG Hamm NZV 1993, 397) und stete Bremsbereitschaft (BayObLG NJW 1982, 346). Diese besonderen Sorgfaltspflichten setzen allerdings voraus, dass das Kind nach dem äußeren Erscheinungsbild als solches erkennbar war (OLG Hamm NZV 2006, 151; OLG Schleswig VersR 87, 825).

Dies war vorliegend der Fall. Der Beklagte zu 1 hat in seiner persönlichen Anhörung angegeben, die Kinder auf der Straße gesehen zu haben, aber nicht gewusst zu haben, was er machen solle.

Der Beklagte zu 1 ist den ihm obliegenden besonderen Sorgfaltsanforderungen nicht gerecht geworden. Es war morgens kurz vor Schulbeginn, im Radius von ungefähr 500 Metern befanden sich drei Schulen. Der Beklagte zu 1 war ortskundig. Die Witterung war dunkel und nass. Der Beklagte habe bereits nach den erstinstanzlichen Feststellungen des Sachverständigen H. aus einer Distanz von mindestens 40 Metern zwei der querenden Kinder erkennen können, dabei sei eines der Kinder mit einer gelb reflektierenden Jacke bekleidet gewesen, welche eine besondere Signalwirkung abgegeben habe (vgl. S. 2 f. des Gutachtens vom 28.8.2017). Angesichts dieser auffälligen Leuchtdichte sei dieses Kind sogar aus noch größerer Entfernung erkennbar gewesen. Mit den Messreihen sei jedoch erst aus einer Distanz von 40 Metern zum Kollisionsort begonnen worden (Seite 3 des Gutachtens vom 28.8.2017). Der Beklagte zu 1 hätte bereits zu diesem Zeitpunkt damit rechnen müssen, dass sich noch weitere Kinder auf der Fahrbahn befinden und dies zum Anlass nehmen müssen, sein Fahrverhalten sofort anzupassen und die Geschwindigkeit so deutlich zu reduzieren, dass eine Gefährdung der sich auf der Straße befindlichen Kinder ausgeschlossen wäre – notfalls hätte der Beklagte zu 1 sofort anhalten müssen, bis er eine Übersicht über die Situation gehabt hätte.

b) Der Beklagte zu 1 hat gegen § 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO verstoßen, indem er die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h überschritten hat.

Die Geschwindigkeitsüberschreitung des Beklagten zu 1 ist nach den erstinstanzlichen Feststellungen unstreitig. Hätte sich der Beklagte zu 1 an die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit gehalten, hätte er den Unfall vermeiden können.

Nach den Ausführungen des Sachverständigen Dipl.-Ing. M. in seinem Ergänzungsgutachten vom 08.02.2018 (Seite 4) hätte der Unfall zeitlich vermieden werden können, wenn der Beklagte zu 1 die zulässige Höchstgeschwindigkeit von50 km/h gefahren wäre. Der Beklagte hätte dann den Unfallort knapp 0,5 Sekunden nach dem Kollisionszeitpunkt erreicht. Die Klägerin hätte die Gefahrenzone verlassen gehabt.

Den unfallursächlichen Verursachungsbeitrag des Beklagten zu 1 müssen sich die Beklagten zu 2 und 3 als Halterin und Haftpflichtversicherung zurechnen lassen.

c) Ein Mitverschulden der elfjährigen Klägerin gem. § 9 StVG, § 254 Abs.1 BGB ist nicht bewiesen.

Gem. § 25 Abs. 3 Satz 1 StVO muss derjenige, der die Fahrbahn überschreitet auf den vorfahrtsberechtigten Fahrzeugverkehr achten. Bei Kindern führt ein Verstoß gegen eine straßenverkehrsrechtliche Norm dennoch nicht sogleich zu einem Verschulden und somit einer Mithaftung.

