Bundesgerichtshof
Az: VI ZR 29/92
Urteil vom 16.02.1993
Anmerkung des Bearbeiters
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Tatbestand
Der Kläger nimmt die Beklagte, seine Tante, wegen der Gesundheitsschäden, die er am 28. Juli 1987 im Alter von 22 Monaten bei einem Ertrinkungsunfall erlitten hat, auf Schadensersatz in Anspruch.
Die Beklagte hatte den Kläger zum Einkaufen mitgenommen. Während sie sich im Ladengeschäft einer Verwandten aufhielt, spielte der Kläger zunächst im Vorhof vor dem Laden. Von dort begab er sich – von der Beklagten unbemerkt – kurze Zeit darauf durch ein Tor in den anschließenden Garten. Dort stürzte er in einen Zierteich, der sich im hinteren Bereich des Gartens befindet. Er war schon im Koma, als er entdeckt wurde, und konnte gerade noch vor dem Ertrinken gerettet werden.
Durch diesen Unfall erlitt der Kläger einen schweren Hirnschaden. Er leidet an einem neurologischen Defektsyndrom mit einer schweren Tetraspastik und bulbärer Symptomatik, muß künstlich ernährt werden, kann nicht sprechen und sich nicht selbst fortbewegen. Er wird lebenslang ein Pflegefall bleiben.
Mit der Behauptung, sie habe ihn mindestens 8 Minuten unbeaufsichtigt gelassen, hat der Kläger im ersten Rechtszug von der Beklagten für den Zeitraum bis zur Rechtshängigkeit der Klage ein Schmerzensgeld von 40.000 DM und eine monatliche Schmerzensgeldrente von mindestens 300 DM verlangt; ferner hat er die Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für seine weiteren unfallbedingten materiellen und immateriellen Schäden begehrt.
Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Gegen dieses Urteil haben die Beklagte Berufung und der Kläger Anschlußberufung eingelegt. Der Kläger hat in der Berufungsinstanz die zeitliche Beschränkung seines Schmerzensgeldanspruchs fallen gelassen und mit seiner Anschlußberufung einen einheitlichen, in Höhe von 100.000 DM für angemessen erachteten Schmerzensgeldanspruch geltend gemacht. Das Oberlandesgericht hat unter Abweisung der weitergehenden Klage die Beklagte zur Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 20.000 DM nebst Zinsen verurteilt und – vorbehaltlich eines Anspruchsübergangs – die Verpflichtung der Beklagten zur Erstattung sämtlicher unfallbedingten materiellen Schäden festgestellt.
Gegen dieses Urteil richten sich die Revisionen beider Parteien. Der Senat hat nur die Revision des Klägers angenommen; die Annahme der Revision der Beklagten hat er durch Beschluß vom 3. November 1992 abgelehnt.
Entscheidungsgründe
Das Berufungsgericht hält die Beklagte nach § 823 Abs. 1 BGB, § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 230 StGB und § 847 BGB für verpflichtet, dem Kläger den unfallbedingten materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen und ihm ein Schmerzensgeld zu zahlen. Die Beklagte habe gegenüber dem Kläger dadurch, daß sie ihn zum Einkaufen mitgenommen habe, eine Rechtspflicht zur Beaufsichtigung übernommen, die sie schuldhaft verletzt habe, weil sie es versäumt habe, den Kläger ständig im Auge zu behalten. Durch den Ertrinkungsunfall habe der Kläger, so stellt das Berufungsgericht aufgrund sachverständiger Beratung fest, derart schwerwiegende bleibende Schäden des zentralen Nervensystems erlitten, daß sein Empfinden nahezu völlig erloschen und er nicht in der Lage sei, die Ausgleichsfunktion des Schmerzensgeldes zu erfassen. Aus diesem Grund könne ihm nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht ein Schmerzensgeld in der in Fällen schwerster Schädigung üblichen Höhe, sondern nur eine Entschädigung zuerkannt werden, die einer „zeichenhaften Sühnefunktion“ gerecht werde und mit 20.000 DM zu bemessen sei; daneben komme eine Schmerzensgeldrente nicht in Betracht. Da eine Besserung des Gesundheitszustandes des Klägers so fernliege, daß sie nicht in Erwägung gezogen werden könne, scheide hinsichtlich eines zukünftigen immateriellen Schadens ein Feststellungsausspruch aus.
