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Verkehrsunfall mit Falschblinker – Haftungsverteilung

OLG Hamm

Az: 9 U 169/02

Urteil vom 11.03.2003


Auf die Berufung der Beklagten wird – unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels – das am 11. April 2002 verkündete Urteil der 21. Zivilkammer des Landgerichts Dortmund insoweit abgeändert, als die Beklagten verurteilt worden sind, als Gesamtschuldner an den Kläger mehr als 2.060,47 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 % Punkten über dem Basiszinssatz ab dem 30. Mai 2001 zu zahlen.

Die weitergehende Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des ersten Rechtszuges werden den Beklagten zu 1/3 und dem Kläger zu 2/3 auferlegt. Die Kosten des Berufungsverfahrens belasten die Beklagten mit 9/20 und den Kläger mit 11/20.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

I. Am 27. April 2001 gegen 11.10 Uhr befuhr der Beklagte zu 1) mit seinem Pkw mit Anhänger die M-Straße in E und betätigte den rechten Fahrtrichtungsanzeiger, da er nach rechts in die untergeordnete S-Straße einbiegen wollte. Bei der Annäherung an diese Einmündung änderte er seinen Entschluss und entschied sich, geradeaus weiterzufahren. Dabei stieß er in der Einmündung mit dem von rechts kommenden Pkw VW Golf des Klägers zusammen, der zunächst vor dem STOP-Schild der untergeordneten S-Straße gewartet hatte und dann – auf das Blinklicht des Beklagten zu 1) hin – nach links in die M-Straße eingefahren war. Die Parteien streiten darüber, wie deutlich die Anzeichen für ein Abbiegen des Beklagten zu 1) gewesen waren und wie lange sie angedauert hatten. Das Landgericht hat der auf vollen Ersatz seines Schadens gerichteten Klage des Klägers nach einer Haftungsquote von 3/4 stattgegeben und sie im übrigen abgewiesen. Wegen der tatsächlichen Grundlagen im einzelnen wird auf die Feststellungen des angefochtenen Urteils Bezug genommen. Mit der Berufung verfolgen die Beklagten ihren Klageabweisungsantrag weiter. Der Senat hat nach Einholung eines unfallanalytischen Sachverständigengutachtens ergänzend festgestellt, dass der Beklagte zu 1) sich mit seinem Pkw vor der Kollision nicht äußerst rechts eingeordnet hatte.

II. Die zulässige Berufung ist überwiegend begründet. Die Beklagten haften dem Kläger für seinen bei dem Unfall vom 27. April 2001 entstandenen Schaden gemäß §§ 7 Abs. 1 StVG, 3 Nr. 1 PflVG nach einer Quote von 1/3. Danach steht dem Kläger ein Schadenersatzanspruch in Höhe von 2.060,47 Euro zu.

1. Der Unfall ist durch verkehrswidriges Verhalten beider beteiligter Fahrzeugführer verursacht worden. Dabei ergibt die Abwägung der Verursachungsanteile ein deutlich höheres Gewicht des klägerischen Beitrages.

a) Zutreffend hat das Landgericht einen Fahrfehler des Beklagten zu 1) darin gesehen, dass dieser nicht anhaltebereit und auch sonst nicht mit äußerster Vorsicht an die Einmündung herangefahren ist, nachdem er zunächst durch das Einschalten des rechten Blinkers den Anschein erweckt hatte, er wolle vor dem Kläger-Fahrzeug rechts abbiegen. Dieses Verhalten beseitigte zwar das Vorfahrtrecht des Beklagten zu 1) nicht (vgl. etwa BGH DAR 1966, 25), stellte jedoch einen Verstoß gegen das allgemeine Gefährdungsverbot nach § 1 Abs. 2 StVO dar.

Fährt der Vorfahrtberechtigte an der Einmündung einer untergeordneten Straße geradeaus vorbei, obwohl er zuvor bei der Annäherung an die Einmündung den rechten Fahrtrichtungsanzeiger gesetzt hatte, hat er eine den wartepflichtigen Verkehr gefährdende Unklarheit geschaffen und ist gemäß § 1 Abs. 2 StVO verpflichtet, diese Gefahrenlage durch eigenes besonders vorsichtiges Verhalten, insbesondere genaue Beobachtung der Reaktion der betroffenen anderen Verkehrsteilnehmer und, falls möglich, Herstellung einer Verständigung mit diesen, wieder zu beseitigen. Gelingt ihm dies nicht und ist mit einer Kollision zu rechnen, muss er anhaltebereit sein und sein Fahrzeug erforderlichenfalls vor der Kreuzung der Fahrlinien zum Stehen bringen. Dies gilt nicht nur dann, wenn der rechte Blinker noch unmittelbar vor der Einmündung eingeschaltet war, sondern auch in den Fällen, in denen der Vorfahrtberechtigte das irreführende Abbiegesignal bereits in einiger Entfernung davor wieder abgeschaltet hatte, sofern dieses Signal von den an der Einmündung oder in deren Nähe befindlichen Wartepflichtigen als Zeichen für eine Abbiegeabsicht verstanden werden durfte.