Jugendliche über zehn und unter 18 Jahren müssen sich nach §§ 828 Abs. 3, 254 Abs. 1 BGB eine Anspruchskürzung gefallen lassen, wenn sie ein Mitverschulden trifft, es sei denn, sie hatten bei der Begehung der schädigenden Handlung noch nicht die erforderliche Einsicht. Die fehlende Einsichtsfähigkeit muss das Kind/der Jugendliche nachweisen. Der Senat hat – ebenso wie das erstinstanzliche Gericht – nach den erstinstanzlichen Feststellungen keinen Zweifel, dass die Klägerin als intelligentes Kind zum Zeitpunkt des Unfalls die erforderliche Einsichtsfähigkeit gem. § 828 Abs. 3 BGB hatte, die Gefährlichkeit ihrer Handlung zu erkennen. Etwas anderes ist auch weder von der Klägerin vorgetragen, noch bewiesen worden.

Im Rahmen des Verschuldens gem. § 276 Abs. 2 BGB ist ein objektiver Maßstab anzulegen und zu prüfen, ob die Klägerin die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen hat. Dabei sind an ein Kind, gestaffelt nach dem Alter, andere Maßstäbe als an einen Erwachsenen anzulegen. Bei der Abwägung eines Verschuldens von Kindern und Jugendlichen ist grundsätzlich davon auszugehen, dass deren Mitverschulden in der Regel geringer zu bewerten ist, als das eines Erwachsenen (Senat, Beschluss vom 08. Juni 2011 – 14 W 13/11 –, Rn. 11, juris). Dies gilt umso mehr, wenn das Kind zum Unfallzeitpunkt noch nahe an der durch § 828 Abs. 2 BGB gesetzten Altersgrenze (Vollendung des 10. Lebensjahres) steht.

Erst ab der Vollendung des zehnten Lebensjahres sollen Kinder für einen Schaden mit einem Kraftfahrzeug überhaupt haften. Denn es ist Kindern mit zunehmenden Alter überhaupt erst möglich, Situationen im Straßenverkehr richtig einzuschätzen und ihre Handlungen danach auszurichten. Da diese Fähigkeiten mit zunehmender Reife des Kindes wachsen, kann die Rechtsprechung ein Verschulden eines Kindes auch nicht punktuell mit dem Erreichen des zehnten Lebensjahres annehmen, sondern muss sich an dem jeweiligen Alter des Kindes/Jugendlichen orientieren.

Die Klägerin war zum Unfallzeitpunkt gerade elf Jahre alt und befand sich somit noch nahe an der von § 828 Abs. 2 BGB gesetzten Altersgrenze.

Neben dem Alter des Kindes ist auch die konkrete Unfallsituation zu bewerten. Denn hinter der Einsicht in die Verantwortlichkeit kann die Fähigkeit, das Gefährliche eines Vorganges oder Zustandes zu erkennen und den Handlungswillen entsprechend dem verkehrsmäßigen Sollen zu bestimmen, in einer für bestimmte Altersstufen geradezu typischen Weise zurückbleiben (BGH, Urteil vom 21. Mai 1963 – VI ZR 254/62 –, BGHZ 39, 281-287, Rn. 16 m.w.N., juris).

Von einem schuldhaften, hier fahrlässigen Handeln der Klägerin, mit der Folge einer Mithaftung, könnte nur gesprochen werden, wenn Kinder ihres Alters und ihrer Entwicklungsstufe bei Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt hätten voraussehen müssen, dass ihr Tun verletzungsträchtig ist, und wenn es ihnen bei Erkenntnis der Gefährlichkeit ihres Handelns in der konkreten Situation möglich und zumutbar gewesen wäre, sich dieser Erkenntnis gemäß zu verhalten (vgl. BGH, Urteil vom 23. Oktober 1952 — III ZR 273/51 — VersR 1953, 28 = LM § 828 BGB Nr. 1 und vom 23. Dezember 1953 — VI ZR 116/52 — VersR 1954, 118; BGH, Urteil vom 27. Januar 1970 – VI ZR 157/68 –, Rn. 21, juris; Senat, Urteil vom 19. Februar 2020 – 14 U 69/19 –, Rn. 34, juris).