Die Ausführungen des Berufungsgerichts zum Grund der Haftung der Beklagten lassen keine Rechtsfehler erkennen. Hingegen halten die Erwägungen zur Bemessung des Schmerzensgeldes einer Nachprüfung nicht stand.
1. Allerdings bewegen sich diese Erwägungen auf der Linie der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung.
Die Rechtsprechung geht davon aus, daß der Anspruch auf Schmerzensgeld nach § 847 BGB kein gewöhnlicher Schadensersatzanspruch ist, sondern ein Anspruch eigener Art mit einer doppelten Funktion: er soll dem Geschädigten einen Ausgleich für die erlittenen immateriellen Schäden gewähren und ihm zugleich Genugtuung für das ihm zugefügte Leid geben. Diese beiden Funktionen, an denen sich die Schmerzensgeldzumessung orientiert, konnten nach der bisherigen Rechtsprechung des erkennenden Senats in den Fällen, in denen der Verletzte wegen der Zerstörung seiner psychischen Funktionen weder einen Ausgleich noch eine Genugtuung empfinden kann, nicht zum Tragen kommen. Dennoch erschien es auch für jene Rechtsprechung nicht hinnehmbar, in dieser Gruppe von Fällen schwerster Schädigung einen Schmerzensgeldanspruch überhaupt zu verneinen. Vielmehr entwickelte sie für diese Fallgruppe eine weitere Funktion, die sog. zeichenhafte Sühnefunktion, auf die auch das Berufungsgericht abhebt. Die Bemessung des Schmerzensgeldes war in diesen Fällen von dem Gedanken bestimmt, daß einerseits die Zahlung den Schädiger als fühlbares Opfer treffen soll, daß aber andererseits wegen des Fortfalls der Ausgleichsfunktion keine Notwendigkeit besteht, den Schmerzensgeldbetrag an den Summen zu orientieren, zu denen sich die Rechtsprechung genötigt sieht, um bei vom Verletzten bewußt erlittenen schwersten Dauerschäden einen wenigstens annähernden Ausgleich zu versuchen (vgl. Senatsurteil vom 16. Dezember 1975 – VI ZR 175/74 – NJW 1976, 1147 = VersR 1976, 660; vgl. ferner Senatsurteil vom 22. Juni 1982 – VI ZR 247/80 – NJW 1982, 2123 = VersR 1982, 880).
2. Diese Rechtsprechung hat der Senat indes inzwischen durch das Urteil vom 13. Oktober 1992 – VI ZR 201/91 – zum Abdruck in BGHZ vorgesehen – aufgegeben. Er hält nach erneuter Prüfung in Fällen der hier in Rede stehenden Art eine Reduzierung des Schmerzensgeldes auf eine lediglich symbolhafte Entschädigung nicht mehr für gerechtfertigt.