So liegt der Fall hier. Denn der Beklagte zu 1) hatte seinen rechten Blinker unstreitig gesetzt, um vor dem Kläger nach rechts in die S-Straße abzubiegen. Damit ist der zur Begründung der besonderen Sorgfaltspflicht des Beklagten zu 1) erforderliche räumliche Bezug des Abbiegesignals auf die Einmündung der S-Straße gegeben. Da der Beklagte zu 1) unstreitig keine der vorgenannten gebotenen Vorsichtsmaßnahmen ergriffen hat, muss er sich einen Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO vorwerfen lassen, der für die Kollision auch ursächlich geworden ist.

b) Auf der anderen Seite hat der Kläger eine Vorfahrtverletzung – Verstoß gegen § 8 Abs. 1 StVO – begangen. Er war gegenüber dem Pkw des Beklagten zu 1) wartepflichtig, da er aus der nach § 41 Vz. 206 („Stop-Schild“) untergeordneten S-Straße in die übergeordnete M-Straße einbiegen wollte. Diese Wartepflicht ist durch die irreführenden Blinkzeichen und das sonstige Fahrverhalten des Beklagten zu 1) weder aufgehoben noch durch einen Vertrauenstatbestand im Einzelfall ausnahmsweise überlagert und relativiert worden.

Unter welchen Voraussetzungen der Wartepflichtige sich auf ein durch Blinksignal angekündigtes Abbiegen des Vorfahrtberechtigten verlassen darf, wird in der Rechtsprechung nicht einheitlich beantwortet. Der Senat hat an einen derartigen Vertrauenstatbestand bereits in seinem Urteil vom 28.05.1974 – 9 U 223/73 (VersR 1975, 161 / 162) strenge Anforderungen gestellt und ihn nur dann für begründet erachtet, wenn außer der Betätigung der rechten Blinkleuchte des vorfahrtberechtigten Fahrzeuges durch eindeutige Geschwindigkeitsherabsetzung und Beginn des Abbiegens deutlich wurde, dass eine Berührung der beiderseitigen Fahrlinien nicht in Betracht kam (vgl. auch LG Münster VRS 72 (1987), 166). Danach darf der Wartepflichtige trotz eingeschalteter rechter Blinkleuchte des vorfahrtberechtigten Fahrzeuges im Zweifel nicht auf dessen Abbiegen vertrauen (so auch OLG Saarbrücken VM 1982, 40 m. krit. Anm. Booß; OLG Düsseldorf Urt. vom 8.11.1973 – 12 U 6/73 u. Urt. vom 31.07.1975 – 12 U 151/74; nicht eindeutig OLG Dresden VersR 1995, 234). Die Gegenmeinung lässt die Betätigung der rechten Blinkleuchte des vorfahrtberechtigten Fahrzeuges zur Begründung eines Vertrauenstatbestandes für den Wartepflichtigen im Zweifel genügen und verneint sie nur ausnahmsweise dann, wenn besondere Umstände vorliegen, die Anlass zu Zweifeln an der Abbiegeabsicht geben (vgl. BGH VM 1974, 67;OLG Hamm (3.StrS) VRS 61, 52; KG NZV 1990, 155;OLG München DAR 1998, 474; grundsätzlich – jedoch mit Einschränkung – auch Hentschel Straßenverkehrsrecht, 37. Aufl., 2003, Rdn. 54 zu § 8 StVO m.w.N.).