Es muss der Gesamtsituation, der das Kind in der jeweiligen Verkehrssituation ausgesetzt gewesen ist, Rechnung getragen werden. Die kindlichen Eigenheiten, insbesondere die jungen Menschen wesenseigene Impulsivität, mangelnde Konzentrationsfähigkeit und gruppendynamische Verhaltensweise müssen berücksichtigt werden (vgl. OLG Düsseldorf, 30. August 2013, 1 U 68/12; OLG Saarbrücken, 24. April 2012, 4 U 131/11; OLG Düsseldorf, Urteil vom 15. Februar 2018– I-1 U 160/15 –, Rn. 105, alle zitiert nach juris).

Diese Gesamtsituation begründet nach der Ansicht des Senats kein Verschulden der Klägerin. Die Klägerin hat sich in einer Gruppe von Kindern bewegt und hat – nach den Feststellungen des erstinstanzlichen Urteils – zwar das Fahrzeug herannahen sehen, zu diesem Zeitpunkt befand sie sich aber bereits mit den drei vorausgehenden Kindern auf der Fahrbahn, mit denen sie als Gruppe zur Schule gehen wollte. Die hierdurch zwangsläufig entstandene Gruppendynamik, nicht als einziges Kind aus der Gruppe zurückzubleiben, muss bei der Bewertung der Gesamtsituation ebenso berücksichtigt werden, wie die Schwierigkeit, in der Dunkelheit die Entfernung und Geschwindigkeit eines Fahrzeugs richtig zu schätzen.

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Denn gerade bei Gruppenbildung minderjähriger Verkehrsteilnehmer ist bei den einzelnen Kindern mit Abgelenktheit und Unachtsamkeit zu rechnen. Dass ein Kind, ohne auf bevorrechtigten Verkehr zu achten, hinter einem anderen Kind die Straße überquert, ist ein geradezu typischer Vorgang (OLG Oldenburg, Urteil vom 26. Februar 2004 – 8 U 229/03 –, Rn. 11, juris). Hinzu kommt vorliegend, dass bereits drei der vier Kinder die Straße überquert hatten und die Klägerin als letztes Kind aus der Gruppe von dem Beklagten zu 1 erfasst worden ist, als es ebenfalls fast die Straßenüberquerung abgeschlossen hatte. Der Beklagte zu 1 ist in die Kindergruppe hineingefahren.

Die Klägerin ist gerade nicht, wie es beispielsweise in den Urteilen des Oberlandesgerichts Düsseldorf (Urteil vom 15. Februar 2018 – I-1 U 160/15 –, juris) oder des Oberlandesgerichts Stuttgart (Urteil vom 09. März 2017 – 13 U 143/16 – juris) der Fall war, ohne auf den Verkehr zu achten, über die Straße gelaufen, sondern sie befand sich mit ihrer Gruppe bereits auf der Fahrbahn. Sie hat das Fahrzeug des Beklagten zu 1 wahrgenommen, die Entfernung und Geschwindigkeit des Fahrzeugs aber falsch eingeschätzt und die Überquerung fortgesetzt, anstatt – als einziges Kind – vor dem Überqueren der Mittellinie auf der Straße anzuhalten und das Beklagtenfahrzeug passieren zu lassen.

Anders als in der Entscheidung des Senats vom 19. Februar 2020 – 14 U 69/19 – hat sich die Klägerin vorliegend in einer Überforderungssituation befunden, in der sie reflexhaft die (falsche) Entscheidung getroffen hat, ihrer Gruppe hinterherzueilen, um gemeinsam zur Schule zu gehen. Sie hat in einem Augenblicksversagen in der Dunkelheit die Entfernung und Geschwindigkeit des Beklagtenfahrzeugs falsch eingeschätzt.