Der Senat ist nunmehr der Auffassung, daß Beeinträchtigungen von solchem Ausmaß, wie es bei dem Kläger der Fall ist, mit Blick auf die verfassungsrechtliche Wertentscheidung in Art. 1 GG eine stärkere Gewichtung verlangen und eine lediglich symbolhafte Bewertung verbieten. Ein immaterieller Schaden, wie ihn § 847 BGB erfaßt, besteht nicht nur in körperlichen oder seelischen Schmerzen, also in Mißempfindungen oder Unlustgefühlen als Reaktion auf die Verletzung des Körpers oder die Beschädigung der Gesundheit. Vielmehr stellt die Einbuße der Persönlichkeit, der Verlust an personaler Qualität infolge schwerer Hirnschädigung schon für sich einen auszugleichenden immateriellen Schaden dar, unabhängig davon, ob der Betroffene die Beeinträchtigung empfindet. Es handelt sich bei Schäden dieser Art um eine eigenständige Fallgruppe, bei der die Zerstörung der Persönlichkeit durch den Fortfall der Empfindungsfähigkeit geradezu im Mittelpunkt steht und deshalb auch bei der Bemessung der Entschädigung nach § 847 BGB einer eigenständigen Bewertung zugeführt werden muß. Dabei kann der Richter je nach dem Ausmaß der jeweiligen Beeinträchtigung und dem Grad der dem Verletzten verbliebenen Erlebnis- und Empfindungsfähigkeit Abstufungen vornehmen; es ist ihm aber nicht erlaubt, ein nur gedachtes Schadensbild, das von einer ungeschmälerten Empfindungs- und Leidensfähigkeit gekennzeichnet ist, zugrundezulegen und sodann mit Rücksicht auf den vollständigen oder weitgehenden Wegfall der Empfindungsfähigkeit Abstriche vorzunehmen.
3. Das Berufungsurteil war daher aufzuheben und die Sache war an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Die Schmerzensgeldzumessung des Berufungsgerichts orientiert sich an der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, einer Rechtsprechung, die allerdings im Gegensatz zur Auffassung des Berufungsgerichts auch damals nicht verlangt hat, daß der Verletzte die Ausgleichsfunktion des Schmerzensgeldes erfassen kann; entscheidend ist vielmehr, daß er in die Lage versetzt wird, mit dem Geld Annehmlichkeiten zu erkaufen, die seine Leiden lindern. Das Berufungsgericht wird über die Höhe des dem Kläger zustehenden Schmerzensgeldanspruchs nach Maßgabe der geänderten Rechtsprechung des Senats neu zu befinden haben. Die Schmerzensgeldbemessung ist grundsätzlich Sache des Tatrichters; ihm ist es daher auch in Fällen der vorliegenden Art grundsätzlich vorbehalten, den Betrag zu ermitteln, den er als Entschädigung für die Zerstörung der Persönlichkeit des Klägers für angemessen hält. Daß es sich bei Schäden dieser Art um eine eigenständige Fallgruppe handelt, schließt nicht aus, daß der Tatrichter – wie auch sonst – bei der Schmerzensgeldbemessung die Schwere der Schuld des Täters und die Leistungsfähigkeit des Schädigers berücksichtigen kann. Bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit kann auch das Bestehen einer Haftpflichtversicherung des Schädigers eine Rolle spielen. Es kann der Revisionserwiderung jedoch nicht zugegeben werden, daß dabei von einem Verzicht des Geschädigten auf den Teil seines Schmerzensgeldanspruchs, der die Deckungssumme übersteigt, ausgegangen werden könnte. Der Senat beschränkt sich zur Schmerzensgeldzumessung auf den Hinweis, daß ein Schmerzensgeld in der Höhe, wie sie der Kläger im zweiten Rechtszug geltend gemacht hat, aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden ist.
Die Aufhebung des Berufungsurteils erfaßt auch die Abweisung des auf einen zukünftigen immateriellen Schaden gerichteten Feststellungsantrags. Die Revision weist mit Recht darauf hin, daß es nach den Feststellungen des Berufungsgerichts, die sich auf die Ausführungen des Sachverständigen stützen, nicht gänzlich ausgeschlossen ist, daß der Kläger in Zukunft in der Lage sein wird, seine Befindlichkeit zu erfassen. Für eine solche – wenn auch fernliegende – Steigerung seiner Empfindungsfähigkeit muß dem Kläger die Möglichkeit erhalten bleiben, ein höheres Schmerzensgeld geltend zu machen.