Der Senat hält wegen der überragenden Bedeutung der gesetzlichen Vorfahrtregelung für die Sicherheit des Straßenverkehrs an seinen bisherigen – strengeren – Anforderungen für die Begründung eines den Wartepflichtigen begünstigenden Vertrauenstatbestandes fest. Nach anerkannter Rechtsprechung trifft den Wartepflichtigen wegen dieser Bedeutung ganz allgemein eine gesteigerte Sorgfaltspflicht. Von ihm wird verlangt, dass er mit Misstrauen an die Vorfahrtstraße heranfährt und im Zweifel wartet. Diese gesteigerte Sorgfaltspflicht bringt es mit sich, dass er mit verkehrswidrigem Verhalten des Vorfahrtberechtigten rechnen muss und sich daher auf den Vertrauensgrundsatz nur eingeschränkt berufen kann (vgl. etwa BGH NZV 1996, 27 (28) m.w.N.). Der moderne Massenverkehr ist gerade bei der Ordnung des Vorranges im fließenden Verkehr zur Vermeidung von Kollisionen auf klare und eindeutige Regelungen angewiesen. Dieses praktische Sicherheitsbedürfnis lässt Ausnahmen von der gesetzlich geregelten Wartepflicht keinesfalls großzügig, sondern nur unter engen und klar bestimmten Voraussetzungen zu.

Bei Anlegen dieses Maßstabes haben im Streitfall keine hinreichenden Umstände festgestellt werden können, die unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes ein Einfahren des grundsätzlich wartepflichtigen Klägers in die übergeordnete M-Straße erlaubt hätten. Es ist nicht feststellbar, kann aber auch dahingestellt bleiben, wie lange die rechte Blinkerleuchte des Beklagten-Pkw brannte und wie weit vor der Einmündung der Beklagte zu 1) sie wieder ausgeschaltet hatte. Gleichfalls nicht bewiesen, aber auch nicht entscheidungserheblich, ist die Behauptung des Klägers, der Beklagte zu 1) habe bei der Annäherung an die Einmündung sein Fahrzeug stark verlangsamt. Hingegen ist die Behauptung des Klägers widerlegt, bei seinem Anfahrentschluss habe der Beklagte zu 1) bereits eine Lenkbewegung zur Römerstraße hin ausgeführt. Der vom Senat hinzugezogene Sachverständige Dipl.-Ing. I ist vielmehr in seinem überzeugenden unfallanalytischen Gutachten aufgrund einer Rekonstruktion der Anstoßkonstellation und der Fahrwege der beteiligten Fahrzeuge zu dem Ergebnis gelangt, dass der Beklagte zu 1) seinen Pkw zum Zeitpunkt des Anfahrentschlusses des Klägers weder deutlich rechts eingeordnet noch zum Abbiegen angesetzt hatte. Damit fehlte zu diesem Zeitpunkt ein wesentliches Anzeichen dafür, dass der Beklagte zu 1) (noch) nach rechts abbiegen wollte und mithin eine unabdingbare Voraussetzung für die Begründung eines diesbezüglichen Vertrauenstatbestandes.

c) Bei der nach § 17 Abs. 1 Satz 2 StVG vorzunehmenden Abwägung der Betriebsgefahren der an dem Unfall beteiligten Kraftfahrzeuge ist die von dem Pkw des Klägers ausgehende und bei der Kollision realisierte Gefahr im Ergebnis doppelt so hoch zu gewichten wie die Betriebsgefahr des Beklagten-Pkw. Zwar hat der Beklagte zu 1) durch sein irreführendes Abbiegesignal die erste Ursache für die Fehlbeurteilung des Klägers und damit auch für die Kollision der Fahrzeuge gesetzt. Der aus dieser Fehlbeurteilung resultierende Anfahrentschluss beruht aber ganz überwiegend auf dem eigenen Versagen des Klägers, da dieser sich nicht in dem gebotenen Maße über die vermutete Abbiegeabsicht des Beklagten zu 1) vergewissert hat und diese Sorgfaltswidrigkeit in Anbetracht der – bereits dargelegten – wesentlichen Bedeutung der gesetzlichen Vorfahrtregelung und der daraus folgenden erhöhten Sorgfaltsanforderungen an den Wartepflichtigen besonders schwer wiegt. Aus diesem Grunde ist im Ergebnis eine Haftungsquote der Beklagten von 1/3 angemessen.

2. Der unfallbedingte Schaden des Klägers ist unstreitig in Höhe von 6.181,42 Euro (12.089,80 DM) ersatzfähig. Hieraus errechnet sich unter Berücksichtigung der Haftungsquote von 1/3 der zuerkannte Schadenersatzbetrag.

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 708 Nr. 10 ZPO. Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision nach § 546 Abs. 1 ZPO liegen nicht vor.

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