Diese Einschätzung, die durch die Dunkelheit zumindest erschwert wurde (vgl. KG Berlin, Urteil vom 13. Dezember 1993 – 12 U 2536/91 –, Rn. 26, juris), kann bei einem elfjährigen Kind, das sich zudem – wie hier – einem gruppendynamischen Verhalten ausgesetzt sah, kein Verschulden begründen.

Diese Beurteilung gilt umso mehr, als die Klägerin darauf vertrauen durfte, dass der Beklagte zu 1 nicht schneller als 50 km/h fuhr. Ein Fußgänger muss sich bei der heutigen Dichte des Straßenverkehrs in Großstädten darauf verlassen können, dass Kraftfahrer die zulässige Höchstgeschwindigkeit nicht wesentlich überschreiten (BGH VRS 21, 277; VersR 1970, 818, 819; VersR 1980, 868, 869). Denn nur dann ist es Fußgängern möglich, sich sicher im Verkehr zu bewegen und ohne Besorgnis für Leib und Leben eine Fahrstraße zu überqueren (KG Berlin, Urteil vom 13. Dezember 1993 – 12 U 2536/91 –, Rn. 26, juris). Hätte der Beklagte zu 1 die zulässige Höchstgeschwindigkeit eingehalten, hätte die Klägerin die Straße schadlos überquert.

d) Eine Abwägung der Verursachungsanteile beider Unfallbeteiligter gem. § 254 Abs. 1 BGB führt daher zu einer vollen Haftung der Beklagten.

Es bestehen keine Zweifel, dass der Unfall vermieden worden wäre, wenn sich der Beklagte zu 1) pflichtgemäß verhalten hätte. Die von der Klägerin erlittenen erheblichen Verletzungen sind ersichtlich durch die hohe Kollisionsgeschwindigkeit bedingt.

Der Beklagte zu 1 hat die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten. Hätte er diese eingehalten, hätte er bei der von ihm vorgenommenen Reaktion den Unfall verhindern können. Der Beklagte zu 1 hätte darüber hinaus den Unfall auch verhindern können, wenn er bei der ersten Wahrnehmung der Kindergruppe seine Fahrgeschwindigkeit sofort reduziert hätte. Der Verstoß gegen die höchsten Sorgfaltsanforderungen des § 3 Abs. 2a StVO wiegt dabei besonders schwer. Den Vertrauensgrundsatz, dass ein Verkehrsteilnehmer auf ein regelgerechtes Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer vertrauen darf, kann der Beklagte zu 1 gerade nicht für sich in Anspruch nehmen, wenn es um die hier über die Straße laufende Kindergruppe geht (König, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Aufl. 2019, § 25, Rn. 27 ff. m.w.N.; OLGR Celle 2003, 205, 206).

Die Fehleinschätzung der Klägerin in Bezug auf die Entfernung und Geschwindigkeit des Beklagten zu 1 begründet in der Gesamtschau mit ihrem kindlichen Alter und der gruppendynamischen Situation, in der sich die Klägerin befand, kein Verschulden. Der Unfall ist auf typisch kindlich unbesonnenes Verhalten zurückzuführen, hinzu kamen die Gruppendynamik und die Dunkelheit. Die Verkennung der wahren Verkehrslage, insbesondere die fehlerhafte Einschätzung von Geschwindigkeiten und Abständen, ist geradezu ein Merkmal der noch in ihrer Entwicklung befindlichen eingeschränkten kindlichen Wahrnehmungsfähigkeit (vgl. Saarländisches Oberlandesgericht Saarbrücken, Urteil vom 24. April 2012 – 4 U 131/11 – 40 –, Rn. 46, juris, für einen zwölfjährigen Fahrradfahrer, der sich allerdings – anders als hier – in keiner gruppendynamischen Situation in der Dunkelheit befunden hat). Im hier zu entscheidenden Fall ist bereits angesichts des gravierenden Verkehrsverstoßes des Beklagten zu 1, der den ihm obliegenden hohen Sorgfaltspflichten in keinerlei Hinsicht gerecht geworden ist, eine Schadensquotelung nicht vorzunehmen (vgl. OLG Oldenburg, Urteil vom 26. Februar 2004 – 8 U 229/03 –, Rn. 14, juris).

Selbst wenn man ein etwaiges Verschulden der Klägerin gem. § 25 Abs. 3 Satz 1 StVO annehmen wollte, wäre dies so gering, dass es hinter dem überragenden Verschulden des Beklagten zu 1 zurücktreten würde.

3. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Zahlung von weiterem Schmerzensgeld (a) sowie die weitere Feststellung, dass die Beklagten insgesamt zu 100% aus dem Verkehrsereignis haften (b).

a) Die Klägerin hat gem. § 253 Abs. 2 BGB einen Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von insgesamt 35.000,00 €. Davon haben die Beklagten bereits 7.500,00 € gezahlt.

Der Senat erachtet angesichts der von der Klägerin erlittenen Verletzungen und Schmerzen einen Betrag in Höhe von 35.000,00 € für erforderlich, aber auch ausreichend, um eine Kompensation zu leisten. Zwar hat die Klägerin in der Begründung ihrer Klagschrift einen Schmerzensgeldbetrag in Höhe von 25.000,00 € für angemessen erachtet. Die Klägerin hat durch die ansonsten offene Antragsstellung aber zu erkennen gegeben, dass sie durch diese Angabe das Ermessen des Gerichts nicht nach oben begrenzen möchte (vgl. BGH, Urteil vom 30. April 1996– VI ZR 55/95 –, Rn. 35, juris). Bei der Festsetzung des für angemessen gehaltenen Schmerzensgeldes sind dem Senat im Rahmen des § 308 ZPO daher nach oben keine Grenzen gezogen worden (vgl. BGH, Urteil vom 30. April 1996– VI ZR 55/95 –, Leitsatz, juris).

Der Maßstab für die billige Entschädigung i.S.v. § 253 BGB ist unter Berücksichtigung ihrer Ausgleichs- und Genugtuungsfunktion die Würdigung und Wägung aller den Fall prägenden Umstände (BGH VersR 1976, 967; OLG Hamm zfs 2005, 122 [123]). Das auf diese Weise gewonnene Ergebnis ist anschließend im Hinblick auf den Gleichheitsgrundsatz anhand von in sog. Schmerzensgeldtabellen erfassten Vergleichsfällen zu überprüfen, wobei aber die dort ausgewiesenen Beträge schon wegen der meist nur begrenzt vergleichbaren Verletzungsbilder nicht schematisch übernommen werden dürfen (vgl. OLG Saarbrücken zfs 1999, 101; OLG Hamm NJW 2000, 3219 und zfs 2005, 122 [123]; OLG Celle OLGR 2001, 162).

Gemessen daran und an der vom Landgericht zitierten Vergleichsrechtsprechung, auf die der Senat Bezug nimmt, reicht der von der Klägerin als Größenordnung genannte Betrag in Höhe von insgesamt 25.000,00 € nicht aus, um die physischen und psychischen Verletzungen der Klägerin zu kompensieren.

Bei den erstinstanzlich zitierten Vergleichsurteilen sind die Geschädigten ausschließlich Männer gewesen, so dass die schweren Verletzungen und Dauerschäden, die die Klägerin im Genitalbereich erlitten hat und die daraus resultierenden Auswirkungen auch auf spätere Schwangerschaften und Geburten keine Berücksichtigung gefunden haben. So wurde bei der Klägerin ein erhöhtes Risiko für einen notwendigen Kaiserschnitt aufgrund der erlittenen Beckenringfraktur festgestellt.

Ferner haben in der landgerichtlich zitierten Vergleichsrechtsprechung psychische und neurologische Schäden weitestgehend keine Rolle gespielt. Im Fall der Klägerin hat das erlittene Schädel-Hirn-Trauma zu einer Hirnschädigung geführt, so dass die Entwicklung der kognitiven Funktionen gestört ist und ein Dauerschaden aufgrund der noch nicht abgeschlossenen Hirnreifung nicht ausgeschlossen werden kann. Es sind Angst- und Belastungssymptome aufgrund des Unfalls bei der Klägerin festgestellt worden.

Besondere Berücksichtigung muss bei der Bemessung des Schmerzensgeldes das Alter der Klägerin finden. Auch insoweit hat die herangezogene Vergleichsrechtsprechung – bis auf eine Ausnahme – von erwachsenen Geschädigten gehandelt. Ein junger Mensch, der einen schweren Schaden erlitten hat, muss wegen seines Alters im Verhältnis mehr Schmerzensgeld bekommen, weil er noch lange an den Verletzungsfolgen zu tragen hat. Dauerschäden rechtfertigen bei jungen Menschen, die ihr Leben weitgehend noch vor sich haben, ein deutlich höheres Schmerzensgeld als bei älteren Menschen mit einem kürzeren Leidensweg (BGH VersR 1978, 36; VersR 1991, 350; vgl. BGH, Urteil vom 22. September 1977 – III ZR 117/75 -; BGH, Urteil vom 15. Januar 1991 – VI ZR 163/90 –, Rn. 14; OLG Hamm, Urteil vom 12. Februar 2001 – 13 U 147/00 –, Rn. 24, juris). Insbesondere schwere Schäden in den Entwicklungsjahren eines Kindes bzw. Jugendlichen müssen schmerzensgelderhöhend berücksichtigt werden, weil sich die entgangene Lebensfreude prägend auf die gesamte weitere Entwicklung auswirkt; es wird mehr zerstört, als bei bereits etablierten Menschen.

Die bei ihrem Unfall elfjährige Klägerin hat ihre gesamte Kindheit und Jugend mit den erlittenen psychischen und physischen Verletzungen und den daraus resultierenden Schmerzen und Einschränkungen verbracht. Diese werden sie auch in Zukunft begleiten. Der Senat hat daher das zugesprochene Schmerzensgeld als erforderlich erachtet, auch wenn er sich bewusst ist, dass es keine angemessene Entschädigung für nichtvermögensrechtliche Nachteile gibt, da diese nicht in Geld messbar sind.

b) Die Klägerin hat einen Anspruch auf die Feststellung gemäß § 256 Abs. 1 ZPO, dass die Beklagten zu 100% für weitere aus dem Unfallgeschehen resultierenden Schäden haften. Es verbleibt auch in Zukunft das Risiko, dass die Klägerin aufgrund des Unfalls ärztlich behandelt werden muss und Beschwerden und Nachteile aufgrund des Unfalls haben wird. Auf die erstinstanzlich getroffenen und nicht angegriffenen Feststellungen wird Bezug genommen.

4. Die Zinsansprüche folgen aus den § 286 Abs. 1, § 288 Abs. 1 BGB.

II.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 91 Abs. 1; § 91 a Abs. 1 Satz 1, § 100 Abs. 4 ZPO. Soweit die Parteien den Rechtsstreit in Höhe von 7.500,00 € für erledigt erklärt haben, haben die Beklagten die Kosten des Rechtsstreits zu tragen. Die Klägerin hatte vor der Zahlung in Höhe von 7.500,00 € einen Anspruch auf Zahlung von Schmerzensgeld in Höhe von 35.000,00 €.

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713, 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO.

Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und der Senat nicht von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes oder eines anderen Oberlandesgerichts abweicht, so dass auch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung keine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordern, § 543 ZPO.

Die Festsetzung des Streitwertes für das Berufungsverfahren folgt aus § 3 ZPO, § 47 Abs. 1 GKG. Der Streitwert hat sich an dem angemessenen Schmerzensgeld auszurichten und ist nicht an die Angaben der Klägerin gebunden (BGH, Urteil vom 30. April 1996 – VI ZR 55/95 –, Rn. 38, juris).

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